Nevada City ist ein kleines Nest in Kalifornien, dem man seine Wildwest-Vergangenheit ansieht. Geht man die Hauptstraße entlang, kann man die Augen zusammenkneifen und sich vorstellen, in den historischen Holzhäusern würden noch heute Cowboys und Goldgräber schlafen, essen und sich prügeln. Doch diese Bewohner, die selbst oder deren Vorfahren aus Europa stammten, waren nicht die einzigen in der Region. In den 1850ern lebten hier Schätzungen zufolge noch etwa 7.000 Mitglieder des Stamms der Nisenan. Heute sind es laut offiziellen Stammesaufzeichnungen nur noch 147.
Ihre Geschichte ist geprägt von Leid, Unterdrückung durch europäische Siedler und leeren Versprechungen seitens der US-Regierung. Dass sie überlebt haben, zeugt von ihrer Zähigkeit.
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Die US-Regierung erkennt heute 562 indigen-amerikanische Stämme an, wie die Apachen in Oklahoma und die Blackfeet in Montana. Die Anerkennung sichert den Stämmen amtlichen Schutz ihrer Reservate und finanzielle Unterstützung seitens der Landesregierung. Die Nisenan gehören nicht zu den anerkannten Stämmen.
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“Wir hatten hier schon Tausende Jahre vor dem Goldrausch eine ganze Gesellschaft”, sagt Shelly Covert, Sprecherin des Stammesrats der Nisenan. Historiker interessieren sich dennoch vor allem für den Goldrausch, der Nevada City im 19. Jahrhundert zur Boomtown machte. “Ich versuche, mehr Aufmerksamkeit auf den Stamm zu lenken, aber es ist wirklich schwierig”, so Covert.
Um kommenden Generationen die Geschichte des Stammes beizubringen, hat der Vorsitzende des Stammesrats der Nisenan, Richard Johnson, ein Lehrbuch geschrieben, The History of Us: Nevada City Rancheria and Nisenan Indians. “Ich hoffe, wir können damit unseren Kindern beibringen, dass wir eine uralte Kultur sind. Aber es ist schwierig, ihnen ein Gefühl dafür zu vermitteln”, sagt er. Er selbst habe erst mit über 50 ein Gefühl dafür entwickelt – als er zum Anführer des Stamms wurde.
87 Prozent der Nisenan leben unter der kalifornischen Armutsgrenze
Dass die Nisenan nicht anerkannt sind, geht auf die Abschaffung des kalifornischen Rancheria-Systems zurück. Bei den Rancherias handelte es sich um Reservate für indigene Völker, die staatliche Unterstützung bekamen. Der US-Kongress verabschiedete 1958 den Rancheria Act, der die allmähliche Abschaffung 41 kalifornischer Rancherias besiegelte. In den vergangenen 25 Jahren sind 27 der 38 Rancherias, die abgeschafft wurden, wiederhergestellt worden. Der Kongress hat in dieser Zeit immer mehr Stämme anerkannt. Doch Covert zufolge waren die Nisenan 2015 der erste Stamm, dessen Antrag auf Wiederherstellung seiner Rancheria abgelehnt wurde. Die offizielle Begründung: Die Nisenan hätten ihren Antrag nach Verstreichen der sechsjährigen Verjährungsfrist gestellt. Nur trifft das auf alle Stämme zu, die ihre Rancheria vom Staat zurückbekommen haben.
Covert sagt, dadurch fehle Stammesmitgliedern in Nevada County Zugang zu “staatlicher Gesundheitsvorsorge, Sozialwohnungen, Bildungsprogrammen und Unterstützung bei der Jobsuche”. Das ist ein großes Problem, denn 87 Prozent der Nisenan leben laut internen Umfragen des Stammes unter der kalifornischen Armutsgrenze. “Bildungsmangel und Arbeitslosigkeit sind bei uns extrem verbreitet, dazu kommt ein hoher Anteil an Drogen- und Alkoholabhängigen sowie große Probleme im Bereich häusliche Gewalt, Suizid und Gesundheit”, erklärt Covert.
Viele Nisenan sind überzeugt, dass nur die staatliche Anerkennung dem Stamm aus dieser entmutigenden Situation helfen kann. Doch nach Generationen der Unterdrückung fällt es ihnen nicht leicht, sich um Hilfe zu bemühen.
Lange Zeit lebten die Nisenan ihre Kultur nicht öffentlich – aus Angst
“In den 50ern wurden unsere Leute ganz still”, sagt Johnson. “Wir misstrauten der Regierung, schließlich nahm sie uns die Kinder weg. Mit mir haben sie das gemacht, auch mit meiner Mutter und meinen zwei Tanten. Also schwiegen wir.” Vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entzog der Staat indigenen Eltern regelmäßig das Sorgerecht und steckte die Kinder in Internate, wo man “den Indianer” in ihnen “töten” wollte – ein unvorstellbares Trauma für die Betroffenen, viele bezeichnen dieses Vorgehen als kulturellen Genozid. Damals brüsteten sich indigene Amerikaner Johnson zufolge nicht mit ihrer Abstammung, denn dann hätten sie befürchten müssen, zusammengeschlagen oder gar ermordet zu werden. “Wir behielten unsere Zeremonien für uns. Keiner von uns sagte: ‘Ich bin stolz, ein Indianer zu sein.’”
Indigene Stämme sind in der us-amerikanischen Gesellschaft, in der Politik und den Medien kaum präsent. Michael Ramirez, ein junges Mitglied des Stamms, hat deshalb Indigenous Insight gegründet. Die Nonprofit-Organisation setzt sich für eine stärkere Medienpräsenz indigener Völker ein. “Wenn man beispielsweise ‘Afroamerikaner’ googelt, findet man Obama”, erklärt Ramirez. “Wenn man ‘amerikanische Ureinwohner’ sucht, erscheinen stattdessen diese veralteten Fotos aus den 1880ern, die den Eindruck erwecken, im 20. Jahrhundert hätten wir schon gar nicht mehr existiert. Als hätten wir uns einfach geschlagen gegeben.”
Auch Richard Johnson will anderen die Kultur des Stammes näherbringen. Auf dem jährlichen Kulturerbe-Tag Nisenan Heritage Day erklärt er Besuchern traditionelle Objekte der Nisenan: “Abalone-Muscheln wurden für Verzierungen eingesetzt. Man hängte sie sich an die Ohren oder die Kleidung, oder machte Halsketten daraus.” Abalone-Schmuck, so Johnson, sei ein Statussymbol gewesen. Je reicher man war und je mehr man davon hatte, desto höher der Status im Dorf. “Neben Abalone verwendete der Stamm auch häufig Muschelperlen, die wir im Handel mit den Pomo von der Küste bekamen. Man konnte sie kaufen und als Währung verwenden, daher waren sie unseren Leuten sehr wichtig.”
Heute versuchen die wenigen verbleibenden Nisenan, ihre Stammesidentität wieder zu leben und so zu festigen. Am 11. November 2017 fand in der örtlichen College-Turnhalle der achte jährliche Nisenan Heritage Day statt. Das Thema des Kulturerbe-Tags war “Visionen der Zugehörigkeit und das Bedürfnis nach Heimat”. Dort ging es zum Beispiel darum, dass die Nisenan sich bemühen, ihre Sprache wiederzubeleben; dafür arbeiten sie mit der Linguistin Sherri Tasch zusammen. Stammesmitglieder führten an dem Tag zeremonielle Toto-Tänze vor und webten mit den Besuchern wasserdichte Korbwaren, eine Spezialität der Nisenan. Die Körbe werden aus Weide, Judasbaum, Riedgraswurzel und Adlerfarn geflochten, jede Familie hat ihre eigenen Muster.
Sie laden zu kulturellen Festen, beleben ihre Sprache wieder und betreiben Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit
Um ihre Kultur bekannt zu machen, laden die Nisenan nicht nur zu Festen, sie versuchen auch Einfluss auf die Lehrpläne der Region zu nehmen. “Einen Lehrplan zu erstellen, der das Leben unserer Leute widerspiegelt, ist ein Aufwand, der sich lohnt”, sagt Covert. Zum Beispiel wisse niemand, wie ein Stammesmitglied der Nisenan überhaupt aussieht. “Wenn ich von den Sioux spreche, fallen einem gleich großer Federschmuck und Ponys ein, aber wenn ich von einer Nisenan-Frau in vollem Zeremonienstaat erzähle, hat niemand ein Bild im Kopf. Niemand weiß, wie wir aussehen, weil wir nirgends sichtbar sind.”
Jede Woche treffen sich Stammesmitglieder mit der Linguistin Tasch, die ihren Sprachunterricht danach richtet, was die Lernenden ausdrücken wollen. Die Wiederbelebung seiner Sprache ist dem Stamm ebenso wichtig das Land, auf dem er lebt.
Für den Erhalt der Sprache und der restlichen Kultur tickt die Uhr unerbittlich, denn die älteren Generationen leben nicht ewig. “Unsere Kultur ist aktuell sehr zerbrechlich”, sagt Covert. “Jedes Mal, wenn wir eine unserer Ältesten verlieren, müssen wir uns fragen: Welche Fragen haben wir ihr nie gestellt, über Dinge, die nirgends niedergeschrieben stehen?”
Die Herausforderungen sind zahlreich, und den Nisenan ist selbst klar, dass die staatliche Anerkennung nicht alle Probleme lösen kann – den Erhalt der Sprache etwa muss nach wie vor eine Priorität der einzelnen Stammesmitglieder bleiben. Dennoch könnte die offizielle Anerkennung eine Art Sicherheitsnetz für den Stamm bilden, meint Covert. Um endlich anerkannt zu werden, wollen die Nisenan Lobby-Arbeit beim Kongress betreiben. Dazu haben sie sich mit der Nonprofit-Organisation California Heritage Indigenous Research Project (CHIRP) zusammengetan. Wenn Stämme wie die Nisenan so weitermachen, erscheinen in der Online-Suche nach indigenen Amerikanern hoffentlich bald weitaus zeitgemäßere Bilder.
“Mein Ziel ist es, vertreten zu sein”, sagt Ramirez. “Ich will mich umblicken und Gesichter wie meines sehen. In meiner utopischen Vision der Zukunft muss ich niemandem mehr erklären, dass es uns noch gibt.”