Sexarbeit und die Arbeit in Gesundheit und Pflege haben einige Gemeinsamkeiten: Es ist viel Empathie erforderlich, man kümmert sich um die körperlichen Bedürfnisse anderer, beide Jobs gelten als typische Frauenberufe und werden von der Gesellschaft kaum geschätzt – wenn auch auf unterschiedliche Weise: Sexarbeit kann gut bezahlt sein, aber sie ist mit einem Stigma behaftet. Die Arbeit in Gesundheit und Pflege ist angesehen, aber wird schlecht bezahlt.
Nach einer Karriere als Pornodarstellerin, Produzentin und Regisseurin hatte sich Liza Del Sierra 2018 dazu entschieden, ihre Ausbildung zur Krankenpflegerin wieder aufzunehmen. Del Sierra arbeitet außerdem ehrenamtlich für die französische Réserve Sanitaire, die Gesundheitsreserve, die zur Unterstützung von medizinischen Teams eingesetzt wird. Während der ersten Corona-Welle bekam sie den Auftrag, in einem französischen Krankenhaus in einer Reanimationseinheit mit Corona-Patienten zu arbeiten. Die Arbeit war unbezahlt, aber ihre Schule rechnete sie immerhin als Teil der Ausbildung an. Um trotzdem über die Runden zu kommen, pflegte sie in ihrer Freizeit ihre OnlyFans-Seite.
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In dem Krankenhaus bekam Del Sierra die volle Wucht der Krise ab. “Uns gingen die Medikamente und das Zubehör aus und manche Patienten starben unter furchtbaren Umständen”, sagt sie. “Manchmal kämpften sie bis zum letzten Atemzug, bis zu 45 Minuten lang, weil es nicht genug Schmerzmittel und andere Medikamente gab. Es hat wirklich wehgetan, das mitanzusehen.” Sie habe auch immer wieder daran denken müssen, wie isoliert die Patientinnen und Patienten in ihren letzten Momenten waren – weit entfernt von Freunden und Familie. In dem Chaos und der Trauer habe sie allerdings auch bemerkt, dass dies der erste Job war, bei dem ihre Kolleginnen und Kollegen ihr keine Probleme wegen ihrem Job im Pornogeschäft machten. “Es hat sich gut angefühlt, als Fachkraft behandelt zu werden”, sagt sie.
Del Sierra ist keineswegs die einzige Sexarbeiterin, die im Gesundheitsbereich tätig ist. Bei einem Durchschnittsgehalt von 1.800 Euro in Frankreich, vor Steuer, und einem extrem stressigen Arbeitsalltag bessern einige mit Sexarbeit ihre Einkünfte auf – für manche bietet die Sexarbeit auch eine Art Ventil. Layna ist um die dreißig und Krankenpflegerin. Während ihres Studiums hatte sie angefangen, nebenbei Geld als Stripperin zu verdienen. Sie sagt, der Nebenjob habe ihr auch dabei geholfen, besser mit den Belastungen ihrer Arbeit umzugehen. Sie pflegt schwerkranke Menschen.
“Ich habe zwei oder drei Nächte die Woche getanzt”, sagt Layna. “Das hat mich vorm Burnout gerettet.” Über die Jahre habe sie allerdings immer mehr Patienten zur Pflege zugewiesen bekommen. Die Mehrarbeit konnte sie nur leisten, indem sie ihre Standards senkte. “Wir sind im Grunde gezwungen, Menschen zu misshandeln”, sagt Layna. “Wenn ich abends nach Hause kam, bin ich gedanklich immer noch einmal meinen Tag durchgegangen und habe mir die Schuld für alles gegeben, was ich hätte anders machen sollen. Ich war so erschöpft.”
Während der ersten Welle der Pandemie wurde Layna in ein Krankenhaus in der Nähe von Paris geschickt, um für kranke Kolleginnen einzuspringen. “Wir hatten 35 Patienten pro Pflegerin und zwei Hilfspfleger insgesamt”, sagt sie. Jeden Tag arbeitete Layna bis spätabends und ihre nächste Schicht begann um 7 Uhr morgens. Oft übernachtete sie in ihrem Auto. “Wir konnten die Schichten nicht füllen, selbst die der Reinigungskräfte nicht – wirklich alle haben gelitten”, sagt sie. “Das Schlimmste war aber, dass ich keine Zeit mehr hatte, einfühlsam zu sein.”
Als dieser Job zu Ende war, entschied sich Layna, nach Guadeloupe zu ziehen, ein französisches Übersee-Gebiet in der Karibik, in dem Stripclubs weiterhin geöffnet sind. Dort habe sie wieder begonnen zu tanzen, mit Mindestabstand und Maske natürlich. “Es hat meinen Kopf freigemacht”, sagt sie. “Plötzlich hatte ich wieder dieses Gefühl der Kontrolle.” Momentan nimmt sie sich eine Auszeit von ihrem Pflegeberuf, um psychisch wieder etwas Kraft zu sammeln. Nichtsdestotrotz sei der Job ihre “größte Liebe”.
Fouad* identifiziert sich als nicht-binär, ist 30 und macht gleich drei Sachen auf einmal: Fouad arbeitet als Escort, schreibt eine Doktorarbeit und ist in der häuslichen Pflege tätig. Letztere umfasst Tätigkeiten im Haushalt, das Zubereiten von Mahlzeiten, Körperpflege und die Erledigung von administrativen Aufgaben für Alte und Menschen mit Behinderungen. Auch ganz banale Aufgaben können dazugehören. “Eine meiner jüngeren Klienten mit Behinderung bittet mich, ihm dabei zu helfen, seinen Freunden Nachrichten zu schreiben und für ihn bei Dating-Apps zu swipen”, sagt Fouad, als wir uns in einem Park außerhalb von Paris treffen.
Wie Del Sierra und Layna musste auch Fouad während der ersten Welle Überstunden machen und arbeitete bis zu 60 Stunden pro Woche. “Es gab einen riesigen Bedarf für Pflegekräfte und dazu mussten wir für die einspringen, die dem Virus ausgesetzt worden waren.” Für die Überstunden und Nachtschichten habe es kein zusätzliches Geld gegeben, sagt Fouad. “Wir konnten noch nicht einmal Ansprüche auf den Bonus erheben, den sie Menschen im Gesundheitsbereich nach der ersten Welle gezahlt haben.” Angestellte in der Einzelpflege waren vom Bonus ausgeschlossen.
Ende 2020 begann Fouad als Escort zu arbeiten. Warum genau will Fouad nicht sagen. “Beides sind Service-Jobs – für mich sind die gar nicht so verschieden.” Allerdings führte die Nebentätigkeit auch zu einem moralischen Dilemma: die Angst, Pflegebedürftige mit Corona aus der Escort-Tätigkeit anzustecken. Am Ende entschied Fouad für sich, dass die Escort-Arbeit auch nicht gefährlicher als andere Jobs sei. “Ich sehe vier Klienten im Monat, das war’s. Die restliche Zeit arbeite ich alleine an meinem Computer”, sagt Fouad. “Es ist leicht, mit dem Finger auf eine marginalisierte Gruppe zu zeigen, während alle anderen sich in Supermärkte und U-Bahnen drängen.”
In Frankreich ist es nicht illegal, als Escort zu arbeiten, aber seit 2016 ist es verboten, Sexarbeit in Anspruch zu nehmen. Das Ziel des sogenannten Nordischen Modells ist es, Freier zu bestrafen und Sexarbeitende zu schützen. Viele Sexarbeitende sagen allerdings, dass das Gesetz ihre Arbeit gefährlicher gemacht habe. Sie würden jetzt an gut versteckten Orten arbeiten, an denen ihre Freier keine Angst haben müssen, von der Polizei erwischt zu werden.
Camille ist 33, alleinerziehende Mutter und hat eine Behinderung, die man ihr nicht ansieht. Sie arbeitet als Zahnärztin in einer Privatpraxis und als professionelle Domina. Camille sagt, dass die Sexarbeit ihr zusätzliches Einkommen bescheren würde und ihrem Bedürfnis nach flexiblen Arbeitszeiten und auch ihrem Gesundheitszustand am meisten entgegenkomme. Im Mai, als die Zahnärzte nach einem sechswöchigen Lockdown wieder öffnen durften, sei Camilles Praxis von Patienten quasi überrannt worden. Irgendwann war sie einfach erschöpft.
Sie habe schließlich aufgehört, in der Praxis zu arbeiten, und begonnen, mit der Sexarbeit das ausgebliebene Einkommen der vorangegangenen Monate auszugleichen. Das habe allerdings auch bedeutet, dass sie unter Bedingungen arbeiten musste, die sie ohne die Geldsorgen niemals akzeptiert hätte. “Die Kunden kommen jetzt zu mir nach Hause, weil viele von ihnen verheiratet sind. Außerdem ist die Bewegungsfreiheit gerade weiter eingeschränkt”, sagt sie in einem Skype-Call. “Ich musste meine Sicherheit aufs Spiel setzen und riskieren, Corona in mein Haus zu bringen. Ich hatte keine echte Wahl.”
Camille sagt, dass ihre Kunden die Sicherheitsmaßnahmen nicht besonders umsichtig befolgen würden, also versuche sie, nur gerade so viele Termine zu buchen, wie sie braucht, um ihre Rechnungen zu bezahlen. Das Risiko, das sie eingehen muss, zeigt eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Sexarbeit und der Arbeit im Gesundheitsweisen: Die Pandemie hat sie in eine prekäre Situation gebracht.
*Name geändert.