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Wie mich der Kampf für weibliche Selbstbestimmung nackt in die Ausnüchterungszelle brachte

Am Samstag marschierten Tausende Abtreibungsgegner durch Zürich. Eine Gegendemonstrantin berichtet von ihren Erfahrungen.
Alle Fotos von VICE CEE

Der Marsch fürs Leben ist eine internationale Veranstaltung fundamentaler Christen und Rechtskonservativer mit dem Ziel, mir zu sagen, was ich mit meiner Gebärmutter anstellen soll. 2002 fand er erstmals in Berlin statt, in der Schweiz geht er seit 2010 über die Bühne (und auch in Österreich marschiert man). Organisationen aus sieben anderen Ländern beteiligen sich jeweils daran.

Ihre Devise: Eine Abtreibung ist ein Mord und sollte ebenso (zumindest gesellschaftlich) verurteilt werden. Letztes Jahr gabs beim Umzug Kindersärge und auf der Website abstossende Videos mit rührseliger Musik und leeren Spielplätzen. Als Ersatz dafür mussten heuer Bilder von einem Fötus im Mutterleib mit der Aufschrift „Total Mensch!" oder „Ja zum Leben" herhalten. Kinder mit Trisomie21 wurden demonstrativ auf einen Wagen gespannt, als ob die schlechte Integration behinderter Menschen in der Gesellschaft der Fehler der abtreibenden Frauen sei. Gegen die Präimplantationsdiagnostik, die das Volk diesen Juni angenommen hatte, wurde ebenfalls gewettert. Als ob nicht eh so oder so abgetrieben würde. Als ob es sinnvoller wäre, risikoreiche Mehrlingsschwangerschaften zu unterstützen.

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Ich war zusammen mit drei Kolleginnen anwesend. Wir versammelten uns am Samstag kurz vor 14:00 Uhr in der Nähe des Bahnhofs Oerlikon. Auf der Gegenseite standen 3500 Menschen. Darunter einige Familien. Hauptsächlich aber unglaublich viele unglaublich alte Leute. Und ja, wir haben es versucht. Wir haben uns echt auf Gespräche eingelassen. Gefragt, wies denn mit der „Heiligkeit des Lebens" so steht, wenn es um Asylpolitik geht. Gefragt, warum sie sich das Recht nehmen, Frauen diesen Entscheid wegzunehmen. Gefragt, ob es denn wirklich verantwortungsvoll sei, ein Kind zu gebären, wenn man ihm keine stabile Lebensgrundlage bieten könne. Und siehe da: Diskutieren wollte irgendwie niemand. Und wenn, dann wurden wir als Mörderinnen bezeichnet. Ich habe mal die Pille danach genommen. Also schliesst mich das wohl ein.

Foto: Yves Bachmann

Ich war letztes Jahr auch schon dabei gewesen. Wir hatten uns einen ziemlichen Wettlauf mit der Polizei geliefert, weil sie uns daran hindern wollte, in die Nähe des Demonstrationszuges zu kommen. Wir waren friedlich geblieben und wollten das auch heuer bleiben. Gleich nach unserer Ankunft schloss sich ein Grossteil der GegendemonstrantInnen also mal zusammen. Ein Fehler. Wir wurden ziemlich schnell von 30 PolizistInnen in voller Kampfmontur eingekreist. Niemand kam aus dem Kessel heraus. Nicht mal ein Demonstrant in Krücken. Wir machten dennoch das, wofür wir gekommen waren: Lärm. Haltung zeigen. Nicht akzeptieren, dass uns das hart und lange erkämpfte Recht von reproduktiver Selbstbestimmung aberkannt werden soll.

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Um 14:30 Uhr preschten ein paar Polizisten mit Pfefferspray und Schlagstock in unseren Kessel und nahmen die Soundanlage mit. Einige wurden dabei zu Boden gedrückt, verletzt wurde zum Glück niemand. Wer Pfefferspray in die Augen bekam, wurde von Kollegen mit Milch und Wasser behandelt. Soweit, so schlecht.

Irgendwann, gegen 16:00 Uhr, schienen die PolizistInnen genug zu haben und begannen damit, uns einzeln abzutransportieren. Sie rissen uns ziemlich rabiat aus der Menge, fesselten danach unsere Hände mit Kabelbindern und schmissen uns jeweils zu acht in einen Kastenwagen. Mit Blaulicht ging es dann in Richtung Innenstadt.

Hinten im Wagen war die Stimmung noch recht locker. Wir schafften es, trotz gefesselter Hände Antirep anzurufen und konnten uns irgendwann auch aus den Kabelbindern lösen. Als wir endlich auf dem Revier hinter der Sihlpost ankamen, mussten wir ID und Effekte abgeben, erhielten mit Filzstift eine Kontrollnummer auf die Hand geschrieben und wurden in eine Ausnüchterungszelle geführt. Ich bin nicht klaustrophobisch, aber die Wartezeit in diesem fensterlosen Raum mit greller Beleuchtung erfüllte ihren Zweck.

Dann kam eine übel gelaunte Polizistin und sagte mir, ich solle meine Kleider ausziehen. Und ich machte meinen zweiten Fehler: Ich wusste zwar, dass ich meine Aussage verweigern kann und nichts unterschreiben muss, doch ich war mir bei der Intimuntersuchung nicht über meine Rechte im Klaren. Ich war zu diesem Zeitpunkt ziemlich sauer und begann, mich auszuziehen. „Die Unterhosen auch", sagte die Polizistin. Ich fragte, ob das denn jetzt wirklich sein musste. Sie sagte: „Ja. Wir müssen schauen, ob Sie nicht noch etwas versteckt haben."

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Ich zog mich aus, stand nackt in dieser beschissenen Zelle, musste mich umdrehen. Ich weiss nicht, was ich getan hätte, wenn sie mich angefasst hätte. Aber ich weiss, dass ich dafür Ärger bekommen hätte. Einer anderen Kollegin wurden die Fingerabdrücke abgenommen—ansonsten hätte sie nicht auf die Toilette gehen dürfen.

Foto: VICE CEE

Später wurde ich in ein Büro geführt, wo meine Identität überprüft wurde. Ein Polizist fragte mich, was ich arbeite und wo ich heute war. Ich sagte, ich hätte es leider vergessen. Er war genervt, ich war genervt. „Störung einer bewilligten Demo", war der Grund meines unfreiwilligen Besuches bei ihm und seinen Kollegen. Die Folge: Ich durfte am Samstag bis 18:00 Uhr nicht mehr in der Nähe des Bahnhofs von Oerlikon aufkreuzen.

Als ich gehen durfte, standen die anderen auf dem Trottoir und warteten, bis alle draussen waren. Ich erfuhr, dass nicht alle das Vergnügen einer Intimuntersuchung gehabt hatten. Ich erfuhr, dass einige gar nicht mehr untersucht wurden, weil der Arbeitsaufwand bei 100 Leuten—so viel schleppte die Polizei von Oerlikon mit aufs Revier—wohl zu gross gewesen war. Dass einer deutschen Kollegin gesagt wurde, sie solle wieder nach Deutschland. Dass einem Ex-Arbeitskollegen der Arm verdreht wurde. Dass eine Freundin hörte, wie ein Polizist meinte, man solle uns lieber mal die Nase brechen. Kann ich das beweisen? Nein, kann ich nicht.

Foto: VICE CEE

Aber ich war dort und mein Vertrauen in die Polizei hat gelitten. Bis am Samstag dachte ich, dass PolizistInnen nur das machen, was sie eigentlich machen dürfen. Ich habe kein Problem mit Nacktheit. Aber in einem fensterlosen Raum mit grellem Licht vor einer uniformierten Polizistin zu stehen und sich auf Befehl ausziehen zu müssen, ist demütigend und unheimlich.

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Vor zwei Wochen war ich an einer Solidaritätsbekundung für Flüchtlinge auf dem Zürcher Helvetiaplatz. Wir hatten Kinder dabei, waren friedlich. Die Antwort der Polizei kam in Form von Gummischrot. Mitten in die Menge. Von Pfefferspray. Gegen ältere Menschen gerichtet. Ich weiss auch nicht, was die Strategie der Zürcher Polizei ist. Aber ich weiss, dass eine Eskalation mit solchen Mitteln nur provoziert wird. Wir sind friedlich. Was seid ihr?

Ich bin der Meinung, dass diese Behandlung nicht gerechtfertigt und in keinem Verhältnis zu unserem Verhalten war. Von meinen Kolleginnen war niemand vermummt. Wir waren zum Zeitpunkt der Demo sauer—aber nicht aggressiv. Und ich persönlich trage eh zu viel Tüll, um irgendwie mit dem schwarzen Block in Verbindung gebracht zu werden. Wir haben nichts rumgeworfen. Wir respektieren, dass Menschen gläubig sind. Aber wir respektieren nicht, dass jemand seine Überzeugungen anderen Menschen aufdrängen will. Für dies wurden wir am Samstag behandelt wie Schwerverbrecher.

Hier gibt es weitere Bilder vom Marsch reaktionärer Abtreibungsgegner.

Anne-Sophie kämpft für ihr Recht auf Selbstbestimmung auf Twitter: @lesliegore

Vice Schweiz findest du ebenfalls auf Twitter: @ViceSwitzerland