Es gibt Menschen, denen die Folgen ihres Handelns so wenig bewusst sind wie einem Fisch, der nach dem Wurm am Haken schnappt. Aber Günther ist kein Fisch, sondern studierter Jurist. Er weiß, dass er für sein Hobby vor Gericht landen kann, dass er seinen Job verlieren könnte und ihm eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr droht. Und trotzdem pflanzt er in einem Gewächshaus in seiner Wohnung mitten in Berlin Cannabis an. Niemand weiß, wie viele Leute so wie er illegal hobbygärtnern. Alleine Amazon listet momentan unter dem Suchbegriff “Growzelt” 515 Artikel. Gebildet, beruflich erfolgreich, nicht vorbestraft – und doch stets mit einem Bein im Knast: Es sind Menschen wie Günther, die zeigen, dass selbst jene die deutsche Drogenpolitik nicht mehr akzeptieren, die sich täglich mit Gesetzen beschäftigen.
Der Berliner um die 30 möchte in diesem Text “Günther” heißen, sagt er gleich bei der Begrüßung an einer U-Bahn-Station. Günther war in seinem Freundeskreis früher das Codewort für Gras. Seinen richtigen Namen sollen wir ebenso wenig nennen wie sein genaues Alter. Günther trägt einen dunkelblauen Rollkragenpulli zum schwarzen Mantel – er sieht nicht wie der Typ aus, vor dem Eltern immer gewarnt haben. Bevor er einen in seine Wohnung lassen will, hat er Fragen: Was man schon über Cannabis geschrieben habe und warum man sich für das Thema interessiere. Und ob er den Presseausweis noch mal sehen könne. Dann geht er voraus: “Bitte nicht über das Thema reden, wenn wir im Treppenhaus sind”, sagt er, “meine Mutter vergisst das ganz gerne mal.”
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In der Wohnung merkt man zuerst nichts von dem süßlichen Duft. Erst als Günther die Tür zu einer 6-Quadratmeter-Kammer öffnet, ändert sich das. Ein kastenförmiges Grow-Zelt, etwas größer als eine Telefonzelle, füllt ein Drittel des Raumes. Man könnte darin Tomaten und Gurken ziehen – oder so wie hier Gras der Sorten “Jack Herer”, “Bona Dea” und “Critical Mass”. Über den Dielenboden laufen Bewässerungsschläuche zwischen Kartons mit Fläschchen, und in Kopfhöhe die Rohre der surrenden Belüftungsanlage. In einer Zimmerecke glitzert eine verirrte Discokugel. Daneben hängt eine Grußkarte mit einem Zitat des Comedians George Carlin: “That’s all you need in life, a little place for your stuff.”
Es wirkt wie ein improvisiertes Garagenlabor, aus dem am Ende eines Zombiefilms das rettende Antiserum kommt. Solange Grasanbau illegal ist, ist Ästhetik Nebensache. Für die Zeit nach der Legalisierung hat das israelische Start-up Seedolab bereits eine vollautomatische Grow-Maschine entwickelt, die aussieht wie ein Kühlschrank von Apple. Sie zielt auf tech-affine Menschen, die ihre fair gehandelte Super-Food-Bowl mit Bitcoins bezahlen und so wie Günther auch beim Graskonsum keine Kompromisse eingehen wollen. Schon gar nicht aufgrund von nicht zeitgemäßen Gesetzen. “Ich bin eigentlich nicht besonders zufrieden”, sagt er, bevor er am Zelt den Reißverschluss aufzieht und die Belüftungsanlage einen leichten Wind in den Raum bläst. Der pH-Wert im Boden sei viel zu hoch, die Pflanzen deshalb kleiner als bei seinem ersten Versuch. Er wolle Wachstum und Ertrag der Pflanzen optimieren, sagt er, “aber auf umweltschonende Weise, rein biologisch”. Günther wirkt wie jemand, der sich eigentlich gerne an Regeln hält. Aber sie sollten einem größeren Ganzen dienen oder zumindest von Vernunft getrieben sein. Das Betäubungsmittelgesetz ist das aus seiner Sicht nicht, deswegen sieht er auch keinen Grund, sich an daran zu halten.
Bereits Günthers Großeltern waren Gärtner. Als er ein Kind war, liebte er es, mit seiner Mutter Kartoffeln aus dem Boden zu ziehen oder die Bohnen zu pflücken. “Mein Vater lief mit mir durch den Wald und erklärte alle Pflanzen mit lateinischen und deutschen Namen”, erzählt er. Manchmal, wenn sie mit dem Auto übers Land fuhren, habe der Vater plötzlich “da!” gerufen, dann hielt er an, um Pilze zu sammeln, die am Straßenrand wuchsen. Mit 16 passiert dann das, was Günther heute eine “extreme Erfahrung” nennt.
Hanf-Pflanzen sind wie nützliche Haustiere
“Beim ersten Mal Kiffen haben sich mir ganz neue Welten erschlossen”, sagt er. Nicht nur taub und lustig wie beim Alkohol. Plötzlich habe er anders über sich und das Leben nachgedacht. Und er habe entdeckt, welche unterschiedliche Wirkungen und Gerüche es gebe, wie bei Wein. “Merlot schmeckt anders, je nachdem an welchem Hang und in welcher Erde er gewachsen ist, und so ist es auch bei Cannabis.” Biologie und Bewusstseinserweiterung, für Günther vereint sich da das Beste aus zwei Welten.
“Mich fasziniert, wie alles, was ich hier simuliere, in der Natur automatisch abläuft”, sagt er und schaut in das Grow-Zelt. “Ich habe so eine Art Beziehung zu jeder Pflanze. Jede hat ihren eigenen Wuchs und Geruch.” Fast wie ein Haustier, nur am Ende komme die Schere, sagt Günther und lacht – obwohl die 60 Zentimeter großen Pflanzen nur halb so hoch gewachsen sind wie erhofft.
“Man könnte da einfach mineralische Dünger reinkippen, aber das will ich nicht.” Günther verschränkt die Arme. “Cannabis ist für die Weltbevölkerung nicht so essentiell wie Nahrungsmittel”, deswegen solle man dafür keine mineralischen Dünger verpulvern, die als natürliche Ressource irgendwann zu Ende gehen, die Umwelt belasteten sie außerdem. Er setze lieber auf das, was seine Anlage ökologisch sinnvoller, aber auch effizienter mache. Was er damit meint, wuselt neben ihm in einer schwarzen Kiste.
Günther hebt deren Deckel vorsichtig an. Darunter streiten sich rotbraune Würmer um Salatreste, winden sich über welkes Laub und durch feuchte Erde. Aus ihrem Kompost entstehen Bakterien, deren Abbauprodukte den Pflanzen als Treibstoff dienen. “Wie in der Natur”, sagt Günther über seine stummen Hilfsgärtner. In die Pflanzentöpfe gibt er außerdem einen selbstgebrauten Biodünger. Dessen Zutaten klingen teils, als würde sich Freddy Krueger einen Smoothie mixen: Blutmehl, Knochenmehl und Haarmehl versorgen die Pflanzen mit Stickstoffen, Phosphor und Kalium. Der Biologie-Nerd hat den natürlichen Kreislauf in seinem Zelt mit Technik automatisiert.
Die Bewässerung läuft über eine Zeitschaltuhr und ein verzweigtes Schlauchsystem in die Töpfe. Ein modifizierter Ultraschallzerstäuber steuert die Luftfeuchtigkeit. Für die richtige “Root-Zone-Temperature” hat Günther eine sensorgesteuerte Fußbodenheizung verbaut, gegen die Gerüche einen Kohlefilter. Er erklärt das so sachlich, als wäre das hier die Fließbandanlage einer Pastafabrik. Auf einem Bücherstapel thront ein grauer Kasten von der Größe einer Autobatterie. “Das ist der Controller. Er misst Luftfeuchtigkeit und Temperatur und steuert automatisch die Luftzufuhr.” Die Blatt-Temperatur prüft Günther mit einer Infrarotkamera. Alle Werte landen dann in einer Excel-Tabelle. 4.500 Euro hat der gesamte Aufbau gekostet. “Noch nicht besonders professionell”, sagt Günther.
Heute muss er ernten. Wartet er länger, verändert sich die Wirkstoffkonzentration in den Blüten. Die 600-Watt-Lampe hat er bereits abgebaut. Die künstliche Sonne hatte zusammen mit der restlichen Elektronik nach der ersten Ernte in drei Monaten Strom für 600 Euro gefressen. Es gibt Grower, die wegen des hohen Energieverbrauchs ihrer Anlagen auffliegen. Günther sagt, ihn besorge das nicht: “Andere Leute haben zu Hause eine Sauna, große Aquarien oder ein Homestudio, das zieht auch nicht weniger Strom.” Außerdem gäbe es mittlerweile so viele Gras-Anbauer wie ihn, dass es schwer sei, sie alle zu überwachen. Tatsächlich landen vor allem Großrazzien in den Medien. Im September hatte die Polizei in Brandenburg eine Cannabis-Farm mit 2.000 Sträuchern ausgehoben. Bei Günther stehen zwar nur sechs Pflanzen, aber teilweise die gleichen Materialien wie bei den Profis. Deswegen hat er Vorsichtsmaßnahmen ergriffen – auch wegen unangenehmer Erfahrungen.
Paranoia und unangenehme Besuche beim Zoll
Vor Kurzem, als er eine Lieferung mit Spezialdünger aus den USA erwartete, bekam er eine Einladung vom Zoll. “Jetzt erklären Sie mir mal, wofür das ist”, habe der Beamte gesagt und auf die silbrig schimmernden Plastikverpackungen gezeigt. “Das war schon ein bisschen komisch, aber ich habe ihm dann erzählt, dass ich zu Hause Orchideen züchte”, sagt Günther. “Dann habe ich erklärt, welche Packung speziell für die Wurzeln sind und welche generell Nährstoffe an die Pflanzen abgeben.” Ein anderes Mal, als er einmal nachts durch seine Straße lief, erschrak er: Hinter der Jalousie seiner Wohnung erkannte er die Umrisse von Zelt und Lüftungsrohren. Genug für einen polizeilichen Anfangsverdacht. Seitdem hängt dort ein blickdichter Vorhang.
In Deutschland ermittelt die Polizei gegen Facebook-Nutzer, weil sie ein Foto mit einem Joint gepostet haben und die Drogenbeauftragte verbreitet Fake-News, um ihre Anti-Cannabis-Politik zu stützen. Gleichzeitig forderten schon 2013 über 100 deutsche Strafrechtsprofessoren, die “verfehlte” und “schädliche” Cannabis-Prohibition zu beenden. Selbst André Schulz, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter hält eine “komplette Entkriminalisierung von Cannabis-Konsumenten” für dringend notwendig. Aber solange die sich nicht durchsetzen, wird Günther für sein Hobby weiter seine berufliche Zukunft riskieren.
“Das beschäftigt mich schon”, sagt er. Aber weil er nicht vorbestraft ist, glaube er, dass er mit einer Bewährungsstrafe davonkommen würde, als Rechtsanwalt arbeiten könnte er dann allerdings nicht mehr. “Außerdem achte ich darauf, dass ich keine Waage habe, kleine Tütchen oder irgendwas anderes, das darauf schließen lassen würde, dass ich deale.” Auch eine Waffe suche man in seiner Wohnung vergeblich. Denn selbst wenn Polizisten auch nur ein Pfefferspray neben seinem Grasvorrat finden würden, könnte man ihm das als bewaffneten Handel mit Betäubungsmitteln auslegen. Und darauf stehen mindestens fünf Jahre Gefängnis.
Die 500 Gramm seiner ersten Ernte hat Günther trotzdem teilweise an Freunde und Freunde von Freunden verkauft. Das würde er jetzt aber nicht mehr machen: “Irgendwann bekam ich mit, dass ich im erweiterten Bekanntenkreis als ‘der Dealer’ galt. Aber so möchte ich nicht wahrgenommen werden.” Mit Dealern verbindet er nichts Gutes.
Beim ersten Mal, als er bei einem Dealer Gras kaufen wollte und einen ansprach, kam ein weiterer und nahm ihn in den Schwitzkasten. “Du kaufst nicht bei dem, du kaufst bei mir”, habe der betrunkene Mann gesagt. Auf solche unangenehmen Situationen hat Günther keine Lust – genauso wenig wie auf die oft schlechte Straßenqualität. “Wenn ich es selber mache, weiß ich, was drin ist und welche Wirkung es hat. Deswegen und wegen meiner Leidenschaft für die Pflanzenzucht gehe ich das Risiko ein.” Sein biologisch einwandfreies Cannabis legt Günther jetzt unter ein Mikroskop auf dem Wohnzimmertisch. Darin sieht man die Trichome. Der Zustand der pilzförmigen Auswüchse zeigt den Reifegrad an. Erscheinen sie nicht mehr klar und durchsichtig, sondern milchig, ist es Zeit zu ernten. Dann ist der Wirkstoffgehalt am höchsten. “Das ist doch wirklich cool!”, sagt er.
Die sechs Pflanzen, die er jetzt abschneidet und eine Woche trocknen wird, enthalten besonders viel CBD und weniger vom psychoaktiven THC: “Kein Partygras.” Die Sorte davor habe ihn zu sehr aufgeputscht, bis zur Dauernervosität. “Ich bin damals jeden Morgen mit Angstzuständen aufgewacht.” Nach dieser Erfahrung hörte Günther vier Monate lang ganz mit dem Kiffen auf. Jetzt kiffe er höchstens noch alle zwei Wochen. “Mehr wäre mit meinem Job als Jurist auch gar nicht vereinbar”, sagt Günther im Wohnzimmer seiner Wohnung. In den Ecken stecken noch dicke Haken, an denen früher mal eine Hängematte hing. Jetzt stehen dort eine Ledercouch und eine Chaiselongue von Le Corbusier.
Günther lässt sich auf die Couch fallen und sagt: “Gras sollte nicht einfach ohne Regeln legal sein. Es kann dazu führen, dass man sein Leben nicht auf die Reihe bekommt.” Mit vernünftigen Gesetzen könne man den Konsum regulieren. Wenn es so weit ist, würde Günther für einen Job mit Gras vielleicht sogar seinen Beruf als Jurist aufgeben.
Er kann sich vorstellen, einen kleinen Coffeeshop zu eröffnen, in dem er sein eigenes selbst produziertes Gras verkauft: “Wie ein kleines Weingut.” Aber bis dieser Traum Wirklichkeit wird, hat er sich erst mal nebenbei für den Studienplatz Gartenbauwissenschaften eingeschrieben. “Das ist das, was ich liebe, wofür ich bis spät nachts hier sitze und lese”, sagt Günther. Bei Jura habe er das noch nie freiwillig gemacht.
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