Die vergessenen Frauen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück

Vor rund 70 Jahren, am 5. Dezember 1946, begannen in Deutschland die Hamburger Ravensbrück-Prozesse. Das KZ Ravensbrück liegt ungefähr 90 Kilometer nördlich von Berlin und wurde 1939 eröffnet. Es war eines der größten und berüchtigsten Frauenkonzentrationslager der Nazi-Zeit. Unter den 16 Angeklagten, die an diesem Tag vor Gericht standen, waren sieben Frauen. Unter ihnen war auch die 26-jährige Dorothea Binz, die zum Rang einer Oberaufseherin aufgestiegen war—die höchste Funktion, die eine Frau in einem Frauen-Konzentrationslager erreichen konnte. Binz wurde unter anderem vorgeworfen, Gefangene erschossen, ausgepeitscht und die Hunde auf sie gehetzt zu haben. Im Juli 1948 wurden 38 Personen verurteilt—21 davon waren Frauen.

Die Geschichte des KZ Ravensbrück enthüllt unbequeme und weithin unbekannte Wahrheiten über die Rolle von Frauen im Dritten Reich. Ravensbrück war bekanntermaßen eine wichtige Ausbildungseinrichtung für KZ-Aufseherinnen. Nachdem die Frauen dort ihr grausames Handwerk erlernt hatten—von den Grundlagen des verbalen und psychologischen Missbrauchs über Schläge und Peitschenhiebe—wurden die Frauen in Konzentrationslagern im gesamten Dritten Reich eingesetzt. Auch die Karriere der berühmt berüchtigten Irma Grese, die als Hyäne von Auschwitz bekannt wurde, begann 1942 in Ravensbrück. Was das KZ ebenfalls von anderen unterschied, war die Tatsache, dass es unter dem Kommando von Dorothea Binz fast ausschließlich von Aufseherinnen geleitet wurde.

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„Wir sprechen hier von einer sehr patriarchalen Gesellschaft—nicht nur aufgrund der Zeit selbst, sondern auch aufgrund des Nazi-Regimes. Das müssen wir uns immer vor Augen halten”, erklärt mir Dr. Rochelle G. Saidel am Telefon. Sie ist stellvertretende Leiterin des Remember the Women Institute in New York und Autorin von The Jewish Women of Ravensbrück Concentration Camp. „Viele Leute sprechen von den SS-Wachen, aber Frauen gehörten nicht der SS an. Sie waren das Gefolge. In der SS waren nur Männer. Viele dieser Frauen waren äußerst brutal … Die meisten von ihnen kamen aus der unteren Mittelschicht. [Als Aufseherinnen] genossen sie ein gewisses Ansehen und dieses Ansehen gefiel ihnen.”

Als das KZ Ravensbrück eröffnet wurde, war die Behandlung vergleichsweise gut. Die Kommunistin Margarete Buber-Neumann, die einige Zeit in einem russischen Gulag verbracht hatte, bevor sie schließlich nach Ravensbrück gebracht wurde, sagte über ihren ersten Eindruck nach der Ankunft: „Das ist ein Konzentrationslager?” Doch je weiter der Krieg voranschritt, desto schlimmer wurden die Zustände in Ravensbrück. Das Konzentrationslager war irgendwann vollkommen überfüllt. Krankheiten und Unterernährung florierten. Um den ständig wachsenden Anforderungen der deutschen Kriegsführung nachkommen zu können, mussten die Gefangenen unter widrigen Bedingungen und unter Androhung der Todesstrafe immer länger und härter arbeiten. Darüber hinaus mussten 74 polnische Insassen, die sogenannten Ravensbrücker „Kaninchen”, die grausamen medizinischen Experimente der Lagerärzte über sich ergehen lassen.

Gefangene im Konzentrationslager Ravensbrück im Jahr 1939. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1985-0417-15 | Wikimedia Commons | CC BY-SA 3.0 de

Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs durchliefen über 130.000 Gefangene das Lager—darunter Mitglieder von Widerstandsbewegungen, Kommunisten, Akademiker, Sinti und Roma und Frauen, die nicht dem Weiblichkeitsideal der Nazis entsprachen. Einige Frauen kamen mit ihren Kindern ins Lager, andere brachten ihre Kinder im KZ zur Welt. Die Nationalitäten der Gefangenen erstreckten sich über das gesamte, von den Nazis besetzte Europa: Russland, Frankreich, Deutschland, Holland, doch die meisten von ihnen kamen aus Polen. Unter den Gefangenen, die nach Ravensbrück gebracht wurden, waren schätzungsweise 26.000 Jüdinnen.

„Die Bedingungen waren für keine der Frauen gut, doch meines Wissens nach waren die Bedingungen für die jüdischen Frauen besonders schlimm. Sie wurden noch viel brutaler behandelt und ihre Lebensbedingungen waren noch um einiges schlimmer”, erklärt mir Dr. Saidel. Zwischen 1942 und 1943 wurden jüdische Gefangene aus Ravensbrück abtransportiert. Viele von ihnen wurden nach Auschwitz geschickt oder in den Gaskammern im nahegelegenen Bernberg ermordet.

Politischen Gefangenen jüdischer Herkunft drohten besondere Strafen, erklärt Dr. Saidel. „Eine politische Gefangene, die keine Jüdin war, hatte sehr viel höhere Überlebenschancen. Jüdische Frauen, die als politische Gefangene nach Ravensbrück kamen—Sozialdemokraten oder Kommunisten—, wurden ermordet. Die Haftanordnungen hatten verschiedene Spalten: eine für ‚politische Gefangene’ und vieles mehr und eine Spalte für ‚Jude.’ Bei diesen Frauen wurden beide Spalten angekreuzt.”

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Im Rahmen ihrer Forschungsarbeit hat Dr. Saidel mit Überlebenden von Ravensbrück und deren Angehörigen gesprochen. Von ihr höre ich die unglaubliche Geschichte von Gemma La Guardia Gluck, der Schwester von Fiorello La Guardia, dem berühmten Bürgermeister von New York: Gluck wurde in den USA geboren. Sie war Jüdin und heiratete später einen Ungarn. Die beiden lebten in Budapest, als die Nazis einmarschierten. Im Alter von 65 Jahren wurde sie nach Ravensbrück gebracht, schaffte es aber zu überleben. Kurz vor ihrer Entlassung stellte sie fest, dass auch eine ihrer Töchter in dem Konzentrationslager war und mit ihrem Baby in Einzelhaft saß.

„Gemma schrieb in ihren Memoiren: ‚Ich warf einen Blick auf das Kind und dachte: Wo werde ich es nur beerdigen können? Es war gerade mal ein Jahr alt und in keiner besonders guten Verfassung’”, sagt Dr. Saidel. „Doch Gemma und ihre Familie überlebten und kamen nach dem Krieg nach Berlin. Fiorello wurde damals Leiter der US-amerikanischen Flüchtlingshilfe. Er hatte die ganze Zeit über keine Ahnung, wo seine Schwester war. Irgendwann schaffte sie es dann, ihn anzurufen. Allerdings war er ziemlich tough. Er brach auch für seine Schwester keine Regeln und das Gesetz war damals so, dass man die Nationalität seines Ehemanns annahm, wenn man heiratete.” Gluck und ihre Familie schafften es am Ende aber noch rechtzeitig nach New York, wo sie ein neues Leben erwartete.

Das Krematorium des KZ Ravensbrück, das heute zur Mahn- und Gedenkstätte gehört. Foto: Norbert Radtke | Wikimedia Commons | CC BY-SA 3.0

„Frauen werden aus ganz naheliegenden Gründen als liebevolle und fürsorgliche Mutterfiguren betrachtet—wie ist das mit der Realität des Holocausts vereinbar?”, fragt Daniel Patrick Brown, als wir darüber sprechen, was in Ravensbrück passiert ist. Es ist der Autor von The Camp Women, einer der ersten Studien, die sich mit der Rolle von Frauen im Dritten Reich beschäftigt hat. „Ich komme immer wieder zu dem Punkt, dass Ausbildung und Herkunft unglaublich viel damit zu tun haben, wie Menschen agieren und reagieren. Die Nazis haben ein System geschaffen, in dem man dazu ermutigt wurde, unvorstellbar grausam zu sein. Die Ausbildung war einzig und allein darauf ausgelegt, die Frauen dazu zu bringen, hart zu sein und zu tun, was von ihnen verlangt wurde. In vielen Fällen erwies sich die Ausbildung als äußerst erfolgreich. Vor diesem Hintergrund finde ich, dass es ein schwerer Fehler ist, Leute vom Haken zu lassen, weil sie sagen: ‚Oh, aber ich wurde doch dazu ausgebildet.’”

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Während die Namen anderer Konzentrationslager zu einem Synonym für die Verbrechen des Nazi-Regimes wurden, war über Ravensbrück bis vor Kurzem nur relativ wenig bekannt. Man wusste nicht viel über die Geschichte der Überlebenden und Opfer und genauso wenig wusste man über diejenigen, die für dieses Leid verantwortlich waren. Ich frage Dr. Saidel, ob das daran liegen könnte, dass es ein Konzentrationslager für Frauen war. „Das ist sicherlich einer der Gründe, aber nicht der einzige. Ravensbrück gehörte nach dem Krieg zu Ostdeutschland. Die Leute aus Westdeutschland hatten deshalb einfach nicht die Möglichkeit, dorthin zu gehen. Ich hatte Glück und konnte das KZ 1980 besichtigen. Das war eine ziemlich außergewöhnliche Gelegenheit. Damals waren dort 20.000 sowjetische Truppen stationiert. Das war in der Zeit des Kalten Krieges, im Zuge dessen Ravensbrück noch weiter in Vergessenheit geriet. Man könnte natürlich auch argumentieren, dass es noch andere Konzentrationslager in Ostdeutschland gab, die nur für Männer waren und sehr viel bekannter wurden—das ist wahr. Die Tatsache, dass Ravensbrück ein Frauenkonzentrationslager war, hat sicherlich auch eine Rolle dabei gespielt, dass es nur wenig Beachtung von Historikern bekommen hat.”

Erst seit ein paar Jahren haben Historiker angefangen, Ravensbrück und der Rolle der Frauen im Dritten Reich die längst überfällige Aufmerksamkeit zu widmen. Viele Autoren und Forscher bauen seither auf der Arbeit von Dr. Saidel, Daniel Patrick Brown und anderen auf. Dieses neu entfachte Interesse zeigt auch: Die Geschichten der Frauen im KZ Ravensbrück gehören vielleicht der Vergangenheit an, doch was wir aus ihnen lernen können, ist wichtiger denn je.


Foto: ho vista nina volare | Flickr | CC BY-SA 2.0