Wenn ihr euch eine Superkraft aussuchen könntet, welche wäre das? Fliegen? Unsichtbar sein? Oder vielleicht doch Gedankenlesen? Für die meisten Menschen bleibt die Vorstellung, übermenschliche Kräfte zu haben, ein Tagtraum, ein abhängig vom Alter mehr oder weniger cooles Faschingskostüm, eine Sehnsucht. Für die meisten, nicht alle.
Synästhesie ist zwar im Marvel- oder DC-Kontext keine richtige Superkraft, aber zumindest das, was dem im echten Leben am nächsten kommt. Synästhesie bezeichnet das Phänomen, einen Eindruck mit mehr als nur einem Sinn wahrnehmen zu können. So hören manche Synästhetiker beispielsweise nicht einfach nur einen Ton, sondern verbinden diesen gleichzeitig mit einer Form, einer Farbe, manchmal auch einem Geruch, Geschmack oder einer bestimmten Textur.
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Das bezieht sich aber nicht bloß aufs Hören. Die Kombinationsmöglichkeiten und Ausprägungen der Sinn-Verknüpfungen sind gigantisch. Ganze 176 verschiedene Arten von Synästhesie soll es geben, die häufigste Form darunter ist das so genannte “coloured hearing”, die Ton-Farb-Synästhesie. Für Menschen mit dieser Ausprägung sind bestimmte Klänge oder auch Buchstaben eindeutig mit Farben, Mustern oder bestimmten geometrischen Figuren verbunden. So ist beispielsweise ein A eindeutig rot oder eine Trompete klingt immer gelb.
Munchies-Video: “Geruch verändert den Geschmack”
Die Fähigkeit, Töne schmecken zu können ist weitaus seltener – nur 0,2 Prozent der Weltbevölkerung sind dazu imstande – wobei absolute Zahlen schwierig zu nennen sind, da es einerseits bisher wenig Forschung zu dem Thema gibt und andererseits viele Menschen schlicht nicht wissen, dass sie Synästhetiker sind.
Elisabeth Sulser kann beides: Töne sehen und manchmal auch schmecken. Damit ist sie selbst unter Synästhetikern eine Besonderheit, von denen es in Deutschland laut der Medizinischen Hochschule in Hannover an die 160.000 geben soll. Außerdem besitzt sie das sogenannte absolute Gehör.
Als Musikliebhaber sind wir von der Gabe, Musik mit mehreren Sinnen buchstäblich aufsaugen zu können, natürlich fasziniert. Dass Elisabeth neben ihrer seltenen Ausprägung der Synästhesie selbst auch ausgebildete Musikerin ist, machte sie umso spannender für uns. (Diese Kombi wiederum ist keine Seltenheit – laut Forschungen sind Künstler häufig Synästheten, wie beispielsweise auch Kanye West, Pharrell oder Frank Ocean – obwohl 80 Prozent der Synästhetiker Frauen sind.) Für Elisabeth haben bestimmte Noten und Intervalle festgelegte Farben oder Geschmäcker:
Wir wissen zwar wage, was ein Cis ist, aber spätestens bei der großen Septime hört unser theoretisches Musikwissen auf. Also haben wir Elisabeth gebeten, uns Minderbegabten in einfachen Worten zu erklären, was sie sieht und schmeckt, wenn sie 187 Strassenbande oder “Atemlos” hört. Sie hat uns auch die Fragen beantwortet, ob Casper salzig schmeckt und ob Rins “Bros” auch als Gemälde ein Hit wäre.
187 Strassenbande, “Mit den Jungs”
“Das Stück beginnt mit drei langen, aufsteigenden Basstönen (D, F, A), die ich als
gelb, grün und hellblaufarbene Streifen wahrnehme. Die ziehen sich durch das ganze Lied hindurch, tauchen mal ab und dann wieder auf, man kann sich das wie eine Art Hintergrundfarben-Mix vorstellen. Sobald das Schlagzeug einsetzt, kommen graue, vertikale Striche dazu. Sie sind auch fast während des ganzen Stückes da. Vereinzelt hört man Glockenklänge. Die sehen für mich aus wie farbige, runde Kreise, die durchs Bild schweben.
Zu den Stimmen: Da die Stimmen recht monoton auf dem Ton Cis bleiben, sieht das für mich aus wie ein ausgefranstes rosa Stoffband (Ton Cis = rosa), auf dem die einzelnen Worte geschrieben stehen. Ab und zu spricht die Stimme sehr akzentuiert, dann gibt es einen Knoten im Stoffband.
Zudem gibt es Rauch und graue Flecken, jedes Mal wenn Hintergrundstimmen zu hören sind. Allgemein ergibt die Musik von der 187 Strassenbande für mich ein eher schmutziges Gesamtbild. Der Beat ist kratzig und sieht aus wie schwarzes Metall und Eisenteile aneinander gelegt.”
Das sieht dann ungefähr so aus:
Helene Fischer, “Atemlos”
“Der Song beginnt mit einem kurzen Intro, bestehend aus einzelnen Tönen ( Es, E, H, B) und einem elekronischen Beat. Dies sieht für mich aus wie das Flimmern eines kaputten Fernsehers, durchzogen von einer feine Perlenkette in grau, braun, gold und dunkelrot. Zudem sehe ich eine Linie mit kleinen schwarzen Quadraten, das liegt vor allem an dem Beat.
Mit dem Gesang setzen dann intensive Farben ein. Die Stimme von Helene Fischer sieht aus wie eine farbige Gummischlange, die über die schwarzen Quadrate fliegt. Hauptsächlich sind die Farben grau, dunkelrot, rosarot und braun. An der Stelle, wo der Beat intensiver wird, ist der Klang metallischer, optisch kommen da kleine silberne Spiegel für mich dazu, die sich zwischen die schwarzen Quadrate schieben.
Besonders auffällig ist für mich die Stelle, wenn Helene “Atemlos …” singt. Sie sticht farblich intensiv hervor und ist sehr bunt: grau, gold, türkis, violett und dunkelrot.”
Rin, “Bros”
“‘Bros’ beginnt mit kleinen, farbigen Punkten und geometrischen Formen, die in einem luftleeren Raum umherfliegen. Wie ein Sturm aus Konfetti. Sobald der Gesang einsetzt, kommt eine farbige Linie dazu. Die Bewegung der Stimme sieht aus wie die Silhouette eines Gebirges, das seine Farben Chamäleon-artig wechselt: blau, grün, dunkelrot, rot. Sehr trippy.
Mittendrin fliegen die farbigen Punkte weiter, manchmal unten durch, manchmal über das Gebirge hinweg. Das Ganze ergibt ein ruhiges, stimmiges Bild. Die Wechsel der Farben sind überschaubar und repetitiv, es herrscht Ordnung. Der Geschmack ist oft salzig, was an den kleinen Terzen liegt.”
Casper, “Keine Angst”
“Der Anfang beginnt mit vielen kleinen, farbigen Punkten in hellblau, türkis, rosarot und braun. Die schimmern immer wieder durch während des Stücks. Generell sieht alles sehr strukturiert aus. Der Beat besitzt ein regelmäßiges Muster aus großen und kleinen grauen Linien und Strichen. Dazwischen gibt es ab und zu ein dunkles, kleines Viereck – das sind die Betonungen des Schlagzeugs.
Die Stimme ist dominant. Sie sieht breit aus – wie eine Autobahn, die sich durch eine Landschaft zieht, umgeben von rosa Nebel. Manchmal wird die Stimme braun, violett und grau, doch meistens ist sie rosa. An einigen Stellen wird es salzig, manchmal bitter.”