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Video Games Killed the Radio Star

Ist es schlimm, einen Psychopathen zu lieben?

Auch in Far Cry 4 schwankt man stetig zwischen Liebe und Abscheu zum Gegenspieler. Müssen wir uns unserer Gefühle schämen?

Ihr sitzt in einem Bus, der durch Kyrat rumpelt, eine Region am Fuß des Himalaya, die ihr als Kind verlassen habt. Plötzlich wird das Gefährt von Soldaten gestoppt, die kurz darauf den Fahrer erschießen. Ihr versucht zu fliehen, als urplötzlich ein Hubschrauber vor euch landet. Heraus steigt Pagan Min, der brutale Diktator, der eure Heimat mit eiserner Faust regiert. Wütend sticht er mit einem Messer auf einen der Soldaten ein, der die Situation hat eskalieren lassen. Anschließend umarmt er euch wie einen alten Freund und verspricht, dass ihr viel Spaß miteinander haben werdet. Aber Min ist nicht euer neuer bester Kumpel. Er ist der große Antagonist in Far Cry 4 und wird euch im Laufe der Storymissionen das Leben zur Hölle machen.

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Zwei Jahre zuvor erwachte man gefesselt im Camp einer Sklavenhandel-Gruppierung. Direkt neben einem, immer ein bisschen zu nah, immer ein bisschen zu intensiv: Vaas Montenegro, Anführer der Piraten und der erste Bösewicht, mit den einen das Spiel konfrontiert. Drogenabhängig, unkontrollierbar, zutiefst traumatisiert durch seine Familiengeschichte und mehr mit dem Protagonisten verbunden, als man im ersten Moment erwartet—der Posterboy von Far Cry 3 WAR das Spiel, mit all seinen spielerischen Stärken und inhaltlichen Schwächen. Ursprünglich als 0815-Bösewicht angelegt verwandelte der bis dato eher unbekannte Schauspieler Michael Mando (Orphan Black) den gepeinigten Vaas in einen der ikonischsten Videospielecharaktere des Jahrzehnts, wenn nicht sogar der gesamten Gaming-Geschichte. Die Kritiker waren begeistert, die Fans sowieso. Ubisoft hat daraus gelernt und den künstlerischen Zufall zum neuen Erfolgsrezept erklärt.

Alle Screenshots: Ubisoft Entertainment

Im Fall von Far Cry 4 trägt das Böse einen wasserstoffblonden Hipster-Haarschnitt und einen pinken Anzug. Diese Überinszenierung der Charaktere ist wichtig für das Spielerlebnis. Vor der überbordenden Open-World-Umgebung verblasst alles Reduzierte und Subtile. Ein überpräsenter Protagonist nervt, wenn man über Stunden hinweg einfach nur Landschaft und versteckte Nebenmissionen erkunden will. Das schillernde, spektakulär inszenierte Böse hingegen fasziniert.

Trotzdem, oder vielleicht auch gerade deswegen, serviert einem Ubisoft seine Psychopathen nur in kleinen Häppchen. Sie sollen einen ins Spiel ziehen, eine Art Langzeitmotivation liefern. Wirklich präsent sind sie über den Großteil der Story hinweg dann allerdings nicht.

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Die Gründe dafür, warum uns Psychopathen so sehr faszinieren, sind ebenso vielfältig wie verständlich—insbesondere in Videospielen. Hier können wir handeln, ohne eine moralische Linie zwischen dem Gedanken und den tatsächlichen Folgen ziehen zu müssen. Gleichzeitig: Wie können wir trotz all den abgeschlachteten Gegnerhorden, überfahrenen NPCs und sinnlos gehäuteten Tieren noch der Böse sein, wenn uns jemand vor die Nase gesetzt wird, der seine eigenen Leute wegen Lappalien absticht? Niemand muss über Vergewaltigung und Menschenhandel nachdenken, wenn man sich vor schillernder Diskokulisse einen Messerkampf mit einem Zwischengegner liefert. Die Inszenierung und Handlung unserer Gegner legitimiert unser Tun.

Wären Ubisofts Far Cry-Charaktere aber einfach nur durch und durch verabscheuungswürdige Sadisten, würde eine wichtige Ebene fehlen: die der zumindest im Ansatz bestehenden Identifikation, die sie erst so interessant für uns macht. Das kleine bisschen Restsympathie, das wir dann doch für die Männer haben, die uns—zumindest in den Hauptmissionen—das Leben zur Hölle machen. Das kann natürlich zum einen dem Fakt geschuldet sein, dass Psychopathen mitunter ganz genau wissen, wie sie andere Menschen manipulieren können. Zum anderen ist das wirklich Faszinierende an diesen Charakteren nicht die Überlegenheit, die sie in den gescripteten Cutscenes gegenüber dem Spieler zeigen.

Was Vaas und Pagan so intensiv und, ja, auch verstörend macht, sind die Momente, in denen das Bild des übermächtigen Endgegners bröckelt. Die Sequenz in Far Cry 3, in der man von dem drogensüchtigen Piratenanführer angefleht wird, sein Leid endlich zu beenden, während man sich in einem psychodelisch-albtraumhaften Abbild seines zerrütteten Geistes zu befinden scheint. Die Momente in Far Cry 4, in denen Min inmitten seiner Söldner irgendwie einsam wirkt. Die Szene gleich zu Beginn, wenn er sich wie ein Kind darüber freut, dass mit dem Protagonisten eine Figur auftaucht, zu dessen verstorbener Mutter er eine gewisse Verbindung hat. Diese Bilder zeigen keinen seelenlosen Bossgegner, auf den man am Ende eines Levels so lange schießen muss, bis er irgendwann umfällt. Sie bieten zumindest die Illusion eines tatsächlichen Menschen hinter all den Waffengurten und den Blutflecken auf dem pinken Anzug. Kein Wunder also, dass zumindest zu Far Cry 3 Dutzende Fantheorien—und noch verstörendere Fanfictions—existieren.

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Das Problem daran, wenn man eine Story so sehr nach dem großen, bösen Antagonisten ausrichtet, der so präsent, charismatisch und schillernd ist, dass alles andere in den Hintergrund rückt, ist aber folgendes: Wenn er irgendwann stirbt—und davon ist bei einem Videospiele-Boss in aller Regel auszugehen—, bleiben nur noch die ständig respawnenden Handlanger. Die Tiger und Wölfe, die einem das Schatzkistenfinden ein bisschen schwerer machen. Die zugegebenermaßen wunderschön inszenierte Landschaft, deren Panorama einem in Far Cry 4 regelrecht den Atem nimmt.

Zugute halten muss man Ubisoft, dass sie mit Kyrat einiges besser machen als bei der Vorgänger-Geschichte auf den Rook Islands. Die Welt ist rein flächenmäßig kleiner als die tropische Inselwelt des Vorgängers, dafür die Himalaya-Region deutlich lebendiger. Auch wenn Far Cry 3 sich den Wahnsinn als Spielelement bewusst auf die Fahnen geschrieben hatte, ist es der Nachfolger des Erfolgsspiels, der so over-the-top ist, dass man zwischenzeitlich sogar komplett vergisst, dass irgendwo da draußen der Diktator Pangan Min mit seiner Armee lauert. Wo Franchises wie Call of Duty auf braungraue, pathetische Heldengeschichten wie aus einem US-Army-Werbefilm setzt, wirft sich Far Cry noch eine Pille ein und reitet jauchzend auf einem Elefanten (!) in die nächste Schlacht.

Die Ablenkung vom—bis auf den charismatischen Bösewicht—äußerst generischen Plot, konnte Ubisoft schon immer gut. Mit dem neuesten Teil der Far Cry-Reihe haben sie einmal mehr einen ebenso spaßigen wie tödlichen Spielplatz für Freunde fatalen Waffeneinsatzes geschaffen. Trotzdem bleibt fragwürdig, über wie viele weitere Titel sich das Konzept des immer krasseren Psychos noch trägt. Es gibt schließlich nicht gerade viele Schauspieler im Gaming-Kosmos, die dem Mann hinter Pagan Min, Troy Baker (aka Joel aus The Last Of Us oder Booker DeWitt aus Bioshock Infinite), das Wasser reichen können. Bis dahin: Entschuldigt mich bitte, ich muss mich vor Nashörnen, Adlern und Schneeleoparden in Sicherheit bringen. Rein spielerisch gesehen sind sie nämlich die wahre Gefahr in Far Cry 4.

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