Diese Frau bringt Arbeiterkinder an die Uni

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Eine angehende Studentin spricht mit der Jury, die über das Stipendium entscheidet. Sie macht sich Hoffnungen, wird am Ende aber abgelehnt. Die Begründung eines Jury-Mitglieds erzählt sie später Katja Urbatsch: Sie spreche Dialekt. Das sagt nichts über ihre Qualifikation aus, doch manche Akademiker scheinen eine feste Vorstellung davon zu haben, wer für Höheres geeignet ist – und wer nicht.

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Katja Urbatsch hilft denen, die mit Nachteilen ins Rennen gehen. Sie ist Gründerin der Non-Profit-Organisation ArbeiterKind.de und berät deutschlandweit Menschen mit nichtakademischem Hintergrund in Sachen Studium. Sie war selbst Studentin der ersten Generation, nach zehn Jahren aktivem Chancenausgleich kennt sie reichlich Geschichten wie diese. Seit 2008 bieten ehrenamtliche Mitarbeiter von ArbeiterKind regelmäßige Sprechstunden an, ein Onlinenetzwerk und Mentoring, ob bei der Wahl des Studiengangs, der Finanzierung oder beim Umgang mit wenig begeisterten Eltern. Etwa 6.000 Freiwillige helfen Arbeiterkindern inzwischen auf ihrem Weg ins und durchs Studium.

“Ich hatte keine Ahnung, was Uni ist”, sagt Katja Urbatsch beim Gespräch im ArbeiterKind-Büro in Berlin. “Ich habe mich in Seminaren nicht getraut, Fragen zu stellen, obwohl ich vorher Einserschülerin war.” Urbatsch, Jahrgang 1979, zog für ihr Studium aus dem ländlichen Ostwestfalen nach Berlin. In ihrem Hauptfach Nordamerikastudien habe es kaum Nichtakademikerkinder gegeben. Häufig habe sie sich fehl am Platz gefühlt, wie ein “Landei”, und über die Kommilitonen gestaunt – ihr Vokabular, ihre prestigeträchtigen Praktika und Stipendien. “Warum wussten die davon, und ich wusste das nicht?”, habe sie oft gedacht. Eine typische Arbeiterkind- Erfahrung, wie sie später feststellte.


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In einem der Büroräume nebenan sitzen zwei Kolleginnen an ihren Schreibtischen, in der Ecke steht ein bunt beschriftetes Flipchart, das die Struktur hinter den “offenen Treffen” verdeutlicht. Bei diesen Sprechstunden finden sich Mentoren ein und warten auf Neulinge, die Rat suchen. Bundesweit gibt es 75 Gruppen, allein in Berlin sind es nach Bezirken aufgeteilt vier offene Treffen im Monat, meist in Cafés. Die ungezwungene Atmosphäre als Gegengewicht zur einschüchternden Uni-Welt.

Gerade für Menschen aus finanzschwachen Verhältnissen kann ein Studium viele Hindernisse mitbringen: fehlendes Geld, fehlendes Selbstbewusstsein und fehlende Unterstützung – oder gar aktiver Widerstand – von der Familie. Eltern, deren Geld knapp ist, seien sehr auf Sicherheit bedacht, so Urbatsch, dementsprechend drängen sie ihre Kinder oft, eine Ausbildung zu machen. Auf dem Land würden zudem viele außer Lehrer, Arzt und Apotheker keine Akademiker kennen.

Das deutsche Bildungssystem ist eigentlich ein leistungsorientiertes, doch an der Uni scheiden sich die Gesellschaftsschichten. Von 100 Nichtakademikerkindern studieren nur 21, während sich von 100 Akademikerkindern im Schnitt 74 an einer Hochschule einschreiben, so der Hochschul-Bildungs-Report 2020 des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft im aktuellen Jahresbericht. “In der Theorie ist das System recht durchlässig, aber in der Praxis wird es häufig nicht genutzt”, sagt Urbatsch. “Es gibt ja den zweiten und dritten Bildungsweg, aber das ist alles sehr kompliziert.” Viele wüssten schlichtweg nicht von diesen Optionen.

Links: ArbeiterKind gibt es seit stolzen zehn Jahren || Rechts: Bei den offenen Treffen sind alle Ratsuchenden herzlich willkommen

Wie Schulkinder auf Gymnasien und andere Schulformen aufgeteilt werden, trägt zur Undurchlässigkeit bei, auch wenn Lehrkräfte und Eltern oft gute Absichten haben. Die Erwachsenen hätten große Angst, Kinder auf eine Schule zu schicken, an der sie scheitern könnten, erklärt Urbatsch. “Da haben wir so eine deutsche Mentalität: Wir gehen mal lieber auf Nummer sicher.”

Dieser Mentalität ist Sven Weilacher selbst schon begegnet. “Vor ein paar Jahren sagte meine Mutter unbedacht: ‘Wenn ich gewusst hätte, was du auf dem Gymnasium für Probleme kriegst, wärst du auf die Realschule gegangen’”, erzählt er an einem sonnigen Apriltag im Berliner VICE-Büro. Weilacher, 42, ist Ingenieur, er hat neben dem Diplom einen Master und überlegt zu promovieren. “Ich musste in der Schule kämpfen”, sagt er. Dass seine Mutter heute womöglich nicht erkennt, wie sehr sich der Kampf gelohnt hat, scheint ihn ein wenig zu treffen. Über die Fachhochschulreife und eine Maurerausbildung verschaffte er sich Zugang zu einem “klassischen Aufsteiger-Studiengang”, wie er sagt, Bauingenieurwesen. Dort hätten fast alle wie er den zweiten Bildungsweg genommen. “Wir waren quasi eine größere Selbsthilfegruppe”, scherzt Weilacher trocken.

“In meiner Studienzeit dachte ich, Stipendien gäbe es nur in den USA, und es gäbe auch nur Sportstipendien”, sagt Sven Weilacher.

Seit inzwischen acht Jahren engagiert sich Weilacher als ehrenamtlicher Mitarbeiter und Mentor bei ArbeiterKind. Seinen aktuellen Schützling unterstützt er seit 2015, sie hat noch zwei Semester bis zu ihrem Bachelor. Dabei sieht Weilachers Hilfe je nach Bedarf ganz unterschiedlich aus: Mal versichert er ihr, “dass die Welt nicht untergeht, wenn ein Modul bis zum nächsten Semester liegen bleibt”, mal liest er eine Arbeit Korrektur oder versucht, ihren kaputten Laptop zu retten. Oft bereite den Mentees aber vor allem die Studienfinanzierung Sorgen, sagt Weilacher.

Für den Bauingenieur und ArbeiterKind-Mentor Sven Weilacher ist ehrenamtliche Arbeit “eine Selbstverständlichkeit”

Gerade über das Thema Stipendien wissen viele, die sie wirklich brauchen könnten, nur wenig. “In meiner Studienzeit dachte ich, Stipendien gäbe es nur in den USA, und es gäbe auch nur Sportstipendien”, sagt er. Ein wichtiges Kriterium bei der Bewerbung um Stipendien ist oft ehrenamtliche Arbeit. Weilacher konnte mehrere Ehrenämter vorweisen und hätte gut Stipendiat werden können, wusste es aber einfach nicht. Menschen aus einem bildungsfernen Milieu haben oft aber nicht die Lebensumstände, um sich ehrenamtlich für andere engagieren zu können. Deshalb fordert Urbatsch mehr Bewusstsein für die Realität von Armut und mehr Stipendien, die auf sozialer Herkunft basieren statt auf Leistung. Noch seien viele Programme auf Menschen aus der Mittelschicht ausgelegt, ArbeiterKind erreiche dagegen viele aus finanzschwachen Verhältnissen. “Sämtliche Sozialsysteme sind darauf ausgerichtet, dass man schon eine Familie hat, die alles mit ausgleicht”, sagt sie. “Wir haben viele Leute ohne Familie, ohne Geld auf der Kante.”

Sein früheres Bild vom Stipendium als US-Phänomen mag aus Filmen stammen, heute findet Weilacher die Realität, die er durch ArbeiterKind kennenlernt, oft “zu abgefahren für ein Hollywood-Drehbuch”. Er klingt ehrfürchtig, als er beschreibt, wie sehr ihn die unwahrscheinliche Geschichte hinter so manchem Lebenslauf rührt. “Der Weg, den die- oder derjenige gegangen ist, ist beeindruckend. Und es ist immer wieder ein Zeichen: Es ist möglich.”

Sein stolzester Moment sei eine frühe ArbeiterKind-Sprechstunde zum Thema Stipendien gewesen. Früher hätten oft acht Mentoren bei den offenen Treffen gewartet, nur um dann im besten Fall einen Interessenten zu betreuen. Das ArbeiterKind-Team bewarb die Sprechstunde an Schulen und holte einige Stipendiaten dazu. “Das Ergebnis: Es kamen über 40 Leute in diese Sprechstunde”, strahlt Weilacher. “Davon werde ich wahrscheinlich noch erzählen, wenn ich 90 bin.”

Auch Katja Urbatsch strahlt, wenn sie von den Erfolgen der vergangenen zehn Jahre spricht. “Am Anfang habe ich gesagt: ‘Wenn wir nur eine Biografie positiv beeinflussen können, dann ist das schon Wahnsinn.’” Inzwischen erreiche ArbeiterKind 30.000 Menschen im Jahr, darunter Schüler, Studierende und Eltern. Das sind viele Biografien, viele erfolgreiche Bewerbungen um Stipendien, viele Abschlüsse und Karrieren. 18 hauptamtliche Mitarbeiter kann ArbeiterKind heute bereits bezahlen. “Wir machen Leuten Mut und sehen sie über Jahre wachsen”, freut sich Urbatsch. Inzwischen haben viele ehemalige Schützlinge ihr Studium abgeschlossen und arbeiten. “Es macht mir unheimlich Spaß, Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, ihr Potenzial zu entfalten.”

Urbatsch scheint im Einsatz für Chancengleichheit ihre Berufung gefunden zu haben. Nach einem Jahrzehnt ArbeiterKind zieht sie eine positive Bilanz: Anfangs sei es in Deutschland noch kein Thema gewesen, inzwischen sei man für Arbeiterkinder an der Hochschule sensibilisiert, es gebe Programme und Beiträge zum Thema auf Konferenzen. “Aber natürlich gibt es immer noch viel zu tun”, sagt sie mit resoluter Stimme. Es klingt, als habe sie Aussagen schon häufig mit diesem Satz beendet.

Von den Dingen, die es noch zu tun gibt, hat Urbatsch eine klare Vorstellung. “In Deutschland spielen die Eltern in der Schule eine sehr große Rolle”, erklärt sie. “Sei es bei den Hausaufgaben oder finanziell. Das ist eigentlich der Systemfehler. Wir müssen an den Punkt kommen, dass Schule ohne Eltern funktioniert.” Weilacher sieht vor allem das Informationsdefizit als Hindernis für die Chancengleichheit. Hätte er vor dem Studium einen persönlichen Ansprechpartner gehabt, wäre er vielleicht auf Stipendien zu sprechen gekommen. Noch wertvoller sind Berater aber vielleicht für die Motivation der Studierenden. “Es ist wichtig, dass man jemanden hat, der einen pusht, sodass man Selbstbewusstsein aufbauen kann”, sagt Weilacher. Oft ist Selbstbewusstsein das Einzige, das den Ratsuchenden fehlt: Manche bekämen kurz vor dem Studium kalte Füße, erzählt Urbatsch. “Da muss man einfach sagen: ‘Das ist doch alles super, mach das.’ Viele kommen gar nicht noch mal, die brauchen einfach einen Schubs.”

Wie sollen die nächsten zehn Jahre für ArbeiterKind aussehen? Die Organisation wachse weiter, erklärt Urbatsch. “Wir wollen noch mehr aufs Land. Da sind so viele junge Menschen, die Ambitionen haben, aber keine Informationen kriegen.” Und wenn sie mal nicht mehr bei ArbeiterKind sein sollte? Katja Urbatsch strahlt weiter, wirkt völlig gelassen. “Ich denke, ich würde immer was finden”, sagt sie. “Ich habe da jetzt einfach so ein Selbstbewusstsein entwickelt.”

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