Um sich klar zu machen, wie stolz die CSU ist, braucht man nur auf den Online-Shop der bayerischen Volkspartei zu klicken. Dort kann man sich neben Söder-Tattoos und der “königlich bayerischen Sparsau” auch das Abziehtattoo “CSU-Leo” bestellen und sich seine Liebe zur Volkspartei wahlweise auf den Oberarm, Hintern oder das Gesicht kleben. Das CSU-Selbstbild als wichtigste Instanz südlich des Weißwurstäquators ist selbstgerechter als die letzten sechs Batman-Filme zusammen. Doof nur, dass das immer weniger Menschen in Bayern auch so sehen.
Seit Jahresbeginn ist die CSU in den Wahlumfragen des Meinungsforschungsinstituts INSA von 45 Prozent auf magere 33 Prozent abgestürzt. Erstmals hätte eine – zugegebenermaßen ziemlich unwahrscheinliche – Koalition aus Grünen, SPD, Freien Wählern und FDP eine Mehrheit im bayerischen Landtag. Zwar haben die Christsozialen noch ein paar Tage, um den harten Aufprall abzufedern, aber selbst Markus Söder spricht lieber davon, Bayern ins All zu schießen, als sich der politischen Realität zu stellen.
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Weil es aber weder christlich noch sozial ist, auf am Boden Liegende zu treten, haben wir 6,5 Dinge gesammelt, die seit Jahresbeginn heftiger abgestürzt sind als die Umfragewerte der CSU.
1. Die Snapchat-Aktien nach dem Rihanna-Eklat
Wenn du in deinem Alltag von Tiefkühlpizza-Backen bis Shopping-Haul alles in Echtzeit dokumentierst (und zu einem Jahrgang zählst, der keine bewusste Erinnerung an eine Welt vor dem iPhone mehr hat), benutzt du wahrscheinlich Snapchat. Jahrelang stiegen die Nutzer- und Umsatzzahlen der App – und die CEOs am Strand von Santa Monica rieben sich die Hände wie Pfadfinderinnen Stöckchen zum Feuermachen.
Im März bekamen Nutzerinnen allerdings eine Werbung für die Entweder-oder-Spielchen-App “Would you rather” angezeigt, bei der sie gefragt wurden, ob sie lieber Rihanna oder Chris Brown eine reinhauen würden. Trotz der gewaltsamen Vorgeschichte des ehemaligen Paares. Und trotz des Faktes, dass häusliche Gewalt kein Bagatelldelikt ist. Bevor Snapchat überhaupt eine Entschuldigung verbreiten konnte, wetterte Rihanna gegen das Unternehmen – stilsicher auf der Konkurrenzplattform Instagram. Millionen User wendeten sich von Snapchat ab, die Aktie begab sich in einen steileren Sturzflug als Felix Baumgartner aus der Red-Bull-Kapsel – und das Unternehmen verlor zwischenzeitlich mehr als 800 Millionen an Börsenwert.
2. Die Glaubwürdigkeit des Verfassungsschutzes
Unter kritischen Journalistinnen genoss der Verfassungsschutz, immerhin eines der bedeutendsten Instrumente des deutschen Rechtsstaats, nie ein besonders hohes Vertrauen. Schließlich gehört es ein bisschen zum guten Ton, als Verfassungsschutzpräsident mindestens einen großen Skandal im Leben hinzulegen. Und Hans-Georg Maaßen zieht seine Informationen bekanntlich eher aus den sozialen Medien als aus VICE.
Genau diese Lektüre hat aber allem Anschein nach dazu geführt, dass Maaßen öffentlich die Existenz von Hetzjagden in Chemnitz in Zweifel zog: Die Glaubwürdigkeit des Verfassungsschutzes wurde durch alle Gesellschaftsschichten hinweg härter erschüttert als Martinis bei James Bond. Oder haben wir uns Maaßens Abstieg vielleicht einfach ausgedacht, um erfundene Hetzjagden zu promoten? Wir waren ja schließlich auch in Chemnitz …
Auch bei VICE: Chaos in Chemnitz
3. Die Karriere des Chemnitzer Tourismusbeauftragten
Die gewieften Marketing-Strategen der Chemnitzer Wirtschaftsförderung hatten sich für dieses Jahr überlegt, 875 Jahre Chemnitz zu feiern. Ein Jubiläum, das sie “feierlich begehen” wollten – traditionell sächsisch mit einem indischen Lichterfest und einem Agricola-Gespräch. Die Stadt selbst hat tatsächlich überzeugende Tourismus-Argumente: ein mittelalterliches Kloster hier, ein pittoreskes Rathaus da, das Karl-Marx-Monument und regional-kleinstädtische Perlen wie Torgau, Meißen und Radebeul in der Umgebung.
Im August und September ging Chemnitz dann viral – aber anders, als geplant. Rechtsextreme machten aus der Stadt zwischenzeitlich ein offizielles Jagdgebiet auf Menschen anderer Hautfarbe. Aus Chemnitz wurde ein Hashtag, der nicht gerade dabei behilflich sein dürfte, All-Inclusive-Reisen auf den Sonnenberg oder nach Hilbersdorf zu vermarkten. Dann kamen wieder die Journalisten und schrieben auf, dass ziemlich viele Rechtsextreme in Chemnitz und Umgebung leben und dass die Stadt zu den ältesten Europas zählt. Schade, Chemnitz. Wir befürchten, dass selbst der beste Unique Selling Point der Marketingkampagne nicht retten kann, was nicht zu retten ist.
4. Die Modellkarriere von Christian Lindner
Apropos Marketingkampagne: Vorbei sind die Zeiten von Großplakaten mit Christian Lindners Visage, die uns in melancholischer Schwarz-Weiß-Optik zum FDP-Wählen verführen. Vorbei sind die Zeiten von sexy Dreitagebart und aufgeknöpftem Hemd – Christian Lindner will uns nichts mehr über Digitalisierung und “Schattenjahre” erzählen, während er mit uns im Bett liegt. Christian Lindner ist jetzt seriös. Das lässt er uns zumindest auf Twitter spüren, wo er angestrengte Tweets zur Großen Koalition schreibt, die er ja eigentlich selbst zu verantworten hat. Auf Fotos tritt er nur noch im blauen Anzug mit zugeknöpftem Hemd auf. Wir trauern, schließlich haben uns dramatische Kampagnenspots der Agentur HEIMAT besser gefallen als “Opposition der Mitte”.
5. Die Street Credibility von Bushido
Was waren das noch für Zeiten, als Tempelhofs Finest Anis Ferchichi aka Bushido Angst und Schrecken verbreitete. Anfang der Jahrtausendwende fuhr Bushido mit Fler im Kleinwagen um den Block, um untreue Frauen und ihre Seitensprünge zu vermöbeln. “Weil du eine Frau bist und man dir in den Bauch fickt, heißt es nicht, dass ich dich nicht schlage, bis du blau bist”, heißt es etwa in “Drecksstück”. Das war 2003 und Vom Bordstein bis zur Skyline, das vielleicht epochalste deutsche Gangsterrap-Album, war gerade erschienen.
Fast forward: 15 Jahre später sitzt Bushido mit Frau Anna-Maria zum Kaffeekränzchen mit dem Bürgertum Kleinmachnows und führt mit der Zeit “Nachbarschaftsgespräche”. Dem Stern gibt das Paar Interviews über einstige kriminelle Machenschaften des Abou-Chaker-Clans. Vergangenen Monat wartete ganz Deutschland auf den Disstrack “Mephisto” und hoffte auf eine bitterböse Abrechnung mit Clanboss und Wegbegleiter Arafat. Bushido veröffentlichte stattdessen einen mystischen Märchen-Epos, der mehr an Goethes Faust mit Theater-AG-Swag als an eine Hinrichtung auf Tracklänge erinnert.
6. Das Ansehen des DFB
Wenn ihr beim Wort “Südkorea” auch posttraumatische Flashbacks an zertrampelte Deutschlandfähnchen, unaufgegessene Bratwürste und tränendurchnässte schwarz-rot-goldene Blumenketten bekommt, war euch die deutsche Männer-Nationalmannschaft auf jeden Fall wichtiger als dem DFB. Der reagierte nämlich im Anschluss auf die Kritik von und um Mesut Özil mit dermaßen peinlichen Aussagen, dass man die deutsche Mannschaft am liebsten gleich von den nächsten fünf WMs ausschließen würde.
Vorher haben sich Reinhard Grindel und Co. aber erstmal die Europameisterschaft 2024 beschafft und sich dafür gegen die Türkei durchgesetzt. Ein bisschen schade eigentlich, wir hätten gern gesehen, wie Thomas Müller Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Hand schüttelt und anschließend von rechtsschaffenden Sympathisanten der deutschen Kultur angeschrien wird.
7. … nein, wir korrigieren: 6,5. Die SPD
Wie gesagt: Eigentlich liegt es uns fern, auf Parteien einzudreschen, die wie Blei am Boden liegen. Haha, just kidding: Wir machen nichts lieber als das und damit sind wir bei der SPD.
Uns scheint es, als würde die Alte Tante SPD mittlerweile am Krückstock gehen und an Bluthochdruck leiden. Anstatt zur Altengymnastik zu gehen, trifft sie sich aber lieber zur nächsten Kaffee-und-Kuchen-Runde mit der Union. Wo war die sozialdemokratische Haltung, als Horst Seehofer über die Abschiebung von 69 Afghanen witzelte, von denen sich einer suizidierte? Wo war die Konsequenz, als Hans-Georg Maaßen die ganze Bundesrepublik trollte?
Nicht nur die CSU abgestürzt, sondern auch die einst so stolze SPD. Und zwar nicht nur in Umfragen, wo die Sozialdemokraten auf dem besten Weg sind, bald nur noch hinter Union, Grünen und AfD die viertstärkste Partei zu sein, sondern auch: Moralisch. Personell. Programmatisch. Taktisch. Ach, eigentlich auf jedem Gebiet. Darüber kann auch kein Frust-Haul im SPD-Shop hinwegtrösten.