Es gibt diese Schokoriegel-Werbung, in der ein alter amerikanischer Ureinwohner zum Sterben auf einen Berggipfel steigt. Doch ein Biss in den Riegel erinnert ihn daran, wie geil das Leben doch eigentlich ist. Werner Doblies, ein pensionierter Lehrer und ehemaliger Direktkandidat der Linken aus Berlin, hatte weder vor, im vietnamesischen Urwald zu sterben, noch brauchte er ein zuckerhaltiges Kalorienbrikett, um wieder herauszufinden. Stattdessen hatte er einfach verdammt viel Glück.
Am 16. November besuchte der 79-Jährige mit drei Reisebegleiterinnen die vietnamesische Insel Cát Bà und begab sich auf eine Wanderung durch den Regenwald. Kurz darauf war er verschwunden – und tauchte erst wieder auf, nachdem die vietnamesischen Behörden eine Suchaktion gestartet hatten. Wir riefen Doblies in der vietnamesischen Stadt Đà Nẵng an, um ihn zu fragen, wie das alles passieren konnte.
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VICE: Wie konnten Sie im vietnamesischen Dschungel verloren gehen?
Werner Doblies: Ich bin seit einem Vierteljahr in Vietnam, zusammen mit drei Begleiterinnen. Ich wollte eine abgelegene Gegend im Nationalpark auf Cát Bà besuchen, einer Insel in der Halong-Bucht. Eine meiner Begleiterinnen ging bis zum Eingang des Nationalparks mit und kehrte dann um. Dort ging es eine steile Treppe hoch zu einer Höhle, in der sich zu Kriegszeiten ein Militärhospital befand. Ansonsten wusste ich nicht, was mich dort oben erwartet. Ich fand einen verwachsenen Trampelpfad und ging alleine in den Wald. Es war schönes Wetter, es war warm, ich sah viele Schmetterlinge und andere Tiere. Ich war vor zwei Jahren schon mal dort und glaubte, bald einen Rückweg zu finden. Doch dann kam ich in bergige Gegenden.
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Wann war der Moment, in dem Sie nicht mehr weiterkamen?
Gegen halb sechs Uhr ging plötzlich die Sonne unter. Das dauert in den Tropen nicht mal eine halbe Stunde. Ich war auf einen Felsen geklettert und wollte zurück. Aber ich sah keinen Weg mehr, nur noch Gestrüpp.
Was haben Sie dann gemacht?
Es blieb mir nichts übrig, als auszuharren. Ich konnte nur noch tasten und musste etwas zum Sitzen finden. Es war stockfinster. Nicht mal meine Kleidung konnte ich erkennen. Ich hatte Glück, dass es da keine Ameisen gab.
Was ging Ihnen durch den Kopf?
Ich dachte nur: ‘Das wird wohl eine lange Zeit hier.’ Und: ‘Wie steh’ ich die zwölf Stunden bis zum Sonnenaufgang durch, ohne einzuschlafen?’ Ich saß auf einer steilen Felskante. Die Beine konnte ich ausstrecken, aber es war schon ein merkwürdiges Gefühl, überhaupt nichts zu sehen. Nur ab und zu schwirrten Leuchtkäfer um mich herum. Ich hörte Rufe von Tieren und manchmal raschelte es. Ich schlug mit einem Stock gegen den Boden, um Schlangen oder Affen zu vertreiben – auch wenn ich außer Schweinen dort keine Tiere gesehen habe. Gleichzeitig dachte ich daran, was meine Begleiterinnen wohl tun, wenn ich nicht ins Hotel zurückkomme. Werden sie mich mit Helikopter und Wärmebildkameras suchen lassen? Aber das hielt ich für unwahrscheinlich.
Menschen in Ihrer Situation suchen oft auf eigene Faust einen Ausweg. Experten raten, auf Hilfe zu warten. Woher wussten Sie, was zu tun ist?
Ich habe nicht versucht, einen Weg zu finden, weil es schon bei Tageslicht schwierig war. Gerade wenn ich über Felsplatten lief, war oft gar kein Trampelpfad erkennbar.
Waren Sie das erste Mal im Regenwald?
Nein, ich war davor schon in Vietnam alleine im Regenwald, aber auch in Costa Rica und Argentinien. In Costa Rica habe ich mal 45 Minuten lang eine Schlange gefilmt, aus eineinhalb Metern Entfernung. Ich wusste nicht, dass das eine Lanzenotter ist. Ich hatte noch das Laub ihres Verstecks hochgehoben, um sie zu filmen. Als ich einem Parkranger das Videomaterial später zeigte, meinte er, dass diese Schlange hochgefährlich sei. Ohne Gegengift müsste man nach einem Biss das entsprechende Körperteil innerhalb von zehn Minuten amputieren.
Zurück nach Vietnam: Wie wurden Sie gerettet?
Es war fast Mitternacht, da hörte ich Rufe und antwortete. Dann kamen fünf Leute durch den Wald. Die Polizei war ganz stolz darauf, dass sie mich gefunden hatte. Sie wollten gleich ein paar Fotos machen. Sie sagten, so etwas sei in ihrem Nationalpark noch nie passiert. Ich wollte den Polizisten zum Dank Geld geben, aber sie sagten, es sei ihre Pflicht gewesen, zu helfen, sie lehnten ab.
Wie ging es Ihnen da?
Es ging mir nicht schlecht. Wir wanderten gemeinsam zurück. Sie machten zwar ab und zu Pause, aber es war eigentlich kein Problem. Ich hatte keine Angst und hätte auch die sechs Stunden bis zum Sonnenaufgang durchhalten können. Problematisch wäre es nur gewesen, wenn ich eingeschlafen wäre, weil ich ja auf einer Felskante saß. Eigentlich wärs auch mal ein Abenteuer, eine ganze Nacht da zu verbringen. Aber dann hätten sich meine Reisebegleiterinnen noch mehr Sorgen gemacht, und das wollte ich natürlich nicht.
Gab es nach Ihrer Rettung wenigstens Ärger von Ihren Begleiterinnen?
Nein, ganz im Gegenteil. Sie haben mich unter Tränen umarmt und waren erleichtert, dass ich wieder da war. Sie hatten sich große Sorgen gemacht.
Es wirkt schon ein bisschen, als ob sie das Abenteuer suchen.
Na ja … es muss kein Abenteuer sein, ich wollte einfach beobachten, was da im Wald vor sich ging. Ich hielt auch nach Schlangen Ausschau, habe aber leider keine gesehen.
Wie sah es mit Ihren Wasservorräten aus?
Ich hatte einen halben Liter Apfelsaft dabei und habe immer nur wenige Schlucke genommen, damit es zwölf Stunden reicht.
Was können andere Leute aus ihrer Geschichte lernen?
Sie sollten sich spätestens zwei Stunden vor Sonnenuntergang auf den Rückweg machen. Ab halb fünf stand die Sonne schon so tief, dass ich im Schatten der Bäume ging. Ich suchte aber weiter und das war leichtsinnig.
Warum tun Sie sich mit 79 Jahren so was an?
Bis 2003 war ich Lehrer für Mathe und Physik in Berlin. Ich hatte die Tage bis zu meiner Pensionierung gezählt. Ein Schüler spottete damals, er verstehe nicht, wie man sich darauf freuen könne, den ganzen Tag nur vorm Fernseher zu sitzen. Ich habe aber schon im ersten Jahr von Oktober bis April eine Reise nach Australien gemacht. Und seitdem bin ich jedes Jahr sechs Monate irgendwo in der Welt unterwegs und genieße meinen Ablebe-Urlaub.
Ihren was?
Na ja, die Leute fragen immer, wie lange ich Urlaub habe. Für Berufstätige ist das ja auf vielleicht vier Wochen begrenzt. Aber bei mir ist das nur durch den Tod begrenzt. Deswegen Ablebe-Urlaub. Mal sehen, wie lange ich das durchhalte.
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