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"Das Metall in deiner Hand steuert mich": Wenn ein Freund an Schizophrenie erkrankt

Wenn ein Freund eine Psychose hat, gerät man auch selbst schnell in die Krise.
Titelbild: Fabio Venni | flickr.com | CC BY-SA 2.0

Es war ein wenig wie in einem Horrorfilm. Ein Mensch, den du schon lange kennst, ist plötzlich jemand anderer. Dass mir das passieren würde, ahnte ich nicht, als ich mal wieder bei Paul* vorbei schaute. Er war kürzlich aus den Winterurlaub zurück gekommen. Als wir uns begrüßten, brauchte er einen Moment länger, um zu reagieren, als normal gewesen wäre.

Er wirkte die ganze Zeit abwesend und hatte noch öfters solche Aussetzer. Nach den Treffen war ich etwas besorgt und rief Pauls Ex-Freundin Sarah* an, die ebenfalls Teil unseres Freundeskreises war. Ich wusste, dass Paul schon einmal eine psychotische Phase hatte und mit Schizophrenie diagnostiziert wurde. Sarah hatte diese Zeit miterlebt und deshalb erzählte ich ihr, was passiert war. Sie meinte, ich solle mir keine Sorgen machen und sie würde sich bei Paul melden.

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Einige Tage später rief Sarah an. Paul gehe es nicht gut. Ich fragte, was los sei, aber sie sagte nur, ich solle Paul besuchen. Das machte ich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Als ich bei Paul ankam, wurde aus den mulmigen Gefühl ein unwirkliches Erlebnis. Paul war total manisch. Er wuselte im Zimmer herum und redete irgendwas. Er reagierte nur teilweise auf mich.

Meine Versuche, ihn zu fragen, ob es ihm gut gehe—ob er gemerkt hat, dass er sich verändert hat und ob er nicht zu einen Arzt gehen will—blieben unbeantwortet. Er war wie ausgewechselt. Wenn es nicht derselbe Körper gewesen wäre, der da vor mir stand, ich hätte Paul nicht wiedererkannt. Verstört ging ich nach Hause. Sarah und ich vereinbarten ein Treffen, um einen Plan zu schmieden.

Zuerst waren wir einfach geschockt und machten uns ständig Sorgen. Paul war nicht mehr er selbst, und wer konnte schon wissen, was er als nächstes tun würde? Man hört immer wieder davon, wie Menschen im Wahn sich selbst oder andere gefährden. Tatsächlich betrifft das nur einen ganz geringen Teil der Erkrankten, aber das weiß man nicht, wenn man sich nicht damit beschäftigt hat. Paul war in unseren Augen jedenfalls nicht mehr zurechnungsfähig. Wir wollten ihm helfen.

Sein Zimmer sah von Besuch zu Besuch schlimmer aus. Es glich immer mehr seinem Geisteszustand.

Leute aus unseren Freundeskreis verabredeten sich, um Paul abwechselnd jeden Tag zu besuchen. So hatten wir ein Auge auf ihn. Und wir konnten auf ihn einreden, in ärztliche Behandlung zu gehen und Medikamente zu nehmen! Solange keine Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegt, kann niemand zu einer Behandlung gezwungen werden. Und Paul hatte keine Lust auf eine Behandlung. In den folgenden Wochen besuchten wir also Paul und versuchten erfolglos, mit dem Anliegen durchzudringen, er solle Medikamente nehmen.

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Sein Zimmer sah von Besuch zu Besuch schlimmer aus. Nicht nur, dass er nicht mehr aufräumte. Er begann nach und nach, alle technischen Geräte zu zerlegen. Er verrückte willkürlich Einrichtungsgegenstände. Sein Zimmer glich immer mehr seinem Geisteszustand. Auch äußerlich veränderte er sich. Er nahm ab, scherte sich die Haare vom Kopf. Paul gefährdete vielleicht nicht sein körperliches Wohl, aber es schien er zerstört langsam seinen Besitz und seine Zukunft.

Thomas* war einer der besten Freunde Pauls und musste sich besonders viel Vorwürfe anhören. Er hatte sich vor kurzem die Hand gebrochen und noch Metallschienen implantiert. Diese übten auf Paul eine besondere Anziehungskraft aus. Sie steuerten ihn angeblich, wie er Thomas mitteilte. Es kam diesbezüglich zu Streit. Manchmal wollte Paul ihn aufgrund des Metalls in seiner Hand nicht sehen. Paul nahm alles, was um ihm herum geschah, als Kommentar auf sich selbst wahr. Ständig sprach er davon, wie Dinge ihn beeinflussten.

Im ersten Schock konnte niemand von uns nicht richtig darüber nachdenken, was gerade passierte. Wir waren voller Mitleid und Tatendrang. Nach einer gewissen Zeit wurden daraus Zweifel und Hilflosigkeit. Wird es Paul jemals wieder besser gehen? Nicht alle finden den Weg zurück. Wie wird er danach drauf sein? Wann kommt der nächste Anfall? Kommt überhaupt ein nächster?

Zu Beginn dachte ich noch, wir könnten auf die Situation einwirken. Jetzt fühlte ich mich so, als wäre ich vollkommen hilflos. Tun wir überhaupt das richtige? Wir konnten Paul nicht helfen. Wir konnten ihn nicht überzeugen, sich in Behandlung zu begeben. Paul war jetzt ein anderer. Normalerweise gehst du in Behandlung, wenn du eine schwere Erkrankung hast. Daran dachte Paul überhaupt nicht. Mittlerweile wurden die Besuche von uns immer seltener. Die Treffen waren immer belastender. Wenn ich Pauls Zimmer betrat, fühlte ich mich wie in einer psychiatrischen Klinik.

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Paul war die ganze Zeit sehr aktiv und bezog einen in seine Wahnvorstellungen ein. Zunehmend gab es Streitereien. Aus Hilflosigkeit und Zweifel entwickelten sich langsam Wut und Resignation.

Eine Frage, die ich mir immer wieder stellte, war: Warum verstellt sich Paul vor den Ärzten, und lässt seinen Wahn an uns aus? Kann man Paul einer zwangsweisen Behandlung zuführen? Ist das eine gute Idee oder sind wir selbst nicht mehr bei Verstand? Am Ende strengten wir keine Einweisung an. Weil es, egal wie man es versucht hätte, ein Vertrauensbruch gewesen wäre. Es hätte wohl alles nur noch schlimmer gemacht.

Wir begegneten uns zufällig. Er trug einen Strohhut zu seiner Winterjacke und lief draußen herum.

So kam es schließlich, dass sich einer nach dem anderen von Paul zurückzog. Paul nicht mehr ständig zu sehen, tat mir gut. Es war alles andere als OK, den Kontakt so abzubrechen. Man könnte sagen, ich habe Paul im Stich gelassen. Das hätte ich nicht sollen. Aber es war damals so. Ich brauchte den Abstand, nachdem ich die Situation zu nahe an mich ran gelassen hatte. Ich musste mich damit abfinden, dass ich nicht viel tun konnte.

Erst dann konnte ich das Geschehene verarbeiten. Mit den Gedanken klar kommen, dass Paul vielleicht nie wieder so wird, wie er einmal war. Ich hörte zwar noch von Freunden, wie es Paul ging (keine Veränderung), aber ich sah ihn nicht mehr. Einige Zeit später lief ich ihm dann mal zufällig über den Weg. Er lief nun viel draußen herum. Es war Frühling, er trug einen Strohhut zu seiner Winterjacke und fragte mich, ob ich etwas trinken gehen will. Ich verneinte.

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Hier endet die Geschichte zum Glück nicht. Einige Tage später bekam ich von Sarah die Nachricht, dass Pauls Mutter angerufen hatte. Sanitäter konnten Paul überzeugen, sich in stationäre Behandlung zu begeben. Ein paar Wochen später war er wieder draußen.

Das ist nun schon ein paar Jahre her. Heute sehe ich ihn regelmäßig. Er hat eine Freundin, eine Wohnung und einen Job. Er nimmt seine Medikamente. Ich weiß nicht, ob er der Alte ist, aber das ist nicht schlimm. Ich bin immerhin auch nicht der Alte. Menschen entwickeln sich und werden durch ihren Lebensweg zu dem, was sie sind. Insofern passt es, wie es ist. Wir verstehen uns gut.

Ich habe vieles falsch gemacht mit Paul. Natürlich ist es wichtig, dass man selbst eine gewisse emotionale Distanz wahrt und sich Auszeiten von den Problemen der anderen nimmt. Man sollte weiter ein normales Leben führen und sich nicht verrückt machen lassen. Und ja, Hilfe ist auf Dauer nur möglich, wenn die betroffene Person sie auch will. Aber oftmals lehnen Menschen mit psychotischen Schüben im ersten Schritt ärztliche Hilfe ab—und darauf sollte man nicht einfach so reagieren, wie wenn ein gesunder Freund eine Entscheidung verkündet.

Man sollte dranbleiben, man sollte die Person auf dem Weg zu dieser Einsicht begleiten. Auch die Regelungen für Zwangseinweisungen sind in der Situation oft unverständlich für Angehörige, aber letztlich haben sie nüchtern betrachtet ihren Sinn. Es geht nicht darum, ihnen Hilfe aufzuzwingen, sondern die Menschen dorthin zu bringen, wo sie Hilfe wieder annehmen können. Wenn sie es dann nicht tun, muss man das ohnehin akzeptieren.

* Alle Namen geändert

0,5 bis 1 Prozent der Bevölkerung in Europa leidet an Schizophrenie. Angehörige von Pyschoseerkrankten finden hier und hier Informationen. In Krisensituationen gibt es zudem Hotlines.


Titelbild: Fabio Venni | flickr.com | CC BY-SA 2.0