Sven Lewandowski guckt täglich Pornos – und wird dafür bezahlt. Weil Lewandowski Soziologe ist, handelt es sich dabei natürlich um ein selbstloses Opfer im Sinne der Wissenschaft.
Seit Februar 2019 erforscht der 50-jährige gemeinsam mit einem kleinen Team an der Uni Bielefeld die menschliche Sexualität. Um mehr über die sexuelle Interaktion zwischen zwei Personen zu erfahren, zieht er sich erst ihre privaten Sexvideos rein, wertet diese dann aus, und befragt die Akteure anschließend in mehrstündigen Interviews zum Entstehungsprozess der Filmchen.
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Seine Protagonistinnen und Protagonisten findet der Soziologe durch Aufrufe der Uni Bielefeld*, Posts auf Datingportalen, Flugblätter und Zetteln in Sexshops. Wer an der Studie teilnehmen will, schickt ihm in Absprache seine Videos zu. In den nächsten zwei Jahren möchte er so eine Theorie sexueller Interaktion aufstellen. Wir haben Fragen.
VICE: Warum interessieren Sie sich so für Amateurpornos?
Sven Lewandowski: Private Sexualität zu erforschen, ist nicht leicht. Man kann sich ja schlecht bei Leuten ins Schlafzimmer setzen. Die selbstgedrehten Sexvideos sind für uns ein Zugang. Fragt man Menschen, was sie beim Sex genau machen, können sie einem fast nichts dazu sagen. Es lässt sich nur sehr schwer in Wort fassen, was der eigene Körper beim Sex genau macht. Das ist ein grundlegendes Problem. Die Sexualforschung weiß eigentlich nichts über sexuelle Interaktion.
Amateurpornos sind deshalb ein guter Zugang, weil sie nicht für Soziologen produziert wurden. Sie bilden die Realität ab und zeigen Sexualität im privaten Umfeld. Es bringt ja nichts, wenn man Leute in sein Labor setzt und sagt: Jetzt habt mal Sex.
Und was wollen Sie so herausfinden?
Die Frage ist: Wie funktioniert Sexualität und wie funktioniert Amateurpornografie? Wichtig ist, dass die Leute auch ohne Kamera Sex miteinander haben. Ich glaube, dass Leute Sexualität genauso verinnerlichen wie jede körperliche Praxis. Beim Fußballspielen hat jeder einen gewissen Stil, mit dem Ball umzugehen. Den wird man auch nicht los. Beim Sex ist das, glaube ich, ähnlich. Zumindest dann, wenn die Paare aufeinander abgestimmt sind. Selbst wenn sie etwas vorspielen wollen, zeigt sich in den Videos letztlich doch ihre übliche Sexualität. Menschen sind im Alltag meist keine guten Schauspieler.
Mich interessieren Leute, die Sexvideos wirklich privat drehen, und nicht, um damit Geld zu verdienen oder eine Pornokarriere zu starten. Jeder hat schonmal Pornos geguckt und weiß, wie das aussehen soll. Trotzdem kann man seine Sexualität genauso wenig verstellen wie seine Handschrift. Es geht nicht darum, was Pornografie mit den Menschen macht, sondern darum, wie Menschen Pornografie machen.
Wie viele Menschen haben Sie bisher zu ihren Sexvideos befragt?
Eine Handvoll. Wenn man genau arbeitet, geht das teilweise sehr langsam voran. Unser längstes Interview ging sechs Stunden. Am liebsten sprechen wir mit Paaren, aber auch mit Einzelpersonen. Die Voraussetzung ist, dass alle abgebildeten Personen zugestimmt haben und erwachsen sind. Wir wollen keine Videos, die Sex mit der Ex-Freundin zeigen, ohne dass sie davon weiß. Außerdem schließen wir Masturbationsvideos von Einzelpersonen aus, da es in der Studie um sexuelle Interaktion geht – dazu gehören mindesten zwei Personen. Uns ist allerdings völlig egal, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Das können Affären, Dauer-Freundschaften, langjährige Beziehungen oder Sexkontakte sein.
Was sind das für Leute, die Amateurpornos drehen?
Ganz normale Leute. Man würde sie auf der Straße nicht erkennen. Es ist ja heute auch nicht mehr ganz so außergewöhnlich, sein Privatleben öffentlich zu machen. Das sind aber nicht alles junge Leute. Wir haben auch einen Mann, der sich schon seit 40 Jahren beim Sex filmt. Er ist einfach sehr filmaffin.
Sind das alles Exhibitionisten?
Nein. Zumindest nicht im klinischen Sinne.
Warum drehen Leute überhaupt privat Pornos?
Die Motive sind unheimlich vielfältig. Manche drehen Pornos ähnlich wie Urlaubsvideos – zur Selbstdokumentation. Es gibt natürlich auch Leute, die es erregend finden, sich zu filmen und das Video nachher anzuschauen – oder damit es andere Leute später sehen. Andere filmen sich, um die Clips auf Sex-Kontaktbörsen oder Dating-Plattformen zu benutzen. Oder als Erinnerung. Manche Leute haben es auch einfach gemacht, weil gerade eine Kamera rumlag.
Wir haben einen Fall, in dem die andere beteiligte Person einfach eine Kamera auspackt und fragt, ob das OK sei. Da entstand ein Überraschungseffekt. Der Mann hatte schon als Jugendlicher den Wunsch, beim Sex gefilmt zu werden und die Fantasie, Pornostar zu sein. In einem anderen Fall hat ein Mann beim Sex mit seiner Freundin einfach mit dem Handy gefilmt, ohne dass sie das bemerkt hat. Das fand sie im Nachhinein aber relativ lustig. Sie war es auch, die das Video geschickt hat. Ohne ihre Zustimmung hätten wir das Video nicht akzeptiert!
Glück gehabt. Amateurpornos sind nicht wirklich neu. Haben sich die Beweggründe dahinter verändert?
Sie haben sich mit Sicherheit etwas verschoben. Die meisten Menschen haben immer eine Kamera in der Nähe und können spontan filmen. Wenn ich in die Mensa gehe, fotografieren Menschen ihr Essen und posten es. Wenn Leute ihr Essen und ihre Kinder posten, wieso dann nicht auch ihre Sexualität? Ich finde das nicht ungewöhnlich. Es ist so normal geworden, anderen einen relativ großen Teil des Lebens zugänglich zu machen, da finde ich es nicht sonderlich überraschend, dass das bei der eigenen Sexualität ähnlich ist.
Dabei ist es durch das Internet ja viel gefährlicher, heutzutage Amateurpornos zu drehen.
Wieso?
Weil die Gefahr, dass sie verbreitet werden, größer ist.
Die Frage ist, ob die Leute das als Gefahr sehen. Was kann passieren? Jemand anderes kann das Video sehen. Ein Interviewpartner hatte sein Video auf einer Datingplattform hochgeladen. Er sagte sinngemäß: “Wer das Video sieht, war immerhin auf der Datingplattform. Und damit hätte er dann ja auch was zu verbergen.”
Es ist aber nicht jedes Sexvideo für eine Veröffentlichung gedacht. Was, wenn es ohne Einverständnis auf Instagram oder Snapchat landet?
Ja. Das kann passieren. Und es ist dann gegebenenfalls eine Straftat, da man nicht einfach Bilder anderer Leute veröffentlichen darf. Zumindest nicht ohne ihre Zustimmung. Aus soziologischer Sicht ist die Frage aber nicht, ob es gefährlich ist, Sexvideos zu drehen. Sondern: Wer sieht es als gefährlich an? Und da scheint es genug Leute zu geben, die es nicht als gefährlich ansehen. Leute gehen mit diesem Risiko unterschiedlich um.
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Sie wollen anhand der Videos die Alltagssexualität von Otto-Normalverbrauchern analysieren. Sind Amateurpornos überhaupt repräsentativ?
Ja, da die Leute die Kamera relativ schnell vergessen. Besonders dann, wenn sie im heimischen Umfeld sind und das machen, was sie ohnehin machen. Natürlich kann ich nicht ausschließen, dass die Leute versuchen, sich etwas spektakulärer darzustellen, als sie im Alltag sind – besonders dann, wenn das Video zur Veröffentlichung gedacht ist. Aber man sieht ganz gut, wann die Leute schauspielern und wann nicht.
Woran erkennt man das?
Wir haben beispielsweise eine Szene, die ganz hervorragend ist, weil das Paar offensichtlich hinreichend aufeinander eingespielt ist: Sie rutscht im Bett hoch und er greift zwischen ihren Beine an ihre Pobacken. Das ist so perfekt koordiniert, das könnte man durch Absprache gar nicht hinkriegen. Wie am Schnürchen. Vermutlich, weil sie immer diese Bewegung macht.
Man erkennt, wie gut die Leute sich kennen. Zum Beispiel, wenn Pannen auftreten. Sei es Rausrutschen oder zu festes Kneifen. Paare, die schon lange Sex miteinander haben, können das innerhalb einer halben Sekunde bereinigen. Ohne verbale Kommunikation.
Die Frage ist: Wie kommen Personen und Paare dazu, gemeinsam einen sexuellen Stil zu entwickeln? Man geht ja nicht wie beim Fußball in ein Trainingscamp.
Erregt es Sie, die Videos zu gucken?
Alle glauben immer, es sei unheimlich toll, im Büro Pornos zu schauen – stimmt aber gar nicht! Man muss sich einen professionellen Blick aneignen. Also Sexualität anzuschauen, ohne dass sie einen erregt. Wir schauen die Videos sehr genau an, spulen vor und zurück. Wenn wir ein 1:30-Video halbwegs sorgfältig beschreiben wollen, brauchen wir dafür 10 Seiten. Insgesamt kann man sich bestimmt zwei Wochen mit einem kurzen Video beschäftigen.
Was ist bisher die spannendste Erkenntnis?
Die Vielfältigkeit von Sexualität: verschiedene Begehren, verschiedene Praktiken, verschiedene Vorgehensweisen. Am spannendsten ist die Mikrointeraktion. Der Ablauf von Dingen, die sie normalerweise gar nicht bemerken würden. Das ist aber von entscheidender Bedeutung, damit Interaktion funktioniert. Außerdem treffen wir während unserer Arbeit Leute, von denen wir nie gedacht hätte, dass wir sie treffen würden.
* Für das Forschungsprojekt sucht die Universität Bielefeld noch weitere Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Informationen findet ihr hier und auf Twitter. Bei Fragen zur Studie könnt ihr Sven Lewandowski eine E-Mail schreiben.
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