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Diese Website will den syrischen Giftgasangriff mit Fakten und Mathematik aufklären

Wohl noch nie war Wahrheit ein so dehnbarer Begriff wie heute. Im Kampf um Deutungshoheiten kann man schon mal zwischen den ganzen völlig konträren Meinungen im Netz verloren gehen und abschalten, weil man nach dem x-ten Artikel immer noch nicht weiß, was passiert ist. Da hat es etwas Beruhigendes, sich auf nackte Zahlen und Mathematik zu verlassen.

Das dachte sich auch das israelische Startup rootclaim, dessen Website verspricht, die Antworten auf kontroverse Fragen der Nachrichtenlage so transparent und nachvollziehbar wie möglich durch komplexe Wahrscheinlichkeitsmodelle zu errechnen. Gerade will es herausgefunden haben, wer für den Giftgasangriff in Syrien verantwortlich ist – scheitert dabei aber, wie sich zeigt, am eigenen Anspruch.

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Das System ist durchaus ausgeklügelt und die Auswertung erfolgt auf zwei Säulen: Zum einen werden Deutungsweisen und Behauptungen von der Crowd gesammelt und bewertet. Dann werden sie, ähnlich wie zu Beginn einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit, in zu beweisende und zu widerlegende Hypothesen eingeteilt, die eine bestimmt Frage beantworten sollen.

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Der Clou bei diesem Modell: Der menschlichen Urteilsfähigkeit wird eben nicht vollständig vertraut. Zahlreiche Studien haben belegt, dass wir ein Problem damit haben, Meinungen als valide zu akzeptieren, die außerhalb unserer eigenen Erwartungshaltung liegen. Menschen verheddern sich in der Logik – und genau da will rootclaim einhaken. Durch ein mathematisches Modell, das sich Bayen’sches Netz nennt, will die Open-Source-Website diese Vorverurteilungen und Fehler korrigieren. Wenn man so will, rechnet rootclaim den menschlichen Faktor also aus den berichteten Fakten heraus.

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Berücksichtigt wird bei verschiedenen Medienberichten der Bias, also wie wahrscheinlich es ist, dass eine Medienquelle eine derartige Position so wiedergeben würde. Dazu werden wenn nötig alle im Artikel genannten Zahlen überprüft und auf der Website gesammelt. Am Ende steht ein Prozentwert. Er soll darstellen, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Hypothese eingetreten ist oder nicht.

Diese Schlussfolgerungen kann bei rootclaim jeder anzweifeln; muss dafür aber statt eines langen Kommentars mit vielen Ausrufezeichen Zahlen, Daten oder Beweise liefern, die das Gegenteil beweisen sollen.

Wichtige Grundlage für die aktuelle Analyse liefert der einzige vergleichbare Sarin-Angriff, der sich 2013 im syrischen Ghouta abgespielt hatte. Und wer steckte dahinter? Damals kam rootclaim zu einem Ergebnis, das sich deutlich von der US-Deutungsweise unterschied, die in westlichen Medien zu lesen war: Mit 92,5 %iger Wahrscheinlichkeit steckten die Rebellen dahinter, behauptet rootclaim.

Nun will die Seite die Systematik des Ghuta-Falls auch für die Untersuchung des Giftgasangriffs am 4. April 2017 in Khan Sheikhoun anwenden. Hier zeigt sich leider auch schon der Haken an der Methode: Denn bringt man alle bisher gesammelten Beweisstücke zusammen, steht da am Ende: Dass die Rebellenkräfte einen Giftgasangriff auf die ebenfalls von Rebellen gehaltene Stadt als False Flag durchführten, um sie dem Gegner anzuhängen, ist mit einer Wahrscheinlichkeit von 52% eingetreten. Das ist natürlich bei Weitem nicht genug, um eine definitive Aussage zu treffen. Und das wiederum liegt an der dünnen Faktenlage. Das bildet ziemlich genau die Anschuldigungen ab, die heute zu lesen sind: Die Rebellen beschuldigen Assad; die Armee des syrischen Machthabers wiederum bestreitet zwar nicht, dass es einen Luftangriff gegeben hat, beschuldigt aber die Rebellen für die Giftgasangriffe. Belastbare, unabhängige Quellen sind wie so oft im Syrienkrieg Fehlanzeige. So wissen wir bisher immer noch nicht viel: nur, dass am 4. April Dutzende Menschen in der von Rebellen gehaltenen syrischen Stadt nach einem Luftangriff an ihren Vergiftungen gestorben sind.

Interessant ist allerdings, dass die beiden anderen Hypothesen dieses Themas, „Bei einem Bombardement durch die Syrische Armee ist unbeabsichtigt Giftgas ausgetreten” beziehungsweise „Die Syrische Armee hat einen Giftgasangriff durchgeführt”, mit 36 und zwölf Prozent als noch viel unwahrscheinlicher berechnet wurden.

Bild: Omar Haj Kadour / AFP

Das Problem dieser schwammigen Analyse: Es gibt so gut wie keine belastbaren Daten über den Ausgangspunkt einer solchen Attacke, die man für einen mathematisch stabilen Vergleich zu Rate ziehen könnte.

Das Problem für rootclaim: Da die Beweislage beim Angriff von Ghuta für rootclaim sehr klar dafür sprach, dass sich dieser Angriff den Rebellen zuschreiben ließ, wirkt sich diese Schlussfolgerung auf den jüngsten Giftgasangriff aus. Dieser wird folglich ebenfalls „eher” den Rebellen als der syrischen Armee zugeschrieben. Aber kann so – anhand eines Beispiels – akkurate Wissenschaft funktionieren?

Weiterhin gibt es schlicht bislang keine belastbaren Belege, die die Behauptungen „Assad war es” oder „die Rebellen waren es” stützen oder widerlegen würden. Die Analyse ist also gut gemeint, aber nicht besonders hilfreich.

In anderen Fällen dagegen funktioniert die Methode aber wieder erstaunlich gut; zum Beispiel als die Fakten, Behauptungen und Belege rund um die Frage, wer das Passagierflugzeug MH17 abschoss, gegeneinander aufgewertet wurden. Die Analyse ist schlüssig: Mit einer Wahrscheinlichkeit von über 95 Prozent waren es pro-russische Kräfte aus der Volksrepublik Donezk, die das Flugzeug für eine ukrainische Maschine hielten und zum Absturz brachten.

Dass die Analyse so stringent ist, liegt aber auch an den vielen hundert Beweisen und Untersuchungskommissionen, die die eigentliche Rekonstruktion- und Beweisführung übernommen haben und all die kleinen Hinweise zu einem großen Ganzen zusammengepuzzelt haben. Damit zeigt sich die wahre Stärke der Seite: Übersicht in sehr unübersichtlichen und viel berichteten Geschichten schaffen. Doch ob sie Detektivarbeit leisten kann und zu jeder Frage eindeutige Fakten-Perlen aus einem Meer an Meinungen und Beweisschnippseln herausdestillieren kann, bleibt fraglich.

Erfahrung haben die beiden Gründer Aviv Cohen und Saar Wilf mit falschen Fakten und Schutzbehauptungen schon: Ihr vorheriger Job war es, Online-Kreditkartenbetrügern hinterherzuspüren und für Paypal herauszufinden, wie wahrscheinlich es ist, dass jemand sich mit deinem Geld davon macht.

Als Journalisten sehen sich die beiden Gründer aber nicht: „Wir sehen es nicht als unsere Aufgabe an, neue Informationen oder neue Beweise aus geheimen Quellen aufzudecken. Wir konzentrieren uns lieber darauf, bereits existierende Informationen mit einer mathematisch belastbaren Lösung zu bearbeiten, um herauszufinden, was höchstwahrscheinlich richtig ist”, so der Mitgründer Wilf in einem Interview mit dem Journalisten Richard Gutjahr (der dessen Schwager ist). „Wir wissen nicht zu 100% was wahr ist, aber bei bestimmten kontroversen Themen können wir die Unsicherheit reduzieren.”