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Sorry, GamerGate: 2015 wird das Jahr der Diversität in Videospielen

Innerhalb der Videospiel-Community tobt nun schon fast ein halbes Jahr lang ein Kulturkampf, der teilweise mit sehr schmutzigen Mitteln ausgetragen wird. Was war da los und wie wird das kommende Spielejahr?
Foto: gruntzooki | photopin | cc

Vor ein paar Tagen hat Zoe Quinn—jene Spieleentwicklerin, die gemeinsam mit Anita Sarkeesian als unfreiwilliger Auslöser der erzreaktionären GamerGate-Bewegung gesehen werden kann—einen Blogpost darüber geschrieben, dass sie immer noch kein gewöhnliches Leben führen kann. Die ständigen Account-Hack-Versuche und Todesdrohungen, nicht nur an sie selbst, auch an Familie und Freunde, seien mittlerweile quasi zur Routine geworden und sie kann nach wie vor nicht in ihrem eigenen Bett schlafen.

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Zum ersten Mal spricht sie nun auch über ihre Erfahrungen mit dem Rechtssystem. Es schien ein großer Spaß gewesen zu sein, dem durchschnittlichen Polizisten oder Richter Dinge wie „4chan" oder „GamerGate" zu erklären. Ähnlich komplex erwiesen sich die geleakten beziehungsweise von fleißigen GamerGatern öffentlich sezierten Gerichtsdokumente, in denen schon ein Stottern als Beweis dafür gilt, dass alles nur gelogen und erfunden sein kann und ein gefinkelter Plan Quinns, sich als Opfer darzustellen und Aufmerksamkeit erhaschen zu können.

Screenshot aus dem Spiel Alien: Isolation.

Rufen wir uns in Erinnerung, was der Grund für diesen monatelangen Psychoterror ist, nämlich ein Gratis-Indie-Game, genauer gesagt ein kurzes Twine-Spiel über Depression. Für dieses hat sich Quinn angeblich ein positives Review durch Sex erkauft, was um „Ethik im Videospieljournalismus" besorgte Videospieler auf den Plan gerufen hat. Die haben sich daraufhin unter dem ausgerechnet von Adam Baldwin geprägten Hashtag #gamergate zu einer gleichnamigen Bewegung formiert.

Der Witz an der ganzen Sache ist, dass es das besagte Review niemals gegeben hat. Die Anschuldigung ist nachweislich frei erfunden. Der kollektive Zorn auf Quinn rührt ganz woanders her, nämlich von einem Blog eines zutiefst verbitterten, gehörnten Ex-Freundes Quinns. Dort lässt er sich seitenweise und überdramatisch darüber aus, was Quinn für eine furchtbare manipulative Schlampe sei, was er mit zahlreichen privaten Konversationen zwischen den beiden „belegt".

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Viele Dinge sind hier zusammengekommen und haben sich aufgeschaukelt. Zuallererst einmal himmelschreiende Misogynie, für die der gestörte Blog des besagten Ex-Freundes ein ungeheuer wirksames Ventil war. Aber auch Unverständnis darüber, dass hier jemand ein kleines Text-Adventure über ein persönliches Thema macht und Teile der Videospielpresse das gut finden, obwohl das Spiel so gar nicht in das traditionelle Modell der AAA-Videospielindustrie passt, in dem Spiele allem voran als technische Produkte gelten.

Das ist die „böse, gegen die Videospielindustrie konspirierende" Anita Sarkeesian. (Foto: flickr mit CC 2.0)

Es ist nicht verwunderlich: Wir wurden über Jahrzehnte darauf trainiert, dass sich der Wert eines Videospiels durch seine Feature-Liste definiert: modernste Grafik- und KI-Technologie, aufwändige Soundtracks, große Spielwelten, hohe Langzeitmotivation. In Magazinen wurden (und werden) Spielerezensionen häufig mit Graphen, Diagrammen und Tabellen versehen; detaillierte Prozentwertungen in einzelnen Kategorien geben über die Qualität von Grafik, Sound und Steuerung Auskunft.

Diese dominante Form von Videospielkultur hat traditionell ein eher homogenes Zielpublikum: jung, männlich, weiß, gut situiert, technisch interessiert—das, was man landläufig als „Gamer" bezeichnet hat. In den letzten Jahren ist das langsam gekippt. Diverse Faktoren haben dafür gesorgt, dass Videospiele und ihr Publikum sich immer stärker diversifiziert haben, und 2014 war das Jahr, in dem das deutlicher geworden ist als je zuvor. Unter anderem durch die YouTube-Serie „Tropes vs. Women in Video Games" von Anita Sarkeesian, die Videospiele aus einer populärwissenschaftlich-feministischen Perspektive betrachtet, und das mit mehr snark, als manchem männlichen Zuschauer lieb war.

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Die schiere Heftigkeit der Proteste auf ganz normale, dezent kritische YouTube-Videos, deren Thesen nun wirklich niemanden überraschen sollten, waren—ähnlich wie im Fall Zoe Quinn—ein deutliches Zeichen dafür, dass in der Videospielkultur seit Jahren einiges falsch läuft: Eine Flut an Beschimpfungen, persönlichen Angriffen und Todes-/Vergewaltigungsdrohungen prasselte auf Sarkeesian ein. Man konnte öffentlich kaum über die Inhalte diskutieren, ohne dass sofort Links zu halbstündigen, aggressiven Antwortvideos gespammt wurden.

Was ist hier passiert? Wie konnte aus derart nichtigen Anlässen eine ganze „Bewegung" entstehen, die nach einem halben Jahr immer noch existiert und Leuten das Leben zur Hölle macht? Und wofür genau?

Man hat das Gefühl, Videospiele befinden sich in einer Art Pubertät und fangen schön langsam wirklich an, erwachsen zu werden. Sie sind jetzt als gesellschaftliches Phänomen verbreitet und allgegenwärtig genug, dass sie eine Vielfalt an Stimmen aus allen möglichen Richtungen als Ausdrucksmittel verwenden, über sie sprechen und sich in ihr vertreten sehen wollen.

Wer hätte gedacht, dass diejenigen, die am lautesten dagegen protestieren, dass sich Videospiele durch immer größere Vielfalt bis in die Mitte der Gesellschaft vorarbeiten, die Videospieler selbst sind? Eigentlich ist es logisch: Es ist wie, wenn du eine Band entdeckst, die niemand kennt und die deine Eltern dumm und gefährlich finden. Noch dazu ist die Band dermaßen uncool, dass du von den Mädchen in deiner Klasse ausgelacht und von den Burschen als „Nerd" abgestempelt wirst. Die Fanbasis dieser Band entwickelt naturgemäß eine sehr isolierte und defensive Attitüde. (Ich überlasse es den Musikexperten, Beispiele aus der echten Welt zu finden.) Jahre später wird die Band langsam von mehr und mehr Leuten gehört, bis sogar deine Eltern, die lachenden Mädchen und Alpha-Typen von damals, daherkommen und einen Platz in der Fankultur einfordern.

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Der Haken an diesem Vergleich ist, dass Videospiele keiner Band entsprechen. Oder auch nur einer Musikrichtung. Die Frage ist nicht: Sollen Videospiele Punk bleiben oder Pop werden? Videospiele sind in dieser Gleichung nicht Punk oder Pop oder Hip Hop oder Volks-Rock-&-Roll. Videospiele sind Musik. Und Musik kann alles sein. Peter hört am liebsten Klassik und Jazz. Paul findet J-Pop super, aber auch hie und da skandinavischen Black Metal. Maria mag Indie-Rock und traurige Mädchen mit Gitarren. Und kein Fan von Taylor Swift hat sich jemals von Zwölftonmusik bedroht gefühlt.

GamerGate-Vertretern scheint gemeinsam, dass Videospiele für sie befreiender Eskapismus sind, Urlaub von den Problemen der realen Welt. Jetzt wird plötzlich mehr und mehr über Spiele berichtet, die sich kritisch mit politischen und sozialen Themen auseinandersetzen. Psychische Erkrankungen. Sexuelle Identitäten. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Kolonialismus. Kleine Spiele von Einzelpersonen, die mit den traditionellen Werkzeugen der Videospielkritik (sprich „Wie hoch ist die Auflösung?" oder „Wieviel Wert erhalte ich für mein Geld?") kaum beurteilbar sind, weil Far Cry 4 und Destiny immer die bessere Grafik und die größere Spielwelt haben werden. Dass diese Kriterien nicht der Weisheit letzter Schluss für eine Kunstform sind, sollte sich von selbst verstehen, tut es aber für viele nicht.

2015 wird ein spannendes Jahr, in dem die Auswirkungen dieser Kontroverse langsam Gestalt annehmen werden. Außer Frage dürfte stehen, dass Videospiele sich noch weiter diversifizieren und inklusiver sein werden. Bereits vor über einem Jahr hat das deutsche Entwicklerteam Maschinen-Mensch, deren vielversprechende Roguelike-Entdecker-Simulation TheCurious Expedition im Juli erscheinen wird, als direkte Reaktion auf eines von Sarkeesians Videos das Projekt #femcrunch ausgerufen. Bis dahin gab es in dem Spiel nämlich sieben männliche und nur einen einzigen weiblichen Charakter—das berühmte Smurfette Principle in Aktion.

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Hier wäre das klassische GamerGate-Argument, dass die Protagonisten des Spiels allesamt wichtige historische Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts sind. Da ist es doch nur selbstverständlich, dass die Anzahl an männlichen Figuren überwiegt, richtig? Falsch. Etwas Recherche seitens Maschinen-Mensch hat einen Haufen hochspannender, weiblicher Persönlichkeiten der Zeit ans Licht gebracht, die einfach bisher einen geringeren Bekanntheitsgrad hatten. Jetzt können wir durch das Spielen von The Curious Expedition also sogar Dinge lernen, wie dass Ada Lovelace nicht etwa eine Seventies-Pornodarstellerin, sondern die erste Computerprogrammiererin der Welt war. Wem das schaden soll, das soll bitte gern jemand erklären.

Aber nicht nur im Indie-, sondern auch im AAA-Bereich kann man davon ausgehen, dass wir 2015 deutliche Spuren eines Umdenkens bemerken werden: So wäre es sehr überraschend, wenn Assassin's Creed: Victory mit einem Ko-Op-Modus erscheint, der vier männliche Assassinen, aber keinen einzig weiblichen als Avatar anbietet und das gar mit „Es wäre zu viel Arbeit" argumentiert, wie es im letztjährigen Unity noch der Fall war.

Aber wer jetzt schon vor Angst schlottert angesichts der bevorstehenden kulturell-marxistischen Dystopie, kann beruhigt aufatmen: Es wird trotzdem noch ausreichend Spiele geben, in denen einfach nur weiße Männer Badasses sind und sehr große Waffen abfeuern. Garantiert.

Mehr von Andi auf Twitter: @schirmsprung


Titelfoto: gruntzooki | photopin | cc