Dieser Ex-Türsteher verteidigt das meistgehasste Restaurant Zürichs

Dieser Artikel stammt aus unserer Redaktion in Zürich.

Früher hat V. für Sicherheit in den Clubs der Langstrasse gesorgt, heute kümmert er sich dort um das Buffet. Als Türsteher hat er sich damals den ein oder anderen Besucher zum Feind gemacht, heute könnten Leute ihm ankreiden, dass er vegetarisches und veganes Essen lecker anrichtet. Denn er arbeitet im meistgehassten Restaurant der Langstrasse, dem Hiltl.

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Zehn Jahre war er Security und Türsteher. Die Auseinandersetzungen seien immer gefährlicher geworden, der Rückhalt aus den eigenen Reihen dafür stets weniger: “Am Ende deiner Schicht bist du oft entweder mit einem Bein im Krankenhaus oder mit einem Bein im Knast.” Er wollte weg von der Türe, weg vom Nachtleben, das sich in den letzten fünf Jahren an der Langstrasse stark verändert hat. Vom ehemaligen Rotlichtviertel sind nur wenige Prostituierte geblieben, aus den meisten Stripschuppen wurden Restaurants. Aber das Milieu bleibt, sagt V., “das kriegst du nie hier weg”. Es habe sich bloss etwas verschoben, einige hundert Meter weiter hoch Richtung Helvetiaplatz würde sich eine neue Drogenszene etablieren, heisse es auf der Strasse.


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Der Schuldige für die Veränderungen in der Strasse ist schnell gefunden: Gentrifizierung. Als die Stadt Zürich 2001 das Aufwertungsprojekt “Langstrasse PLUS” ins Leben rief, dauerte es nicht lange, bis die ersten Häuser abgerissen und aus Wohnungen für Arbeitende und Studierende Luxushütten wurden, die sich keiner der üblichen Langstrassenbewohner mehr leisten kann. Und so wurde auch das Perla Mode – ein Freiraum für Künstlerinnen, der sieben Jahre in einem ehemaligen jüdischen Textilgeschäft existieren konnte – abgerissen und ein Neubau errichtet, in den das Hiltl Restaurant zog. Kunst muss ausziehen, Kapitalismus zieht ein – wie in so vielen europäischen Grossstädten, wo die Gentrifizierung Alteingessene verdrängt.

Hier arbeitet V. nun, bereitet unten in der Küche vegetarische Cevapcici, veganen Chiapudding oder mit Frischkäse gefüllte Jalapeños zu, oben im Restaurant gibt er Gästen Auskunft über die Zutaten. Er mag seinen Job. Am Ende einer Schicht ist er müde – aber glücklich, sagt er. Diesem Restaurant, dem manche den Konkurs wünschen, sei er sehr dankbar. “Sie geben mir nicht nur meinen Lohn, sondern auch neue Lebensqualität.”

Noch bevor das Vegi-Restaurant seine Niederlassung an der Langstrasse im September 2017 eröffnete, war der Aufschrei gross. Farbanschläge auf die Fassade und Proteste während der grossen Eröffnung des eigenen Clubs Perle im Untergeschoss waren nur ein Teil des Unmuts, der über das neue Hiltl hereinbrach. Der Neubau mit dem goldenen Dach wird seit seinem Einzug von manchen als Zeichen der fortschreitenden Gentrifizierung entlang der Langstrasse betrachtet.

Alle Fotos: Tom Huber

Dass die neueste Filiale des ältesten vegetarischen Restaurants der Welt somit gleichzeitig auch als die meistgehasste Filiale der Hiltl-Geschichte gilt, kann V. nicht nachvollziehen. “Ich finde es falsch, wie das Hiltl an der Langstrasse angefeindet wird. Wir tun ja sehr viel Gutes”, sagt V. Er erzählt vom “Fenster mit Herz”, einer Essensausgabestelle in der Filiale, bei der sozial benachteiligte Menschen täglich Gerichte abholen können, die das Hiltl nicht mehr verkaufen kann. Es gebe auch jährlich ein Weihnachtsessen für Obdachlose, davon abgesehen engagiere sich das Hiltl in Hilfsorganisationen wie der Stiftung Pfarrer Sieber oder der Schweizer Tafel. “Darüber redet nie jemand.”

Dass das Hiltl, das bei vielen als Yuppie-Hochburg und teure Luxus-Institution gilt, überhaupt eine Filiale an der Langstrasse eröffnet, erklärt die Geschäftsführerin der Location, Elenor Zingg, so: “Wir fanden es einfach eine schöne Idee, das Hiltl auch mal in einem anderen Stadtkreis zu etablieren. Zumal die bisherigen Restaurants oft voll sind und wir auch den Menschen im Kreis 4 unsere hausgemachten Spezialitäten bieten wollten.” Und sie stellt ein Missverständnis klar: Das neue Haus sei nicht von Hiltl gebaut worden, man sei hier bloss Mieter, so Zingg: “Jeder, der glaubt, das Hiltl selbst hätte dieses Gebäude abgerissen, neu aufgebaut und sich hier eingenistet, um andere Leute zu vertreiben, liegt schlicht falsch.”

“Wäre das Hiltl nicht hier eingezogen, wäre halt irgend ein anderes Lokal oder ein Grossverteiler gekommen, die sich die Miete leisten können”, meint V. “Dann lieber so ein Restaurant, das etwas für Umwelt und Menschen tut, als zum Beispiel eine anonyme Kette, die Fastfood anbietet.” Genau gegenüber der Hiltl-Filiale befindet sich eine Chickeria, ein Take-Away für Geflügelsandwiches. Es ist eine von vielen Take-Away-Filialen entlang der Langstrasse. Diese wird betrieben von Migros, einer der beiden grössten Supermarkt-Ketten der Schweiz. Einen Protest oder Farbanschlag wie beim Hiltl gab es bei der Eröffnung der Chickeria aber nicht.

Das sei schon komisch, meint V. Gegen die Aufwertung des Viertels hat er grundsätzlich nichts einzuwenden: “Ich glaube nicht, dass die Langstrasse gentrifiziert wird, um Prostituierte und Drogendealer zu vertreiben.” Seiner Meinung nach liege es daran, dass es einfach dringend nötig war, gewisse Häuser an der Langstrasse zu sanieren. “Dass die Immobilienbranche dann aber so hohe Mieten festlegt, ohne dass jemand etwas dagegen tun kann, finde ich nicht gut.” Auch sein Wohnhaus, direkt im berüchtigten Bermudadreieck an der Piazza Cella gelegen, wird irgendwann saniert werden. Er ist sich bewusst, dass auch er sich die Miete dann nicht mehr leisten können wird. Aber er versucht es pragmatisch zu sehen: “Ändern lässt sich das jetzt auch nicht mehr. Also rege ich mich auch nicht darüber auf. Ich nehme es so, wie es kommt.”

Dass mit dem Abbruch des Hauses und dem Einzug des Hiltls ein wichtiger Freiraum für Kultur verloren ging, stört ihn persönlich nicht. Jeden Tag ist er auf dem Weg zu seinem Security-Job daran vorbeigelaufen. “Früher habe ich dieses Gebäude gemieden. Es war mir zu seltsam hier, viele Hippies und Linksautonome, das hat mich nie interessiert.” Er habe auch mal direkt gegenüber gewohnt, die Partys seien ihm meistens zu laut gewesen.

Nach dem Abriss fielen ihm statt linker Kunst dann die Plakate an der neu aufgebauten Hauswand ins Auge. “Eines Nachts bin ich von meiner Arbeit nach Hause gegangen und habe die Aufschrift ‘Wir suchen Mitarbeiter, die künftig lieber mit Gemüse, als mit Gras dealen’ gelesen.” Schon am nächsten Tag habe er eine Bewerbung abgeschickt, “obwohl ich kein Grasdealer bin”, sagt V. und lacht.

Für die Werbekampagne “Benachteiligte bevorzugt”, mit der das Hiltl Prostituierte, Drogendealer und Langzeitarbeitslose für einen Job in der Langstrassen-Filiale begeistern wollte, gewann die Agentur mittlerweile Gold beim Swiss Poster Award. Die Aktion habe ihren Zweck mehr als erfüllt, so Inhaber Rolf Hiltl. Zehn Menschen mit “schwierigem Hintergrund” seien in den Hiltl-Betrieben eingestellt worden, wie er gegenüber MUNCHIES in einer Mail schreibt.

Für V. war diese Aktion ein Startschuss für sein neues Leben. Dass er nicht mehr nachts bei sexuellen Übergriffen auf weibliche Gäste und Prügeleien zwischen angetrunkenen Feiernden für die Sicherheit sorgen muss, freut ihn sichtlich. An seinem alten Job als Security vermisst er nicht viel: “Verschlechtert hat sich ganz klar der Lohn. Aber dafür gehts mir persönlich viel besser.”

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