Ungarns Ministerpräsident Victor Orbán ist für vieles bekannt: zum Beispiel für hartes EU-Bashing, Flirt mit Autokraten und Äußerungen, die einige als antisemitisch kritisieren. Nicht bekannt ist Orbáns Regierung aber als Meme-Werkstatt, die mit nur einem Bild geschickt Netzkultur-Fans triggert. Genau das ist aber nun passiert, gewollt oder zufällig, und zwar mit einem Plakat.
Darauf zu sehen: ein junger Mann mit kurzärmeligem Karohemd, der eine junge Frau umarmt. Beide kuscheln auf einer Couch und lächeln sich mit blitzweißen Zähnen an. Daneben steht in Ungarisch: “Junge verheiratete Paare erhalten Unterstützung, wenn sie ein Kind erwarten.” Auf den ersten Blick nicht mehr als durchschnittliche Plakatkampagne, wären da nicht die viralen Tweets mit Tausenden Reaktionen und zahlreiche Medienberichte. Das hätte wohl keiner so erwartet. Oder doch?
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Beginnen wir von vorne: Das junge Paar auf dem Plakat sind nicht irgendwelche Models, es ist das Paar aus dem Distracted-Boyfriend-Meme. Jeder, der das Internet in letzter Zeit nicht nur für E-Mails und die ZDF-Mediathek benutzt hat, dürfte dieses Meme kennen: Ein Typ läuft Händchen haltend mit seiner Freundin durch die Stadt, schaut aber einer anderen Frau hinterher und schürzt entzückt die Lippen. Die Freundin ist alles andere als amüsiert. In den Memes zu dem Stockfoto bekommen die drei Personen noch witzige Labels verpasst.
Von dieser Art sind seit 2017 Hunderte Memes entstanden, und wahrscheinlich liegt der Erfolg des Memes darin, dass die Story dahinter so relatable ist: Kennen wir es nicht alle, dass wir mit irgendetwas im Leben eigentlich ziemlich zufrieden sind, uns aber doch plötzlich nach Alternativen umschauen – und das auch noch echt schlecht verstecken?
Geschossen hat das ikonische Foto Antonio Guillem aus Barcelona. Das Modelpaar heißt Laura und Mario, beide hatten in einem Interview schon mal erklärt, dass sie mit dem Meme ganz happy sind. Es sei ein langes Fotoshooting gewesen, und tatsächlich veröffentlichte der Fotograf eine Menge Bilder des Pärchens, was Meme-Fans dazu inspirierte, den beiden ausführliche Geschichten anzudichten. Und genau das bringt uns wieder zu Orbán und seinem Plakat, das junge Pärchen zum Kinderkriegen motivieren soll.
Zunächst twitterte die Financial-Times-Korrespondentin Valerie Hopkins ein Foto von dem Plakat. Viele Reaktionen entsprachen einem kollektiven Facepalm: Was für eine dumme Idee, genau diese beiden Models als glückliches Paar zu zeigen, das noch dazu ein Kind erwarte. Schließlich sind die beiden weltweit bekannt als das Pärchen, das durch Eifersucht und fear of better options gespalten wird.
War ja klar, dürften sich viele Meme-Kenner gedacht haben. Diese Politiker verstehen das Internet einfach nicht. Wussten wir ja schon länger, spätestens seit der Urheberrechtsdebatte und Artikel 13, und das ist ein weiterer Beleg.
Wer für die Auswahl der Fotos verantwortlich war, ist nicht bekannt, eine ungarische Tageszeitung spricht von einem von der Regierung selbst gestalteten Plakat. Zwar finden einige Kommentierende auf Twitter die Vorstellung amüsant, dass ein Grafiker oder eine Grafikerin sich mit dem Meme einen kleinen Spaß erlaubt hat und dafür neben einer Gehaltserhöhung auch eine Auszeichnung bekommen sollte. Nur gibt es auch Argumente dafür, dass gerade die Diskussion der Meme-Fans das Ziel des Plakats war.
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Memes sind kein geschütztes Gut des Internets, sie werden instrumentalisiert. Das kann auf kommerzieller Ebene sein, wenn etwa das Handelsunternehmen Otto Werbung mit Hide the Pain Harold macht. Aber auch politische Gruppen schlagen aus unserer emotionalen Verbindung zu Memes Kapital – bezeichnenderweise etwa AfD-Fans im Bundestagswahlkampf 2017 mit einer Abwandlung des Distracted-Boyfriends-Meme. Ja, damals noch mit Frauke Petry.
Und natürlich nutzen Twitter-User und Journalistinnen die Aufmerksamkeit, um kritisch anzumerken, dass Orbán in seiner dritten Amtszeit an der Spitze einer überalterten Gesellschaft steht, in einem Land, aus dem viele junge Fachkräfte ins Ausland abwandern. Anstatt auf Migration zu setzen, versuche er ein nationalistisches Ideal einer geschlossenen “ungarischen Identität” hochzuhalten, schreibt das SZ-Magazin. Etwa indem er Frauen mit mindestens vier Kindern verspricht, nie wieder Einkommensteuer zahlen zu müssen. Oder eben mit solchen Plakaten.
Auch wenn es vielleicht nur ein Zufall gewesen sein mag und nicht die gerissene Idee eines PR-Beraters – aus Marketingsicht war die Aktion ein voller Erfolg: Die Botschaft, die die ungarische Regierung senden wollte, hätte ohne den Meme-Katalysator des Distracted Boyfriends niemals so viele Menschen erreicht.
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