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DJ Gloria Viagra—Berlins größte, bekannteste Drag Queen

Wenn du regelmäßig auf Partys in Berlin bist, stehen die Chancen gut, dass dir Gloria Viagra bereits über den Weg gelaufen ist. Wenn ja, wirst du dich auf jeden Fall daran erinnern. Die bekannteste Drag Queen der Stadt ist eine 1,95m—in Stilettos sogar über 2,10m—große Granatemit voluminösem Haar. Letzteres trägt sie entweder glatt oder als ein riesiges Durcheinander aus Locken samt eines charakteristischen und ebenso gut gepflegten Schnurrbarts. Du erkennst sie auf den ersten Block; manche Leute nennen sie sogar „das Empire State Building des Drag”.

Gloria steht in den VIP-Schlangen der Clubs ganz vorne, hängt mit Punk-Ikone Nina Hagen ab und hat ihre letzten Geburtstage mit der berühmten New Yorker Drag Queen Sherry Vine und der Electropop-Musikerin Peaches gefeiert. Außerdem ist sie politische Aktivistin und Leadsängerin einer Queer-Rockband namens Squeezebox. Am wahrscheinlichsten ist es jedoch, dass du die glorreiche Miss Viagra hinter einem DJ Pult in den Himmel ragen siehst. Sei es in der Wilden Renate, im SchwuZ, im Klub International oder bei den sonntäglichen GMF-Queer Partys im Weekend, wo sie Resident ist.

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Als wir uns zum Kaffee treffen, ist Gloria kaum als die imposante Person zu erkennen, die sie im Club abgibt. Vor mir steht ein großer Typ, der eine Schiebermütze und enge Jeans sowie Unmengen an silbernen Ringen an seinen Fingern trägt. Seinen vollständigen Namen verraten wir auf eigenen Wunsch nicht, doch Berlins größte Drag Queen identifiziert sich im alltäglichen Leben als Mann namens Michel.

Michel hat stechend blaue Augen, die perfektesten Augenbrauen, die du je gesehen hast, und natürlich diesen dichten Schnurrbart. Sein Hund Jamal liegt artig unter dem Tisch, während er erzählt, dass er gerade bei einer Anzuganprobe für die Hochzeit mit seinem langjährigen Partner war. Aufgeregt zeigt er mir das Schmuckstück aus rotem Samt auf seinem Handy.

Drag Queen Viagra hat ein Talent dafür, dass andere sich wohlfühlen—sie ist irgendwie überlebensgroß, ohne eine Diva zu sein. Nachdem wir Espresso bestellt haben, fängt Michel an zu erzählen, wie alles begann.

Foto mit Genehmigung der Künstlerin

1972 zog der fünfjährige Michel mit seiner Mutter aus Bernkastel-Kues—einer idyllischen Weinregion, die für ihre mittelalterlichen Kirchen und schönen Weinberge bekannt ist—nach Berlin. Für ein Kind, das bis dahin auf dem Land aufgewachsen war, war West Berlin mit seinen psychedelischen Rockkonzerten und politischen Unruhen eine Offenbarung.

„Wir sind vor meinem Vater geflüchtet”, sagt er und verrät später, dass sein Vater gewalttätig gegenüber ihm und seiner Mutter war. „Meine Tante lebte [in Berlin]. Sie war sehr politisch. Selbst als kleine Kinder sind wir zu Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg gegangen. Aber das war halt Berlin—immer schon sehr politisch.”

Michel lebte mit seiner Mutter in einer WG, sie ermutigte ihn laut eigener Aussage auch dazu, den Freak in sich auszuleben. „Meine Mutter war ein großer Fan von Romy Haag”, sagt er und grinst bei dieser Erwähnung einer weiteren Berliner Ikone, der extravaganten Transgender-Performerin, die in den späten 70ern mit David Bowie zusammen war. „Sie ging gerne in Romys Club, da die Männer dort alle schwul waren und sie nicht anmachten. Sie mochte den Glitzer, die Kleidung, die Shows und alles.”

Musik war im Leben des jungen Mannes omnipräsent und das Radio in der Wohnung lief ununterbrochen. „Ich schätze, meine erste Platte, [die ich selbst kaufte], war irgendwas von Baccarat, irgendeine Disco-Sache. Vielleicht war es sogar ‘Sorry I’m a Lady’.”

Diese Liebe zur Musik führte ihn letztendlich zum Ballet und ließ ihn von einer Opernkarriere träumen. Doch ein Meniskusriss machte alle Hoffnungen, Tänzer zu werden, zunichte. Stattdessen machte Michel eine Ausbildung zum Schneider und fand einen Job an der Deutschen Oper. Anfang der 90er küsste er das erste Mal einen Mann. Dieses Jahrzehnt verbrachte er auch damit, über Hinterhöfe zu Techno-Raves zu klettern und sich neue, wilde Ideen für Partys im subkulturellen Zentrum Kreuzberg auszudenken.

Manchmal rasiere ich den Schnurrbart ab. Aber inzwischen fühlt sich das nicht richtig an.

1999 war Gloria geboren—damals allerdings noch als Ein-Frau-Shows als Gloria von Tunten und Blasen an. Den Namen Viagra legte sie sich erst bei einem Auftritt in Ibiza zu, kurz nach ihrem Durchbruch in der Szene. „Die Spanier konnten [den ursprünglichen Namen] einfach nicht aussprechen”, so Michel, also änderte er ihn zu Ehren der kleinen blauen Pille, die damals gerade auf den Markt gekommen war.

Michel sagt, dass das Projekt durch die Liebe, auf der Bühne zu stehen, entstand, aber auch als Form von politischem Aktivismus. “[In den 90ern war] Drag in Berlin sehr queer, sehr politisch, und es gab eine gewisse Ironie”, erklärt er. „Dieses klassische Zeug mit Pailletten und Federn war nie unser Ding. Klassische Travestie war sogar irgendwie tabu. Das hat sich mittlerweile sehr geändert und dadurch, dass ich auf Reisen andere Stile sehe, versuche ich, meinen eigenen Weg zu finden. Meine Wurzeln in Berlin sind immer noch queer und politisch, aber ich habe sie mir auf meine Weise zu eigen gemacht.”

In all den Jahren ist Gloria diesen Wurzeln treu geblieben, hat auf einem Event gegen Rassismus im Berghain aufgelegt oder für die Opfer der Finanzkrise und von AIDS demonstriert. Doch als Michel im Jahr 2000 als einer von Berlins ersten DJs in Drag auflegte, war er überrascht, welche Herausforderung es war, die Welten von Drag und DJing zu vereinen.

“Eine Drag-DJ muss gut aussehen”, sagt er lachend. “Für eine DJ gilt generell aber, dass du noch vor der Technik, dem Mixen und alledem, in der Lage sein musst, den Raum zu fühlen und Leute herauszufordern. Es muss immer einen Flow geben. Drag-DJs versuchen die ganze Sache natürlich zu sehr auszureizen, versuchen zu unterhalten, in das Mikrofon zu labern. Ich gehe überhaupt nicht mehr ans Mikrofon. Ich hasse das. Für mich ist das wie in der Dorfdisco.”

Das Dasein als Drag-DJ birgt allerdings seine ganz eigenen Tücken. Ob es nun darum geht, sich in Pumps über die Decks knien zu müssen oder darum, Kopfhörer zu tragen, ohne sich die Perücke vom Kopf zu reißen.

“Gloria lässt ihre Haare kurz und sexy”, verrät Michel. “Es muss praktisch sein. Zum Auflegen sind lange Haare einfach scheiße; sie hängen in deinem Make-up oder in deinem Bart. Aber das ist eigentlich auch egal; ich finde Perfektionismus furchtbar.”

Glorias Markenzeichen, der große, natürlich braune und dichte Schnurrbart, versinnbildlicht die unkonventionelle Herangehensweise des DJs an Drag. Anfangs gab es für den Schnurrbart einiges an Gegenwind, nicht nur im Nachtleben generell sondern auch in der queeren Szene. “Die Reaktionen waren zu dieser Zeit ziemlich furchtbar. Es gab Kommentare wie: ‘Oh, hast du vergessen, dich zu rasieren, oder was?’”, erinnert er sich. “Die Leute haben sich letztendlich daran gewöhnt. Mittlerweile ist es akzeptiert. Manchmal rasiere ich ihn ab, aber inzwischen fühlt sich das nicht richtig an.”

Foto mit Genehmigung der Künstlerin

Heutzutage wird Viagra normalerweise nur noch gebucht, um in Drag aufzulegen. “Ich muss sagen, es fühlt sich sehr merkwürdig an, es ohne [die Frauenkleider] zu machen”, sagt er. “Ich habe das drei oder vier Mal gemacht und mich total nackt und ungeschützt gefühlt. Mit Drag fühle ich mich sicherer.”

Viagra stimmt ihre Musikauswahl auf die Party ab. Im berühmten Berliner Sexclub KitKat funktionieren zum Beispiel alte Hits und R&B am besten. Andere Queer-Partys verlangen nach einem sehr deutschen Sound: Folk-Musik, Umpapa-Klänge oder sehr schlechtem Pop. Viagras Lieblingssound ist sanfter Electro. “Kein Bumm Bumm Bumm”, so Michel, “eher alte Klassiker aus dem Berghain-Garten, ein wenig Soul. Garten-Electro.”

Michel ist vor Kurzem 50 geworden und sagt, dass er sieht, wie Glorias Position im Berliner Nachtleben sich verändert.

„Als Drag Queen kann ich mir mich noch mit 70 auf einer Bühne vorstellen—aber als DJ, ich weiß nicht”, erklärt Michel. “Beim Auflegen geht es so viel ums Publikum, was sich immer weiter von dir entfernt, je älter du wirst. Ich spiele kein Justin Bieber, aber als ich es mal gespielt habe, war der ganze Dancefloor glücklich. Wenn du älter wirst, kannst du nicht mehr alles machen, egal ob Partylöwe oder nicht.”

Michel findet auch, dass sich die Drag-Szene mit der Zeit verändert hat. “Drag ist nicht mehr so politisch, was Vor- und Nachteile hat”, sagt er. “Es gibt auch nicht mehr so einen starken Sinn für Solidarität oder Dankbarkeit gegenüber denen, die den Weg geebnet haben. Es gibt leider einen Trend, immer oberflächlicher zu werden. Es existiert noch eine Bewegung, die versucht, dieses [politische] Gewissen zurückzuerobern, aber ich vermisse das ein wenig.”

Ein paar Tage nach unserem Treffen wird Michel eine Woche lang seine Hochzeit feiern; in typischer Gloria-Manier beinhalten die Festivitäten eine Privatparty für Freunde, Cocktails in der Panorama Bar (wo Michel und sein Mann sich vor sieben Jahren kennenlernten) und eine große Hochzeitsparty im SchwuZ, bei der DJs Electro, Pop und orientalische Beats spielen. Einige der Einnahmen der Party werden an Flüchtlingskinder gespendet, die im türkischen Izmir ankommen. Fürs Erste verschwindet er jedoch wieder in Berlin-Mitte, in Richtung der lebhaften Straßen der Stadt, die ihn geformt haben.

“Ich habe immer gesagt, dass wir eines Tages den Preis für den Hype um Berlin zahlen müssen”, sagt Michel. “Aber obwohl ich die Welt bereist habe, habe ich keinen Ort gesehen, der so ähnlich ist.”

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