Gianna Bacio verdient ihr Geld mit einer Sache, die so manchen Menschen unangenehm ist: über Sex reden. Fast jeden Tag kann man der Sexualpädagogin auf Instagram und TikTok dabei zuhören. Dann geht es um Orgasmen, Vibratoren und Vulven. Nächstes Jahr tourt sie mit ihrer Aufklärungsshow durch Deutschland und Österreich. Dann spricht sie öffentlich über Themen, die du vielleicht nicht einmal im Privaten gern besprichst.
VICE: Wann hast du zum ersten Mal über Sex geredet?
Gianna Bacio: Da war ich vier Jahre alt. Ich saß bei meinen Eltern im Auto auf dem Rücksitz und spielte mit Barbie und Ken. Barbie sagte dann: “Ken, lass uns ficken!” So erzählt es meine Familie noch heute.
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Und wann hast du das erste Mal so richtig über Sex gesprochen?Wahrscheinlich, als ich in die weiterführende Schule kam.
Vielen Leuten fällt es schwer über Sex zu sprechen. Dir scheint es Spaß zu machen.
Ich habe schon immer gern über Sex gesprochen. Ich erinnere mich an einen Abend mit meinen Freundinnen, da war ich vielleicht 19 oder Anfang 20. Wir hatten uns getroffen und wollten später noch weggehen. Ich warf die Frage in den Raum: Was macht ihr mit dem Sperma, wenn ihr Sex hattet? Einige Freundinnen fanden das total ekelig und haben abgeblockt. Ich fand, das war eine wichtige Frage. Ich wollte meine Erfahrungen teilen und von anderen lernen. Vielleicht war das Oversharing. Bei denen, die abblockten, habe ich solche Fragen dann nicht mehr gestellt. Offenbar war ihnen das Thema peinlich.
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Woher kommt diese Peinlichkeit?
Scham ist ein wichtiger Aspekt dabei. Die Fähigkeit, uns zu schämen, ist angeboren. Später kommt unsere Sozialisation hinzu. Der gesellschaftliche Rahmen und die Kultur, in der wir groß werden, ist da entscheidend. Wenn Kinder hören “pfui”, “das ist ekelig” oder “lass das”, werden sie unsicher. Über eigene Vorlieben zu sprechen, gilt in unserer Kultur als schambesetzt, so wie es in Japan zum Beispiel schambesetzt ist, in der Öffentlichkeit den Mund weit zu öffnen.
Hat diese Scham auch was Positives?
Na ja, wenn wir auf die Evolution schauen schon: Für uns Menschen war es überlebenswichtig, in einer Gruppe zu bestehen. Wenn uns die Röte ins Gesicht steigt, ist das ein Zeichen von “Ich hab’s verstanden. Es ist mir unangenehm”. In vielen heutigen Situationen ist das überflüssig geworden.
Unsere Scham steht uns also im Weg, wenn wir über Sex reden wollen. Aber sie ist nur ein Teil der Erklärung, oder?
Ja, beim Sex sind wir ja meistens nackt. Nackte Menschen sehen wir im Alltag kaum. Das ist was Besonderes. Etwas, das uns verletzlich macht. Diese Verletzlichkeit darf man beim Reden über Sex nicht unterschätzen. Wir machen uns angreifbar, wir geben etwas über uns preis. Hinzu kommt: Sex galt lange Zeit als verboten und schmutzig. Erst seit wenigen Jahrhunderten heben wir ihn aus dieser Schmuddelecke raus. Bei weiblicher Lust ist es noch krasser: Darüber wird erst seit einigen Jahrzehnten offener gesprochen.
Warum eigentlich?
Wir sind mit der Gleichberechtigung noch nicht sonderlich weit. Zwar gab es eine Revolution und Frauen, die für ihre Rechte kämpfen. Aber so viele Jahrhunderte lang hatte Religion, oder eher die Kirche, einen riesigen Einfluss in Europa. Die Kirche hat Sex und Selbstbefriedigung zum Tabu erklärt.
Was hatte sie davon?
So hat sie Macht über Menschen ausgeübt. Man wollte eine “brave” Bevölkerung – eine, die man kontrollieren kann. Heute sind in Deutschland so wenige Menschen religiös wie nie zuvor. Trotzdem lernen wir nicht, über Sex zu sprechen.
Wer sollte uns das beibringen: Eltern, Lehrer, Internet?
Eltern haben natürlich eine Vorbildfunktion. Oft fragen mich Menschen aus meiner Community: Wann ist der richtige Zeitpunkt, um aufzuklären? Ich finde, es braucht keinen Knall, mit dem aufgeklärt wird. Wenn man offen mit dem Thema Sex umgeht, merkt man, wann ein Kind Neugier dafür entwickelt. Dann wird es Fragen stellen. Und die kann man beantworten.
Du hast einen kleinen Sohn. Was für Fragen stellt er?
Mein Sohn wird bald fünf Jahre alt und ist total neugierig. Er sieht, dass zu Hause viele Bücher stehen, die sich mit dem Körper beschäftigen. Neulich waren wir in der Bücherei. Da hat er ein Buch zu Körpern hochgehalten und gesagt: “Schau mal, Mama, solche Bücher magst du doch.” Natürlich kennt er meinen Beruf. Und er stellt Fragen.
Welche Fragen?
Zum Beispiel will er wissen, wo die Babys herkommen oder wie das mit der Periode funktioniert.
Was sollte man in der Schule über Sex lernen?
Ich war vor Kurzem in einer Schulklasse: Dort hat man die Scham direkt gespürt. Sie hat sich in Form von viel Gekicher geäußert. Schlimmer war es aber im Lehrerzimmer. Dort wurde noch mehr gekichert. Ja, das Thema wurde zum Teil sogar verlacht.
Klingt nach keinem guten Umfeld, um über Sex zu sprechen.
Das Problem ist: In der Schule lernt man nur, wie man sich schützt – sei es vor Schwangerschaft oder Geschlechtskrankheiten. Über das Lustvolle, das Positive an Sex redet man kaum.
In einem deiner Instagram-Posts schreibst du: Guter Sex ist lernbar. Wie?
Es gibt ja die Annahme, dass wir Sex einfach können. Dass das naturgegeben sei. Dass wir nichts tun bräuchten. Entweder funktioniert es oder nicht. Manche glauben, sie bräuchten nur den perfekten Partner oder die perfekte Partnerin. Das ist in großen Teilen Quatsch.
Warum?
Ich glaube: Wenn wir bereit sind, etwas dafür zu tun, können wir mit jedem Menschen guten Sex haben oder eine gute Beziehung führen. Voraussetzung ist, sich weiterzubilden, dazu zu lernen, auszuprobieren, miteinander zu sprechen und herauszufinden, was gefällt.
Genau das fällt oft nicht leicht. Wie kann es gelingen?
Man muss sich natürlich überwinden. Eine Strategie kann sein, ins kalte Wasser zu springen. Zum Beispiel kann man zum Partner oder der Partnerin sagen: Hey, lass uns doch morgen 18 Uhr mal zusammensetzen und über Sex sprechen. Dazu gehört dann, Intimes preiszugeben, eigene Bedürfnisse zu benennen, über Vorlieben zu sprechen.
Wie findet man Vorlieben überhaupt raus?
Das ist gar nicht so einfach. Unser Blick und unsere Gedanken gelten oft der anderen Person und der Frage, was sie mag. Da kann es sich lohnen, sich selbst zu fragen: Wo möchte ich berührt werden? Was macht Sex für mich gut? Im Gespräch fällt diese Selbstoffenbarung am schwersten. Ich bekomme immer wieder Nachrichten dazu.
Was für Nachrichten?
Mir schreiben manchmal Frauen, dass sie seit Jahren einen Orgasmus vorgetäuscht haben. Sie fragen mich dann: Wie kann ich denn jetzt sagen, dass es nie echt war?
Was rätst du ihnen?
Na ja, entweder sie leben mit der Lüge oder sie nehmen diese Hürde. Nur wenn sie etwas sagen, besteht eine Chance, dass sich etwas ändert. Oft spüre ich in solchen Nachrichten den Wunsch nach Veränderung. Nur, dafür muss man was tun. Bestimmt ist es komisch, zum ersten Mal über Sex zu sprechen. Aber ich kann versprechen: Mit der Zeit wird es leichter. Ich spreche seit 13 Jahren über Sex.
Was hat dir geholfen?
Die vielen, vielen Wiederholungen. Und: Therapie. Eine Psycho- oder Sexualtherapie zu machen, ist ja noch so ein Tabu. Dabei ist es voll gut, gemeinsam mit einer Therapeutin oder einem Therapeuten zu reflektieren. Außerdem haben mir viele Weiterbildungen geholfen, lesen und ausprobieren.
Wie genau hilft eine Therapie?
Dort ist man auf eine Weise gezwungen, über die Dinge zu sprechen. Das ist neu und so entwickeln wir uns weiter. Ein Therapeut schaut, welches Verhalten man in der Vergangenheit hatte und was man daran ändern möchte. Außerdem redet man darüber, welche Fähigkeiten und Ressourcen man mitbringt. Therapie ist oft wertschätzend und eine positive Erfahrung. Menschen oder Paare denken manchmal, sie seien gescheitert. Es ginge einfach nichts mehr. Therapie ermöglicht einen neuen Blick auf eine Beziehung. Ich bin mit vielen Körpertherapeuten im Gespräch. Sie erzählen: Das schwierigste sei für Patienten, mal die Führung zu übernehmen und zu sagen, wo sie berührt werden möchten. Vielleicht ist das auch ein beruhigender Gedanke: Es fällt fast allen schwer.
Therapieplätze sind mitunter schwer zu bekommen. Ins kalte Wasser zu springen, klingt auch hart. Was kann man noch tun, um gelassener über Sex zu reden?
Irgendwo muss man sich immer überwinden. Vielleicht hilft es auch, mit einem Spiel über Sex ins Gespräch zu kommen. Dann gibt es eine äußere Instanz, die Fragen aufwirft oder zum Nachdenken anregt.
Fällt es Männern oder Frauen schwerer, über Sex zu sprechen?
Oft Männern.
Warum?
Das klingt jetzt leider wie ein Klischee, aber Männer reden weniger und weniger offen über Sex. Wenn doch, dann geht es eher um Performance und Leistung. Sie fragen sich seltener, was sie selbst gern möchten. Es geht eher darum, es jemandem so richtig besorgt zu haben.
Wie stark wirken patriarchale Strukturen auf unser Sexleben ein?
Sehr stark. Oft merken wir es gar nicht. Das Patriarchale ist ja die Norm. Auch beim Sex: Der endet in der Regel, wenn der Mann gekommen ist. Auch Mainstream-Pornos sind an männlichen Interessen ausgerichtet. Da bedient die Frau den Mann. Die männliche Sexualität ist im Fokus. Das ist ein Grund, warum es die Orgasmuslücke gibt, also Frauen, die mit Männern schlafen, deutlich seltener zum Höhepunkt kommen als Frauen, die mit Frauen schlafen.
Eigentlich schadet es ja allen, nicht über Sex zu reden: Weniger Orgasmen sind schade. Schlimm ist es aber, wenn sexuelle Handlungen ohne Einverständnis geschehen. Wie kann es gelingen, auch dazu klarer zu kommunizieren?
Da sind wir wieder bei der Frage: Was mag ich und was möchte ich? Es hilft, auf das eigene Bauchgefühl zu hören. Wir merken schon, wenn wir etwas nicht wollen. Da sollten wir uns selbst vertrauen. Tun wir das nicht, schaden wir auch unserem Selbstwertgefühl und unserem Selbstbewusstsein, weil wir uns selbst hintergehen.
Auf Instagram oder TikTok schreibst du “Seggs” oder “orga$m” absichtlich falsch, damit die Plattformen deine Inhalte nicht sperren. Sind das überhaupt gute Orte, um über Sex zu sprechen?
Das frage ich mich auch immer wieder. Nur: Was sind die Alternativen? Ich habe schon überlegt, eine eigene App bauen zu lassen, einen Only-Fans-Auflärungsaccount einzurichten oder einen Telegram-Kanal aufzusetzen. Aber ich möchte, dass meine Inhalte kostenlos, für alle offen und niedrigschwellig erreichbar bleiben. Da sind die Alternativen nicht attraktiv genug.
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