Drachenkostüme, Yoga und Bolzenschneider: Wie 100 Linke den EU-Zaun einreißen wollten
Alle Fotos: Jan Vollmer

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Drachenkostüme, Yoga und Bolzenschneider: Wie 100 Linke den EU-Zaun einreißen wollten

Ich bin mit 100 Aktivisten an die bulgarische Grenze gefahren, um den Zaun der EU durchzuschneiden. Der Zaun steht noch, aber dafür haben die Bulgaren jetzt was zu erzählen.

Im entscheidenden Moment stehen rund 100 junge Leute aus Berlin auf einem schmalen Feldweg rund 50 bulgarischen Grenzpolizisten gegenüber. Sie haben die Hände über die Köpfe gehoben, um zu zeigen, dass sie unbewaffnet sind. Sie singen: „Say it loud/ say it clear/ refugees are welcome here/" und machen gemeinsam einen Schritt vorwärts.

Die Aktivisten sind hier, weil sie mit dem „​Zentrum für politische Schönheit​" und einem Haufen Bolzenschneidern und Seitenschleifern (mit Akku!) an die bulgarisch-türkische Grenze gefahren sind, um den Zaun der EU-Außengrenze einzureißen. Das „Zentrum für politische Schönheit" sagt, das ganze sei nur ein Theaterstück. Aber dazu später mehr.

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Der Song jedenfalls klingt erstaunlich gut, nach ausgestreckten Händen, Revolution mit Blumen und Lagerfeuer. Eine Seifenblase schwebt (wirklich!) über die erste Reihe bulgarischer Polizisten und verwirrt dahinter einen ihrer Schäferhunde. Die Sonne kommt raus und leuchtet den singenden Aktivisten in die Gesichter. Ehrlich gesagt, mir wäre dabei fast eine Träne gekommen.

Das hat vielleicht aber auch damit zu tun, dass ich seit Freitag immer nur ein paar Stunden geschlafen habe und mittlerweile Sonntagnachmittag ist. Die letzten 48 Stunden habe ich mit den Aktivisten in zwei weißen Reisebussen auf dem Weg an ebendiese bulgarisch-türkische Grenze verbracht.

Schon seit der Abfahrt vor dem Berliner Maxim Gorki Theater standen wir dabei unter Polizeibeobachtung. Die ganze Aktion ist Teil eines Theater-Festivals des Theaters mit dem Namen „Voicing Res​istance". Und seitdem das „Zentrum für politische Schönheit" Anfang letzter Woche am Reichstag Ged​e​nkkreuze für Mauertote entführt hat, steht auch das Gorki Theater unter verschärfter Polizeibeobachtung. Der Berliner Innensenator Frank Henkel ​fordert m​ittlerweile, dass die Rolle des Gorki-Theaters bei der Kreuzaktion aufgeklärt wird, und vermutet „Komplizenschaft" bei der Entführung der Kreuze. Von Leuten aus dem Gorki Theater hieß es aber bereits, dass man in diesen Teil des Plans nicht eingeweiht gewesen sei. Das Zentrum für politische Schönheit seinerseits will jetzt einen Strafantrag gegen Innensenator Henkel wegen übler Nachrede stellen, kündigte ein Sprecher an.

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Bevor die Aktivisten das Gepäck für die Fahrt an die Grenze in die Busse landen können, wird es von Polizisten durchwühlt. Über dem Theater kreist dabei ein Hubschrauber. Vereinzelt versuchen Leute vom Staatsschutz die Personalien der Mitfahrenden festzustellen. Philipp Ruch, der Mann, der die ganze Aktion organisiert, sagt, man müsste sich keine Sorgen machen: Die Aktivisten sollten die Bolzenschneider und Seitenschleifer erstmal im Gorki Theater liegen lassen, sie würden ein paar Kilometer nach Berlin wieder in den Bus geladen.

Bis an die serbische Grenze ist die Stimmung im Bus auch ausgezeichnet. Es gibt belegte Brötchen, Ikeadecken und Obst, und an der ersten Tankstelle in Tschechien tauchen die Bolzenschneider tatsächlich wieder auf. Außerdem heißt es im Bus, die „Oh​lauer" würde nicht geräumt, deswegen verpasse man in Berlin nichts. Die Aktivisten besorgen sich erstmal etwas zu trinken und man fängt an zu rätseln, wer wohl die V-Frau oder der V-Mann vom Verfassungsschutz ist.

Ab der serbischen Grenze wird alles etwas schwieriger: Die Ersten müssen aussteigen, weil sie keine gültigen Pässe mithaben oder in ihren vorläufigen Dokumenten ein paar Seiten herausgerissen sind. Außerdem hat die serbische Polizei von der Aktion Wind bekommen und einen Teil der Bolzenschneider im Bus gefunden. Hinter der serbischen Grenze macht die Truppe trotzdem erstmal auf einem Grünstreifen zu lockerem House barfuß Yoga. Außerdem können die Aktivisten ihre Bolzenschneider behalten, weil die serbische Polizei die Busse einfach bis zur bulgarischen Grenze eskortiert. Mit Blaulicht kommen wir auch eine Ecke schneller voran.

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In Bulgarien freut man sich allerdings nicht auf uns. In einer Facebook-Gruppe hatten bulgarische Nazis und Hooligans dazu aufgerufen, die Deutschen davon abzuhalten, ihre Grenze einzureißen. Am Samstagabend steigt an der Grenze ein hohes Tier des bulgarischen Innenministeriums in den Bus und erklärt freundlich, dass „Grenze kaputtmachen" mit bis zu 5 Jahren Haft und 150 Euro Strafe geahndet wird, während die Busse gründlich gefilzt werden. Spätestens jetzt ist klar, dass es schwierig werden könnte, einen Bolzenschneider am Zaun anzusetzen.

So gegen Mitternacht stehen 100 Aktivisten dicht gedrängt auf einem Parkplatz in Bulgarien und beraten, wie es weitergeht. Es ist kalt und nebelig. Von den Organisatoren Philipp Ruch und Stefan Pelzer keine Spur, sie sind wohl nach Bulgarien geflogen. Unsere Reisebegleiter aus der zweiten Hierarchiestufe des „Zentrum für politische Schönheit" sammeln mit einer Plastikwanne Handys ein, damit wir bei unserer Beratung nicht abgehört werden. Es geht um die Frage, ob wir nach unserer Ankunft in Jambol noch mal schlafen oder uns nur kurz organisieren und dann mit „der Aktion" starten.

„Was ist denn überhaupt ,die Aktion', wenn wir keinen Zaun mehr schneiden können?", fragt jemand. Das könne man noch nicht verraten, heißt es. Eine Theaterkritikerin regt sich auf: „Wie sollen wir entscheiden, ob wir Schlaf brauchen oder nicht, wenn wir nicht wissen, was wir da machen?" Ein Aktivist mit Dreadlocks, Bart und Schlafbrille schnauzt sie an: „Natürlich können sie uns das nicht sagen, bei der Funkdisziplin, die hier herrscht." Langsam wird es gruppendynamisch interessant. Ein paar Leute schimpfen über die Aktion, sie sind von Castor-Schott​ern mehr Kompromisslosigkeit und Professionalität gewohnt. Die Reiseleiterin verspricht, dass wir, wenn wir vor der Aktion nicht schlafen, mit den Bussen nach der Aktion erstmal in Griechenland am Meer abhängen. Nach einer Fahrt von Freitag bis Sonntag bräuchten die Busfahrer schließlich auch etwas Schlaf.

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Sonntagmorgen im Hotel in Jambol ist gerade genug Zeit, um etwas zu essen und die Zähne zu putzen. Die Gruppe ist einverstanden, „die Aktion" gleich zu starten. Philipp Ruch und Stefan Pelzer sind mit zwei bulgarischen Anwälten aufgetaucht, die uns aus der Untersuchungshaft holen sollen, wenn Leute festgenommen werden. Die Aktivisten schreiben sich ihre Nummern auf die Unterarme. Vor dem Hotel wartet die bulgarische Polizei und ein bulgarisches Kamerateam. Philipp Ruch sagt mit einer Prise Ironie, der bulgarische Innenminister sei neu und hätte sein Amt daran geknüpft, dass er es schafft, uns von der Grenze fern zu halten.

Mit einer Kolonne von vielleicht 10 Autos mit Polizei und bulgarischer Presse fahren wir in ein winziges Kaff mit verfallenden Häusern in einer hügeligen Gegend an der bulgarisch-türkischen Grenze. Die Bolzenschneider werden verteilt und in einem langgezogenen Marsch folgen die Aktivisten Philipp Ruch einen Feldweg entlang, Richtung Türkei. Die Stimmung ist angespannt, manchmal etwas überdreht. Jemand hat sich ein grünes Drachenkostüm angezogen, die bulgarischen Dorfkinder finden das lustig. Hin und wieder schwillt der „No border, no nation"-Sprechchor an. Es ist eine der skurrileren Situationen meines Lebens.

Wir passieren einen rostigen Stacheldrahtzaun und stehen nach vielleicht einer Stunde vor einer Straßenblockade der bulgarischen Grenzpolizei. Über uns kreist ein Hubschrauber, kurz nach der Gruppe kommt auch ein Krankenwagen an der Szene an. Die bulgarische Grenzpolizisten wirken rauer als ihre deutschen Kollegen. Sie rauchen, und ihre Schilde sehen aus, als wären damit schon die Proteste zum Prager Frühling niedergeschlagen worden. Sie scheinen auch nicht wirklich zu verstehen, was die deutschen Hippies hier an der bulgarisch-türkischen Grenze mit den Bolzenschneidern wollen.

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Philipp Ruch will verhandeln, kommt aber keinen Zentimeter weiter. Einen anderen Plan hat er offensichtlich auch nicht. „Unsere Kunstaktion ist hiermit beendet", sagt er. „Aber ihr könnt natürlich machen, was ihr wollt." Dann geht er ein paar Meter zurück zu dem Krankenwagen und redet mit den Anwälten.

Die Aktivisten drängeln sich erstmal weiter vor den Grenzpolizisten. Die meisten stehen wohl nicht zum ersten mal vor einer Polizeiblockade. Sie wissen, dass es eskalieren würde, sollten sie versuchen, mit den Bolzenschneidern durchzubrechen. Und irgendwie formt sich über Rufe die Idee: „Las uns doch die Bolzenschneider weglegen und versuchen, so durchzugehen."

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Die Aktivisten legen ihre Bolzenschneider ab, heben die Hände über die Köpfe und laufen langsam und singend auf die Blockade der bulgarischen Polizei zu. Die schwarze Truppe und die bunte Gruppe treffen sich. Die Bulgaren wollen nicht ausweichen, die Aktivisten drücken immer weiter nach vorne, bis die in der ersten Reihe gegen die Polizisten geschoben werden. Für ein paar Momente schieben die beiden Lager so gegeneinander, Kopf an Helm. In der ersten Reihe zwischen Demonstranten und Polizisten werden die Stimmen lauter, man versucht, sich wegzuschieben, man schubst sich. Die bulgarische Polizei hat offensichtlich die Anweisung, die Deutschen nicht zu verprügeln. Schwer vorstellbar, dass sie sonst so lange still gehalten hätten.

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Dann verlieren die Bulgaren die Geduld und drücken ruckartig vorwärts. Für ein paar Sekunden entsteht ein unübersichtlicher Tumult aus Händen und Helmen. Der Gesang ist abgebrochen und erschreckte Aktivisten versuchen, sich ein Stück in Sicherheit zu bringen. Zwischen den Aktivisten und der Polizei sind jetzt wieder ein paar Meter Luft. Stefan Pelzer vom „Zentrum für Politische Schönheit" steht in der Lücke und versucht wieder zu verhandeln, ob man nicht doch friedlich an den echten Zaun durchgelassen werden könnte. Aber die bulgarische Polizei will sich auf nichts einlassen. Pelzer ruft: „Hier geht's nicht weiter, die Medien sind weg, wir kommen nicht durch. Wir können uns hier nur verprügeln lassen."

Die Aktivisten ziehen sich, immer noch aufgebracht, ein paar Meter zurück und bereden untereinander, wie es weitergeht. Einer der Organisatoren sagt, wenn es dunkel würde, werde das Spiel mit der bulgarischen Polizei zu gefährlich, weil unüberschaubar, und man hätte nur noch eine Stunde Zeit. Philipp Ruch ist wieder da, steht in der Mitte und sammelt Ideen wie ein sehr toleranter Klassenlehrer: Einige wollen immer noch mit Gewalt durchbrechen. Andere schlagen vor, einen Zaun weiter unten zu zerschneiden. Die Idee kommt auf, sich in kleinen Gruppen in die Büsche zu schlagen und es so zu versuchen. Schließlich einigt man sich darauf, noch ein paar symbolische Fotos mit Bolzenschneidern vor den bulgarischen Polizisten zu machen, und dann nach Hause zu fahren. Enttäuschte und ratlose Gesichter. „Jetzt fühle ich mich wie ein Fotodirigent, eben war ich noch Revolutionsheld", hört man Stefan Pelzer enttäuscht sagen. Er hätte wohl gern ein paar Bilder am tatsächlichen Grenzzaun gehabt.

Ein zweiter Versuch über einen anderen Weg steht noch in der Luft, aber irgendwie biegt dann auf dem Rückweg doch niemand ab. Enttäuschte Aktivisten laufen in kleinen Gruppen auf den Feldwegen die Hügel hinab zurück zum Bus. Es herrscht Uneinigkeit darüber, wie erfolgreich die Aktion war: Hätte man versuchen sollen durchzubrechen und sich im Zweifel dabei verhaften lassen? Hatte man überhaupt eine Chance, an den Zaun zu kommen? Ging es überhaupt jemals darum, Löcher für Flüchtlinge in den Zaun zu schneiden? Oder ist es optimal gelaufen, denn Medienaufmerksamkeit war da und niemand sitzt im bulgarischen Knast und es gab auch keine Schlägerei mit bulgarischen Hooligans?

In den Büschen nebenher laufen bulgarische Polizisten. Darüber kreist immer noch der Hubschrauber. Die mitgereisten Fotografen machen bei den Bussen Bilder von zwei alten Frauen aus dem Dorf. Sie freuen sich und sagen, wir sollten doch bald wiederkommen.