An einem Samstagmorgen im März, als der Winter noch durch die Straßen von Leipzig fegt, sitzen vier Satanisten in einem Frühstückscafé und schlürfen Orangensaft. Sanfter Jazz klimpert aus den Boxen, sie blättern in der Speisekarte, reden über den Verkehr und den “scheiß Schnee”.
Nur der Mann am Kopfende des Tisches sagt nichts und starrt auf sein Handy. Glatze, schwarzer Dreiteiler, rotes Hemd, schwarze Krawatte. Irgendwo zwischen Türsteher und Ringer. Er heißt Jens, was nicht sein echter Name ist. Den will er hier nicht lesen, weil er negativen Konsequenzen für seinen Job fürchtet. Als Pseudonym schlägt er “Francis Dolarhyde” vor, nach einem Serienkiller aus dem Hannibal-Lecter-Universum. Sein echter Name klingt aber so harmlos wie Jens. Also Jens.
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Die Männer gehören zur “Brotherhood of Samael”, einer “okkulten Interessensgemeinschaft”, die eine “satanische Lebensweise pflegt”, so steht es auf ihrer Website. Alle sagen, dass sie stolze Satanisten sind. Jedes Jahr treffen sie sich, immer in einer anderen Stadt, erklärt Jens. Die Veranstaltungen sind öffentlich, sowohl für Kritiker oder Kritikerinnen als auch für Neugierige und Rekruten, die sich der “Bruderschaft” anschließen wollen. Zum Treffen in Leipzig wird sogar über eine Facebook-Veranstaltung eingeladen, ihr Titel: Satanische Gespräche. Dafür hat Jens ein Tagesprogramm aufgestellt. Nach Kaffee und Kuchen kommen Folterinstrumente und eine Kneipentour. “Hier hat jeder die Gelegenheit, uns kennenzulernen.”
Wenn ich an Satanisten und Satanistinnen denke, fallen mir Bilder von Teufelsanbetenden ein, die Blut trinken oder nachts auf dem Friedhof Hundewelpen opfern. Im Netz warnt die Website “Sekten und Weltanschauungen in Sachsen”, dass Satanismus “Gewalt propagieren” könne, es wird geschrieben von einer “totalitären und gewaltbereiten Ideologie”, und dass diese in der Gesellschaft “verstärkt Raum gewinnen” könne. Ich denke an den “Satansmord” von Sondershausen, wo vor 25 Jahren drei Teenies ihren 15-jährigen Mitschüler mit Elektrokabeln erdrosselten. An das “Satanistenpaar” von Witten, das 2001 einen Arbeitskollegen mit 66 Messerstichen tötete.
Und dann sehe ich Jens vor mir. Jens, der eine dieser randlos-eckigen Steuerberaterbrillen trägt. Jens, der sich nun in diesem leicht lallenden Sächsisch bei der Kellnerin bedankt und zwei große Frühstücksplatten entgegennimmt: gekochte Bio-Eier, Salami, Schinken, Frischkäse mit Melonengarnitur und bunte Cocktailspieße.
Im Netz findet man ihn nur hinter einer schwarzer Ledermaske. Auf einem verpixelten Gruppenbild hockt Jens auf einer Lichtung, in der linken Hand eine Fackel, um ihn herum seine Brüder und Schwestern. Schwarze Kutten, flackernde Kerzen, viele Masken. Sie bilden einen Kreis um einen kleinen Hügel, in dem ein umgedrehtes Kreuz steckt, das Ganze sieht fast aus wie ein Scheiterhaufen.
Nun sitzt er vor mir und sagt, dass er über Vorurteile gegenüber Satanismus aufklären will. Ja, manche würden an den Teufel, an Schwarze Magie und Opferungen glauben. “Hobby-Satanisten” nennt Jens die. Er erzählt von “Spinnern”, die glauben, dass Rituale und Flüche, “der ganze Klim-Bim”, tatsächlich funktionieren. Und dann gebe es die, die im Satanismus keinen Kult, keine Religion, sondern eine Lebenseinstellung sehen. Der “moderne Satanismus” habe nichts mit den Klischees zu tun. Jens glaubt weder an Gott noch an Satan, sondern an “den Menschen als Indivuum”. Diese Satanisten und Satanistinnen treffen sich nicht auf Friedhöfen, sondern wie hier, in Frühstückscafés, trinken Orangensaft und diskutieren über Goethes Faust und Nietzsche. “Satanismus ist eine Philosophie”, sagt Jens und es klingt ein bisschen wie die Veggie-Version des Teufelsanbeter-Klischees. Aber ist sie auch harmlos?
Vor dem Treffen in Leipzig frage ich Jens, ob wir mal telefonieren könnten. Er lehnt ab. Da er bei der Bundeswehr arbeitet und größtenteils in einer Kaserne lebt, habe er praktisch keine Privatsphäre. “Man ist nie wirklich alleine”, sagt er. Dass ich ihn porträtiere, sei aber kein Problem. Auf meine Anfrage, ob ich ihn einen Tag lang begleiten könnte, schreibt er: “Selbstverständlich. Du wirst dich ja zu unserer öffentlichen Veranstaltung zeigen.” Mein Gesicht für seins.
Ja, vielleicht gibt es Satanisten, die auf Blut stehen. Andere bleiben einfach bei Orangensaft.
Als gegen Mittag drei weitere Mitglieder ankommen, erhebt sich Jens schwerfällig und umarmt sie alle herzlich, als hätte er sie jahrelang nicht gesehen. Dann lässt er sich wieder in den Stuhl fallen, tippt seine Fingerspitzen aneinander und schaut, als grüble er über ein unlösbares Problem. “Jeder Satanist hat seine eigene Vorstellung von der Philosophie”, sagt Jens. Für ihn bedeutet Satanismus, “sein Leben nach seinen Vorstellungen zu gestalten, ohne davon durch religiöse, ethische oder gesellschaftliche Regeln eingeschränkt zu werden”. Für ihn gebe es kein Leben danach, nur dieses eine. Deshalb esse er das beste Fleisch und trinke den teuersten Wein, buche die teuersten Prostituierten und zocke in Las Vegas in den edelsten Casinos. In der Bundeswehr habe er die Position, die er wollte, und verdiene weitaus mehr, als er brauche. “Ich lebe so, wie alle anderen Religionen es einem verbieten”, sagte er.
Wenn man ihm zuhört, klingt es, als hätte er das alles schon sehr oft erzählt. Als ich ihn nach Klischee-Symbolen frage, sprudelt er über vor historischer Belege: “Das Pentagramm kann alles bedeuten.” Im Mittelalter nutzte man es als Abwehrsymbol gegen böse Geister, später wurde es umgedreht und galt als Stempel des Bösen. Das umgedrehte Kreuz sei “eher ein christliches als ein satanisches Symbol”, weil Petrus angeblich auf dem Kopf gekreuzigt wurde. Auch der Begriff Satan werde oft falsch verstanden. “Satan bedeutet auf Hebräisch ‘Gegner’”, sagt Jens. Ursprünglich sei es mehr eine Beleidigung gewesen als Synonym für den Teufel. “Erst die Kirche hat daraus einen Typen mit Hörnern und Pferdefuß gemacht.”
Also fing Jens an, dagegen zu sein. Auf Facebook wettert er gegen das Christentum, Judentum und den Islam. Er teilt Nachrichten zum Kindesmissbrauch buddhistischer Mönche oder kirchenkritische Memes. Ein Beitrag zeigt einen Torbogen mit dem Psalm 121:8: “Der Herr segne deinen Eingang und Ausgang.” Daneben: ein Foto der Pornodarstellerin Mia Khalifa. Jens läuft beim Christopher Street Day mit, als “Puffer gegen radikale Christen und Moslems”, sagt er. Er ist gegen die “Ausbeutung der Armen” und verteilt Lunchpakete an Obdachlose in Großstädten. Jens ist eine Art außerparlamentarische Ein-Mann-Opposition.
Jens schaut auf sein Handy und springt auf. “Wir müssen weiter!” Er hat den ganzen Tag geplant. Als ich ihn frage, wie sich Satanisten und Satanistinnen hier die Zeit vertreiben, kichert er nur. Er führt uns in eine Folterausstellung im Kriminalmuseum.
Es hat etwas von einer Gewitterwolke am Himmel, als die sieben Schwarzgekleideten durch die verschneiten Straßen Leipzigs schreiten. Sie kennen sich seit etwa drei Jahren. Neben mir geht Tobias, an seinem Hals baumeln Ketten mit Pentagrammen und Baphomet-Köpfen. Jens dachte bei seiner Bewerbung, er sei ein “Bling-Bling-Satanist”, und fragte, wie ernst es ihm mit dem Satanismus sei. So ernst, dass Tobias Konsequenzen im Job egal sind. Auf Fotos trägt er nie eine Maske. “Ich stehe dazu”, sagt er. Hinter ihm geht Roman, für den Jens damals acht Stunden durchs Land fuhr, um ihn kennenzulernen. Der mit einer Behinderung aufwuchs und im Satanismus nach Stärke suchte. Oder Tim, der Philosophie studierte und sagt, dass Nietzsche sicher ein guter Satanist gewesen wäre. Im Gespräch betont Jens oft, dass es keinen “Anführer” in der Bruderschaft gebe. Jeder, auch er, sei ein gleichwertiges Mitglied. Und doch wirkt er wie die unausgesprochene Vaterfigur der Gruppe.
“Satanismus ist für uns kein Spaß”, sagt Jens, sondern etwas, “für das man bereit sein muss”. Für diese Menschen gründete er 2015 mit zwei weiteren Mitgliedern die Brotherhood of Samael. Die meisten seien bis dahin Einzelgänger gewesen, sagt Jens. Sie sammelten sich lose in der Region, in Internetforen oder waren “Teenager, die mal den Satanismus ausprobieren wollten”. Für ihn sei das keine Gemeinschaft, sagt er. “Dazu muss man sich wirklich treffen und kennenlernen.” Anfangs nahm die Bruderschaft jeden auf, innerhalb weniger Tage wuchs die Gruppe auf 30 Personen. Heute seien sie zwischen 15 und 20 feste Mitglieder, laut Jens die größte satanistische Gruppe in Deutschland.
“Satanismus war nie eine Massenbewegung und wird es nie werden.”
Wie viele Satanisten und Satanistinnen es gibt, ist unklar. Die Religionswissenschaftlerin Dagmar Fügmann von der Universität Würzburg galt lange als führende Expertin der Szene. 2008 forschte sie in ihrer Dissertation zum “zeitgenössischen Satanismus” und schätzt, dass 500 Menschen in Deutschland Satanismus “aktiv als Religion” ausleben, 150 davon in Gruppen organisiert. Auf Nachfrage erzählt Fügmann, dass es keine neueren Zahlen gebe, weil der Satanismus in Deutschland immer weniger präsent sei, ebenso die Forschung dazu. Sie selbst forsche mittlerweile zu anderen Themen. “Satanismus wurde als Feindbild abgesetzt, beispielsweise durch den Islamismus”, sagt sie am Telefon.
In Deutschland ist Satanismus keine anerkannte Kirche. Anders als in den USA, wo beispielsweise die Organisation The Satanic Temple eine Gegenbewegung zum religiösen Eifer der Trump’schen Regierung bildet und so viele andersgläubige Fans gewinnt. Davon ist Satanismus in Deutschland weit entfernt ist. “Satanismus war nie eine Massenbewegung und wird es nie werden”, sagt Jens.
In der Folterausstellung wirkt die Gruppe wie eine zehnte Klasse auf Klassenfahrt. Sie posen vor einem stachelbesetzten Stuhl mit Daumenschrauben und machen Selfies. Grinsen, Zunge raus, die Finger formen die Metal Fork. Jens schlendert an einem Stahlkäfig vorbei, in dem ein medizinisches Skelett baumelt. Er schaut hoch, schaut wieder weg und sieht aus, als kenne er das schon alles. Ja, ja, er war schon öfters hier, sagt er.
Jens wuchs im Osten Leipzigs auf, im “Ghetto”, wie er es nennt. Als Sohn einer Akademikerin sei er bereits in Bibliotheken gewesen, als er gerade krabbeln konnte. In der Schule war er ein Musterschüler, in der Freizeit verschlang er Buch für Buch. Die Kinderbücher seien ihm schnell langweilig geworden, er ging in die “Erwachsenenabteilung”, las sich durch Regale über Religionen und Philosophie und kam zum Satanismus durch Bücher, die eigentlich vor ihm warnten. Die Titel hießen etwa Der Satan von Witten oder Sodom Satanas: Oder die Politik der Perversion, verfasst von Verschwörungstheoretikern. “Sehr unterhaltsam”, sagt er. “Besser als jeder Thriller.” Da war er 13 Jahre alt.
In der Schule gaben Lehrer Präventionskurse zu Satanismus. Jens ignorierte das, hielt stattdessen ein Referat darüber. Er habe die Bibel gelesen und den Koran und nennt das heute “Vorbereitung”. “Ich will ja wissen, worüber ich mich genau aufrege.” Mit seinen Eltern, die ebenfalls Atheisten sind, sprach er stundenlang über Religion und Gott und “dass das doch alles Schwachsinn” sei. Für sie sei es keine große Überraschung gewesen, dass er Satanist ist, zu Hause habe er nie ein Geheimnis daraus gemacht. Als er es mit 20 beiläufig ansprach, habe sein Vater nur geantwortete: “Ach nee, wirklich? Sag bloß!”
Als Jens in den 80er Jahren geboren wurde, wütete in den USA die Satanic Panic. Einige Jahre später kam sie in Deutschland an. Beim “Satansmord von Sondershausen” erdrosselten 1993 drei Gymnasiasten ihren Mitschüler Sandro Beyer. Die Jugendlichen entsprachen dem, was die Bild später als “Satanskinder” betitelte: schwarze Kleidung, eine Vorliebe für Filme wie Tanz der Teufel und nächtliche Friedhofsbesuche. Das Gericht sprach von “satanistischem Gedankengut”. In den folgenden Jahren gab es Suizide und Suizidversuche von Jugendlichen, um die sich Gerüchte zu satanistischen Verbindungen ranken. Das schlechte Image hält sich bis heute.
“Jeder Satanist ist ein Kämpfertyp. Aber nicht jeder Soldat ist ein Kämpfer.”
Und mit dem spielen auch die Mitglieder der Brotherhood of Samael. Zumindest fürs Gruppenbild. Jens öffnet einen schwarzen Aktenkoffer, darin: eine schwarze Ledermaske mit geschwungenen Augenlöchern und angedeuteten Hörnern. “Eine Maßanfertigung aus den USA”, sagt er stolz. Die Maske soll Jens schützen, weil er um seine berufliche Zukunft in der Bundeswehr fürchtet. Dabei habe er gerade dort gelernt, was Satanismus für ihn bedeutet: sein Ziel mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln erreichen.
In der Bundeswehr lernte Jens, wie man Truppen durch Minenfelder führt, er klettert 30-Meter-Türme hoch und harrt 80 Stunden ohne Schlaf aus, sagt er. Die Individualität, die ihm als Satanist so wichtig ist, gibt Jens für eine Uniform auf. Er verpflichtet sich weiter, bewirbt sich für mehrere Kriseneinsätze. Ja, man verdiene Schweinegeld, sagt er, aber es sei die Gefahr, die ihn reize. “Jeder Satanist ist ein Kämpfertyp”, sagt er. “Aber nicht jeder Soldat ist ein Kämpfer.”
In der Bruderschaft weiß man, dass er Soldat ist. Umgekehrt nicht. “Ich weiß nicht, wie meine Vorgesetzten reagieren würden”, sagt Jens. “Aber ich will kein Risiko eingehen.” Er befürchtet, dass das seine Karriere zerstören könnte, für die er so hart gearbeitet hat.
Bei der Bundeswehr gibt es Christen und Muslima, schwule Hauptmänner und transsexuelle Oberstleutnants. Seit 2002 gibt es den Arbeitskreis für homosexuelle Angehörige der Bundeswehr, seit 2016 eine neue Stabstelle des Verteidigungsministerium, deren Motto: “Chancengerechtigkeit herstellen, Vielfalt als Chance begreifen, Inklusion leben.” Die Bundeswehr veröffentlichte sogar eine Bravo-ähnliche Diversity-Ausgabe des Bundeswehrmagazins Y. Jens hat sich noch nie dafür geschämt, Satanist zu sein. Aber hier schweigt er. “Wenn ein Kompaniechef dich nicht leiden kann, hast du verloren.” Offiziell dürfen Vorgesetzte niemanden wegen des Glaubens benachteiligen. Das geschehe eher hinter dem Rücken, erzählt er. Ich frage ihn, ob er es irgendwann doch erzählen würde. “Eher nicht”, sagt er. “Die Leute sind sehr vorurteilsorientiert.”
Satanismus bedeutet nicht nur, Gegner zu sein, sondern auch, ständig Gegner zu haben. Jens kämpft nicht gegen Gott und die Welt, sondern gegen die Vorurteile der Satanic Panic, darum will er aufklären. Er diskutiert mit Kriminalpsychologen auf der Skepkon in Köln, einer Konferenz für Wissenschaft und kritisches Denken, und Sektenexperten des Bistums Münster, er spricht mit der Partei der Humanisten oder kritischen Facebook-Userinnen. Es sei allerdings schwierig, eine sachliche Diskussion zu führen. “Die meisten wollen nur ihre Vorurteile bestätigt sehen”, sagt er.
Bis sich das geändert hat, behält Jens seine Maske auf. Die meisten Menschen verstecken dahinter ihre wahre Identität. Bei Jens wirkt es, als könnte er erst maskiert richtig offen zu seinem Inneren stehen. Und vielleicht kann er das irgendwann auch ohne Maske.
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