Menschen

Dinge, die du erst lernst, wenn deine beiden Eltern tot sind

Auf dem Foto: Joel und seine Mutter.

Ja, meine beiden Eltern sind ziemlich tot. Als mein Vater starb, war ich 15 und bekam sechs Wochen schulfrei. Letztes Jahr ist meine Mutter gestorben, und ich habe von der Arbeit zwei Wochen frei bekommen. Zwei Wochen! Bezahlter Urlaub! Zusätzlich zu meinen normalen Urlaubstagen! Wäre mein letzter verbliebener Elternteil nicht gerade unter halb-tragischen Umständen ums Leben gekommen, hätte ich mir gedacht, ich hätte den Jackpot gewonnen.

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Stattdessen habe ich zwei Wochen damit verbracht, Bestattungsunternehmern die Hand zu schütteln und aufs Amt zu gehen, um Formulare auszufüllen. Denn was man tun muss, wenn man beide Eltern verloren hat, erklärt einem vorher: niemand. Niemand bereitet einen darauf vor. Dabei gibt es viel, um das man sich kümmern muss. Zum Beispiel: Wie viel sollte man für das Geschenk ausgeben, das man dem Nachbarn gibt, der schon seit Tagen mit seltsam leeren Augen durch die Gegend läuft, weil er die Leiche deiner Mutter gefunden hat? Antwort: Ich weiß es nicht. Ich habe einen 50-Pfund-Bier-Präsentkorb geschickt. Ist das angemessen? Ist das zuviel? Ich weiß es nicht, und sonst weiß es auch niemand.

Also, hier sind ein paar Dinge, die ich in meinem ersten Jahr als Vollwaise gelernt habe:

SICH DIE LEICHEN DER MENSCHEN ANZUSCHAUEN, DIE DICH GEMACHT HABEN, IST ZIEMLICH EIGENARTIG
Bestattungsunternehmer müssen sich mit viel Zeug beschäftigen: Flüssigkeiten. Körperöffnungen. Durch achtseitige Broschüren mit traurigen Blumenarrangements blättern und so tun, als hätte das irgendeine Bedeutung. Aber am schwierigsten fällt es ihnen anscheinend, die Leichen deiner Eltern aussehen zu lassen wie deine echten Eltern.

Natürlich sehen tote Menschen ziemlich anders aus als lebendige Menschen. Das hat mit Biologie zu tun. Aber warum muss ich eine lange Unterhaltung über die Frisur meines Vaters führen („Er hat sich so einmal im Jahrzehnt mit einem nassen Kamm gekämmt?”) oder dem Typen eine Gefriertüte mit dem Original-Makeup meiner Mutter geben, wenn sie die beiden am Ende trotzdem einfach so lange mit Rouge und Schminke bearbeiten, bis sie aussehen wie die verunglückten Teilnehmer eines besonders harten Drag-Tanzwettbewerbs?

Spielzeug aus Joels Jugend, als seine Eltern noch nicht tot waren
Illustrationen: James Burgess

DU HAST EINE MENGE ZEUG, DASS DU NICHT BRAUCHST

MAN BEKOMMT VIEL WENIGER DRINKS AUSGEGEBEN, ALS MAN GLAUBT, WENN MAN LEUTEN ERZÄHLT, DASS MAN VOLLWAISE IST
Mir wurden so um die zwei Drinks ausgegeben, weil meine Eltern gestorben sind. Ich bekomme schon mehr, wenn ich für Kollegen Mittagessen holen gehe.

GEBURTSTAGE SIND ANDERS
Man bekommt viel weniger Zeug geschenkt.

OSTERN IST ANDERS
Ich musste mir dieses Jahr meine Überraschungseier selbst kaufen.

WEIHNACHTEN IST ANDERS
ICH MUSSTE MEINEN TRUTHAHN SELBST BACKEN.

DEINE ELTERN HATTEN DUNKLE GEHEIMNISSE
Ich hatte meinen Vater immer ganz gern gehabt, bis ich vor Kurzem—12 Jahre nach seinem Tod—herausfand, dass er unseren Hund umgebracht hat. Um das zu verdeutlichen: Er hat sie sich nicht plötzlich geschnappt und sie mit seinen bloßen Händen erwürgt. Sondern er musste ihr leise ein Kissen aufs Gesicht legen und zudrücken, weil er sich den Tierarzt nicht leisten konnte und sie sowieso bald gestorben wäre. Ich hatte vorher immer recht angenehme Erinnerungen an meinen Vater gehabt. Jetzt kann ich nur noch daran denken, wie er leise weinend auf einem Kissen kniet, während Suzie sich unter ihm aufbäumt. Welches Sofakissen hat er benutzt, um unseren Hund zu ersticken? Warum hat er mir erzählt, dass sie friedlich gegangen ist? Wen hat er noch umgebracht?
So viele Fragen. So viele Fragen, die mich verfolgen werden.

Joels Vater

MAN WIRD ASCHE NUR SCHWER LOS
Wir hatten vergessen, dass unser Vater noch bei uns war, bis wir eine Tupperware-Dose mit seinen staubigen Überresten hinten im Schrank meiner Schwester fanden. Also zog die Familie los, um sie an einem irgendwie vage wichtigen Ort zu verstreuen. Falls ihr das vorhabt: Fragt eure Eltern jetzt, wo sie gerne verstreut werden würden. (Jeder hat eine Meinung dazu, wo Asche verstreut werden sollten, und sie sind alle falsch. Wir mussten uns am Ende mit Doodle auf einen Ort einigen.) Außerdem: wenn ihr euch auf einen Golfplatz bei Wolverhampton schleicht, weil die Familie per Abstimmung entschieden hat, dass das zumindest der angemessenste Ort ist, der uns eingefallen ist, tut es nicht an einem grauen, windigen Sonntagnachmittag, weil ihr Vater auf eure Hose bekommen werdet.

DIE MUSIK FÜR DIE BEERDIGUNG AUSZUSUCHEN WIRD EINE WOCHE DAUERN
Als meine Mutter starb, besaß sie ungefähr 10 CDs: Lou Begas „Mambo No. 5″ (als Single), Tom Jones „Reload”, einen Haufen Müll von U2 und die Platte „Jiggerypipery” von Jiggerypipery. Falls ihr euch fragt, wer Jiggerypipery ist: sie spielen eine hippe Neu-Interpretation von Dudelsackmusik, und sie sind so schlecht, dass sie einem den Appetit verderben, wenn man sie beim Kochen hört. Von meinem Vater muss ich wiederum annehmen, dass er 1977 Rumours gehört und sich gedacht hat, „So, das reicht mir. Genug Musik für mich. Ich bin voll.” Weil Eric Clapton: Greatest Hits und das die einzigen beiden Kassetten waren, die er je im Auto hatte, als ich klein war. Es waren auch die einzigen im Haus, als man ihn neben dem Klo zusammengebrochen fand, tot wie nur was.

„Ich glaube, er mochte … Miles Davis?” Wir haben Miles Davis gespielt.

„Ich glaube … sie mochte ,Ass in the Graveyard’ von Jiggerypipery?” Wir haben ,Ass in the Graveyard’ von Jiggerypipery nicht gespielt. Könnt ihr euch vorstellen, was ein Saal voller Trauergäste sagen würde, wenn du ein Dudelsack-Solo spielst, während deine Mutter langsam in ein feuriges Inferno gerollt wird? Könnt ihr euch vorstellen, auf einer Beerdigung zu stehen und hinter eurer Sonnebrille zu weinen, während jemand Jiggery-scheiß-pipery aufdreht? Sie würden gemeine Dinge sagen. Sowas wie „Weißt du was? Vielleicht ist es gut, dass sie weg ist.” Oder sowas wie „Ich glaube, ich schaffe es doch nicht zum Empfang. Ja, ich weiß, dass ihr 375 Euro für Pastete ausgegeben habt. Nein. Ja, ich kann nicht kommen, weil du mir gerade ein Dudelsacksolo um die Ohren geknallt hast.” Und du würdest es verstehen. Also haben wir stattdessen—und das ist kein Witz—Musik von dem südafrikanischen Apartheid-Musical Sarafina! gespielt. Das Verhältnis Beerdigung/Empfang war ein solides 60/40, und damit hatten wir noch Glück.

DU WIRST ZUNEHMEN
Wenn die letzte Person auf der Welt, die dir „Faschiertes ist keine Mahlzeit” eingebläut hat, im Juli 2013 an Leberkrebs stirbt, dann merkst du, dass du ohne diese sanften Ermahnungen sehr schnell bei ein paar Kilo mehr im Jahr landest.

SCHMERZEN IN DER LEBER LÖSEN TODESANGST AUS
Meine Mutter ist an Leberkrebs gestorben. Nach jahrelangem Missbrauch in Form von Cider hat sich dasselbe Organ in meinem Vater aufgelöst wie eine Rolle Klopapier in der Badewanne. Ich habe also Grund zu der Behauptung, dass die Leber nicht gerade mein Freund ist. Cooles Spiel für zuhause: Spür einen stechenden Schmerz im Bauch, nachdem deine beiden Eltern sich wie George Best verabschiedet haben, und versuch dann, nicht akute Todesangst zu haben.

Illustration: Joel malt eine Wohnung aus, nachdem seine Eltern verstorben sind

HÄUSER VERFALLEN
Seit sechs Monaten gibt es im Haus meiner Mutter kein warmes Wasser, und niemand weiß, warum. Und wo kommt überhaupt Staub her? Der ist überall. Und aus dem Keller kommt ein Geruch, über den niemand spricht. Ist das der Geruch von „Tod”?

DAS WICHTIGSTE WERKZEUG BEIM RENOVIEREN IST KREPP
Wenn du das Haus deiner toten Mutter neu streichst—du wirst das Haus deiner toten Mutter streichen müssen, weil du niemandem ein Haus mit einer pinken Küche und einem angedeuteten Braunton in der Diele und einem orangenen Esszimmer verkaufen kannst—bekommst du jetzt einen Tipp von mir: kleb Kreppband über jede Abdeckung, jeden Stecker und jeden Lichtschalter. Magnolia-Rot bekommt man von diesen Dingen nur extrem schwer wieder ab.

DU WIRST DINGE VERMISSEN, VON DENEN DU ES NIE GEGLAUBT HÄTTEST
Als ich ein Kind war, luden wir jeden Sommer den Kofferraum mit Feriensachen voll und fuhren an irgendeinen grauen, englischen Strand. Und mein Vater bekam ausnahmslos jedes Mal ein paar Stunden vor der Fahrt extremen Durchfall. Ich werde nie wieder meiner Mutter dabei zusehen können, wie sie durch die Klotür schreit, bis mein Vater endlich—schwitzend und Febreze sprühend—herauskommt. Ich werde nie wieder Tee für meine Mutter machen müssen, die am Küchentisch sitzt, raucht und wütend Kreuzworträtsel ausfüllt, während mein Vater die große Schublade nach Imodium durchkramt. Ich werde nie wieder in ein Klo gehen müssen, in dem es so stark nach nervösem Urlaubsdurchfall riecht, dass einem die Augen tränen. Komisch, was man so vermisst.

DU BIST JETZT ERWACHSEN
Obwohl ich das Gesicht eines Kindes, den Verstand eines Kindes und den Körper eines riesigen, and den Rändern schwabbeligen Kindes habe, bin ich jetzt jetzt formal gesehen erwachsen. Ich besitze ein Haus. Ich bin der letzte wahre Erbe der Golby-Blutlinie. Ich bin zu zwei (zwei!) richtigen Treffen mit der Bank gegangen.

„Also, lassen Sie mich das noch mal zusammenfassen”, sagt der Bankmanager. „Ihre beiden Eltern sind tot?”

„Ja.”

„Beide?”

„Ja.”

„Sind sie beide gleichzeitig gestorben, oder—?”

„Nein.”

„Es ist nur—nehmen Sie es mir nicht übel—Sie sind ganz schön jung dafür.”

Weiß ich, mein Freund. Gib mir einfach ein Konto und halt die Klappe.

„Weil, Sie sind halt 27.”

„Das weiß ich.”

„Und Sie sind jünger als ich.”

„Ja.”

„Und ich wohne noch bei meinen Eltern.”

„Hmm.”

ES IST ZIEMLICH MERKWÜRDIG, GANZ ALLEINE IN DEINEM ELTERNHAUS ZU SCHLAFEN
Keine Familie, keine Haustiere, und weil der Boiler (wie schon gesagt) nicht funktioniert, macht nicht mal der beruhigende Geräusche. Und wenn ich „ziemlich merkwürdig” sage, meine ich „verdammt unheimlich”. Heb einen von den Golfschlägern deines Vaters auf. Du wirst ihn dir unters Bett legen wollen.