Obwohl weltweit bereits 47,5 Millionen Menschen an Demenz leiden und jährlich 7,7 Millionen Neuerkrankungen hinzukommen, ist es Wissenschaftlern und Ärzten bisher nicht gelungen, ein wirksames Heilmittel gegen die Krankheit zu finden. Dabei sind die Folgen für Betroffene und deren Angehörige katastrophal: Durch die Zerstörung von Nervenzellen im Gehirn kommt es zu Erinnerungsverlust, Orientierungslosigkeit und gravierenden Persönlichkeitsveränderungen.
Wer erkrankt ist und Glück hat, nähert sich nach und nach dem geistigen Zustand eines Kleinkindes an, freut sich über Süßigkeiten und körperliche Zuneigung, ohne jedoch zu wissen, wer sich da wohlwollend und besorgt um einen kümmert. Wer Pech hat, verliert jeden Bezug zur Außenwelt und betrachtet fortan engste Freunde und Verwandte als Feinde, die einem ständig Lügen auftischen oder einen sogar körperlich angreifen wollen. So oder so: Die fortgeschrittene Demenz—insbesondere deren häufigste Form, die Alzheimer-Erkrankung—führt früher oder später in die Isolation. Erst der Tod bereitet einem solchen Leben in ständiger Verwirrung ein Ende.
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Wenn 100.000 Menschen nur zwei Minuten lang spielen, kämen dabei Ergebnisse heraus, für die herkömmliche Forschungsmethoden 50 Jahre benötigen würden.
Trotz intensiver Forschung kann die Medizin bisher nur den geistigen Verfall ein wenig hinauszuzögern—von einer Heilung der Krankheit, die in einer alternden Gesellschaft immer mehr Menschen betrifft, ist die Wissenschaft noch weit entfernt. Das liegt unter anderem an dem vergleichsweise geringem Unfang an wissenschaftlichen Daten, die bis heute über das menschliche Gehirn gesammelt werden konnten.
Eine ungewöhnliche Allianz aus Universitäten, Alzheimerforschern, einem englischen Spiele-Entwickler und der Deutschen Telekom will unter dem Motto Game for Good hier nun Abhilfe schaffen—und Videospieler zu wissenschaftlichen Mitarbeitern machen. Vorgestellt wurde das Spiel Anfang Mai auf der re:publica in Berlin auf einem Panel mit Wissenschaftlern, Spiele-Entwicklern und Vertretern der Deutschen Telekom, die das Projekt maßgeblich mit finanzieren.
In dem kostenlosen Mobile Game Sea Hero Quest, das sowohl für Apple-Geräte als auch für Android erhältlich ist, steuert man einen jungen Seemann über die Weltmeere. Seine Aufgabe: die verloren gegangenen Erinnerungen seines an Alzheimer erkrankten Vaters wieder einsammeln. Die Herausforderung des Spiels besteht darin, sich mithilfe einer Seekarte zu orientieren und mit dem Fischerboot Level für Level eine vorgeschriebenen Route zurückzulegen. Unterwegs gilt es, Riesenkraken, leuchtende Quallen und Mantarochen zu sichten und ins Seetagebuch einzutragen. Was das alles mit Hirnforschung zu tun hat? Erstaunlich viel.
„Sea Hero Quest ist kein diagnostisches Werkzeug, kein Test für eine mögliche Demenzerkrankung”, erklärt Prof. Dr. Stephan Brandt, Neurologe an der Berliner Charité und wissenschaftlicher Berater von Game for Good. „Das Spiel soll vielmehr Spaß machen und gleichzeitig Daten für die Wissenschaft generieren.” Zweimal pro Sekunde speichert das Spiel Informationen über den zurückgelegten Weg des Spielers und sendet nach jeder Gaming-Session Daten über dessen Navigationsverhalten an einen Forschungsserver. Auf diese Weise soll innerhalb kurzer Zeit die weltweit größte Crowd-Sourced-Datenbank über das menschliche Orientierungsvermögen entstehen. Solche im großen Stil eingesammelten Normdaten sind wichtig, um später einmal normale von auffälligen Gehirnleistungen abgrenzen zu können und die Früherkennung von Demenzerkrankungen zu erleichtern.
Sea Hero Quest steht damit in der Tradition von Games und anderen Software-Projekten, die es ebenfalls ermöglichen, die heimische Rechenleistung in den Dienst der medizinischen Forschung zu stellen. Das an der Universität Washington entstandene Game foldit und der Screensaver Folding@home der Universität Stanford etwa leisten seit Jahren einen wichtigen Beitrag dazu, die Faltung von Proteinen zu untersuchen, was unter anderem für die Erforschung von Krebsursachen von Bedeutung ist. Allein die mittlerweile eingestellte Version von Folding@home für die Playstation 3 wurde von einer Million Menschen installiert. Mit dem Browsergame EyeWire wiederum kartographieren Gamer das menschliche Gehirn, und mit dem Puzzler Phylo kann man spielend dabei helfen, DNA-Sequenzen zu optimieren.
Wie all diese Projekte setzt auch Sea Hero Quest in erster Linie auf Quantität. Tausende Smartphones und Tablets sollen nach Plan der Entwickler Teil eines riesigen Forschungsnetzwerks werden. In einer bisherigen Studie, die unter klassischen Laborbedingungen stattfand, konnten maximal 599 Probanden auf ihr Orientierungsvermögen hin getestet werden. „Durch die Masse der Teilnehmer wird es nun eher möglich sein, alters- und geschlechterübergreifende Normdaten abzugreifen”, so Dr. Brandt. „Raus aus dem Untersuchungslabor, hinein in die Alltagswelt—das ist eine Formel, mit der man Sea Hero Quest im Vergleich zu bisherigen Studien charakterisieren kann.”
Während Laborversuche viel Geld kosten und mit ungleich mehr Aufwand verbunden sind, kann man nun dank eines Mobile Games ein wenig Freizeit dazu verwenden, die Demenzforschung voranzubringen. Wenn insgesamt 100.000 Menschen das Spiel nur zwei Minuten lang spielen—so hat man bei Game for Good ausgerechnet—kämen dabei Ergebnisse heraus, für die herkömmliche Forschungsmethoden 50 Jahre benötigen würden.