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Popkultur

Diese Bücher, Platten und Filme solltet ihr euch im Juli reinziehen

'The Girlfriend Experience', 'Tangerine L.A.', Swans und jede Menge anderes Zeug, das du kennen solltest.

Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung von Koolfilm

Aus The Borders Issue TANGERINE L.A.
Sean Baker

Wer hätte gedacht, dass sie so lang stillsitzen kann? Sin-Dee-Rella hat sich gerade von jemandem, den sie bedroht hat, die letzte Zigarette aus der Schachtel genommen, sich anschließend von einem Passanten Feuer geben lassen und sitzt jetzt an der Bushaltestelle und raucht. Klassische Musik donnert aus dem Off. Sin-Dee fällt eine Entscheidung. "Fuck it!" Dann marschiert sie los, um das zu machen, was ihre Freundin Alexandra ihr verboten hatte: Drama.

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Kitana Kiki Rodriguez, die Sin-Dee darstellt, wurde von Regisseur Sean S. Baker in einem LGBT-Zentrum gecastet und hat früher ihr Geld mit Sexarbeit verdient. Mit der ebenfalls "in drag" ihr Geld verdienenden Kollegin Alexandra an ihrer Seite und einer irren physischen Präsenz unter der Perücke spielt sie in Tangerine quasi sich selbst: eine schwarze Transgender-Sexarbeiterin, die von ihrem Freund und Zuhälter Chester betrogen wurde, während sie 28 Tage im Knast für ihn einsaß. Ausgerechnet mit einer Weißen, die auch noch von Geburt an alles hat, was man als Frau biologisch eben so hat.

Nicht dass Sin-Dee mit "vagina and everything" ein Problem hätte oder der Film eine "sensible Milieustudie" draus machen würde. Es geht um ganz normale Probleme, nicht um diejenigen, die Soziologiestudenten so gern stellvertretend für andere haben. "Out here it's all about our hustle. And that's it", sagt Sin-Dee. Die Protagonisten von Tangerine, größtenteils ihre Kolleginnen, sind stolz, und sie sind süchtig: nach Liebe, Anerkennung, Crack. Alexandra singt an einer Stelle des Films für ein müde applaudierendes Publikum in einer Bar. Statt bezahlt zu werden, muss sie dem Besitzer dafür auch noch Geld zustecken. "All my friends are gonna be there!"

Es kommt niemand, außer Sin-Dee, und auch die nur verspätet, mit der "white fish" im Schlepptau, ebenfalls eins von Chesters Girls, die sie buchstäblich an den Haaren aus einem Stundenhotel gezerrt hat. Bei Alexandras zweitem Song verziehen sich Sin-Dee und ihre Geisel, um auf dem Klo eine Pfeife zu ziehen. Jeder lässt hier irgendwann jeden hängen, ist kaputt und mit sich selbst beschäftigt, aber letztlich verbündet man sich dann genau deshalb eben doch. Tangerine ist im Grunde—Gott sei Dank meistens sehr versteckt—ein Film über die Freundschaft.

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Deshalb senken sich hier über all den Wahnsinn und die Lügen auch nicht, wie etwa bei Requiem for a Dream, ständig unheilkündend irgendwelche Geigen, um auch dem blödesten Zuschauer klar zu machen, dass alles den Bach runtergehen wird. Stattdessen drückt uns immer mal wieder ein Synthesizer aus dem Sessel direkt in die Leinwand. Angenehm berauscht und ziemlich verliebt verfolgen wir Sin-Dee, die in ihren High Heels wie ein Boxer durch die Straßen marschiert. Und immer scheint die Sonne, sozusagen als queere Variante von Spike Lees schwarzem Kultfilm Do the Right Thing, nur mit mehr Make-up, ohne Moral und alles viel schneller.

Hier müssen wir nun endlich zu dem kommen, worüber beim Sundance Film Festival letztes Jahr jeder sprach, und darüber völlig vergaß, dass Tangerine in erster Linie einfach ein verdammt guter Film ist: Er wurde mit drei iPhones 5s gedreht, ein paar externen anamorphen Linsen (verändern die Seitenverhältnisse, damit ein Kinobild daraus wird), und der App FiLMIC Pro für 7.99 Dollar. Der Fairness halber: Vor Tangerine hatte das schon And Uneasy Lies the Mind gemacht, aber der kam in Deutschland nie in die Kinos. Außerdem war er scheiße.

So kann man jedenfalls auch Filme machen, in einer Zeit, in der jeder von uns eine Kamera in der Hose mit sich herumträgt: Man hat ein tolles Skript in der Tasche, idealer Weise ein paar hübsche Schauspieler und schon geht's los. Klar, natürlich hat Tangerine insgesamt die—immer noch lächerliche—Summe von 100.000 Dollar gekostet. Trotzdem fühlt man einen seltsamen Kitzel, wenn man ein "Handyvideo" zum ersten Mal auf einer Leinwand sieht: Die haben da einfach mal draufgehalten. Die haben das mit einem scheiß iPhone gemacht. Und dieses Gefühl passt hervorragend zu dem "Fuck Sunset Boulevard"-Stolz von Tangerine, einem Independent-Film in jeder Hinsicht. Es passt auch zur Nähe zum Dokumentarischen, die der Film zum Beispiel dann hat, wenn plötzlich eine Frau auftaucht, deren Hund eben gestorben ist, oder ein alter Indianer, der dringend eine Aspirin braucht.

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Ein guter Geist in der Post-Production hat noch den titelgebenden orangenen Farbfilter drübergelegt und die Körnung des Bildes hochgeschraubt, wodurch Tangerine das sehr spezielle Gefühl eines langen Spätsommers ausstrahlt: Die tief in jeden Stein und jede Hautpore eingesunkene Wärme, das Manische, leicht Halluzinatorische. Im Internet schrieb jemand, der Film habe ihn die ganze Zeit an GTA: San Andreas erinnert, was eine ziemlich spannende Beobachtung ist. Tangerine ist nämlich eben doch authentisch, obwohl hier alles total unecht wirkt, als wäre man in einem Videospiel (einem Handyvideospiel, wenn man so will). Sin-Dee, Alexandra, sogar Chester, alle performen sich einen ab, aber selbst das hat seine Richtigkeit: In L.A. ist jeder ein schlechter Schauspieler.

-PHILIPP BOVERMANN


© 2016 Starz Entertainment, LLC. © 2016 Transactional Pictures of NY LP. All rights reserved.

THE GIRLFRIEND EXPERIENCE
Starz

The Girlfriend Experience zu sehen ist, als ob du Zeuge davon wirst, wie eine junge Frau langsam ihr Leben zerstört—oder doch nicht?

Das STARZ-Drama, produziert von Steven Soderbergh und frei adaptiert nach seinem gleichnamigen Film, verfolgt eine etwas über 20-jährige Jurastudentin, die ein Praktikum bei Kirkland & Allen, einer Chicagoer Anwaltskanzlei bekommt. Im Laufe der Serie wird sie von ihrer Freundin und Mitstudentin Avery in die Welt der Edelprostitution hineingezogen. Christine—die unter dem Pseudonym Chelsea arbeitet—verkauft Sex und intime Gespräche an reiche Geschäftsmänner. Es ist eigentlich kein Spoiler zu erwähnen, dass sich diese beiden Leben mit desaströsen Folgen kreuzen. Aber während diese Folgen die Leben vieler um Christine ruinieren, sind die Auswirkungen auf sie vielschichtiger—und genau das ist einer der interessantesten Aspekte der Serie.

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Es besteht ein verborgener Zusammenhang zwischen der gedämpften Atmosphäre von Christines Büro und der juristischen Fakultät sowie den extravaganten Hotelzimmern, in denen Chelsea übernimmt—in der gesamten Serie ist sie beunruhigend undurchsichtig und zeigt nur selten bis nie Gefühle. In einem aufschlussreichen frühen Moment—bevor sie ihre Sexarbeit beginnt—ist Christine mit Avery auf einer Jobmesse und lernt technische Begriffe von Fällen intellektuell-geistigen Eigentums auf Karteikarten auswendig.

Avery fragt sie, was diese Sätze heißen. "Ist egal", antwortet Christine, "sie wollen nur ihre eigenen Worte von anderen wiederholt hören." Als sie diese Technik bei ihrem Interview mit Kirkland & Allen benutzt, fällt es denen selbstverständlich direkt auf—und dennoch wird sie eingestellt. Sie ist schon jetzt eine Nutte; nur keine besonders gute. Es ist eben schwierig zu widerstehen: Als ihr Leben bei der Firma den Bach runtergeht, fickt Christine Corporate America, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie scheint bei Kirkland nicht viel zurückzulassen—sie steigt einfach von einer Praktikantin zu einer Kleinunternehmerin auf.

-SOFIA GROOPMAN


SWANS
The Glowing Man
Mute

Dies ist laut Ankündigung das letzte Swans Album, nicht nur im Sinne von: das neueste, sondern: das finale. Außerdem ist es bis jetzt das beste Swans 2.0 Album. Abschiede sind immer eine pathetische Angelegenheit, daraus wird auch hier vom ersten Track an kein Geheimnis gemacht, da quietschen die Geigen wie Haloumi, da vibriert und donnert und klagt es. 25, 20 und 28 Minuten lang sind die längsten Stücke auf The Glowing Man, halb Gotteslästerung, halb Mantra. Sie erinnern an die Geschichte vom Sänger von Gang Gang Dance, der sich regelmäßig "bei Gewitter aufs Dach stellte, um den Blitz herauszufordern", bis er eines Tages tatsächlich vom Blitz getroffen wurde und starb. Swans stehen acht Tracks lang auf dem Dach und betteln um den verdammten Blitz. Das Album ist die Zusammenfassung der zweiten Swans-Reinkarnation, schmerzhaft, erhaben und hoffnungsvoll. Wenn es eine perfekte Umsetzung der Vision, die sie mit The Seer und To Be Kind anvisierten, gibt, ist es die hier. Swans 2.0 sollten ja schon immer eine "Band in progress" sein; die Zuhörer sollten mit den Veröffentlichungen zusehen können, wie sich die Band entwickelt. Das neue Album ist der Endpunkt. Es ergibt Sinn, dass sie danach aufhören. Das weiß man spätestens, wenn man die Chöre auf Glowing Man halbwegs unversehrt überstanden hat und der letzte Song, "Finally Peace", verklingt. Nur, wer hat behauptet, dass wir Frieden wollen?

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-JULIANE LIEBERT


UNCHARTED 4: A THIEF'S END
Naughty Dog

In dieser finalen Fortsetzung der Uncharted-Serie findet sich Nathan Drake, Abenteurer, Schatzjäger und liebenswürdige Null, mal wieder in den Niederungen des Alltags wieder. Er ist verheiratet und arbeitet in New Orleans, als sein zwielichtiger Bruder Sam auftaucht. Er steht in der Schuld eines mexikanischen Drogenbosses und muss ihn auszahlen. Binnen kürzester Zeit begeben sich die beiden auf die Suche nach einem verschollenen Piratenschatz. Das Spiel ist überwältigend schön, und die Szenarien —Klöster aus dem 17. Jahrhundert, italienische Villen am Meer, tropische Dschungel—sind mit verblüffender Detailliebe gerendert. Doch trotz seiner technischen Wunder fühlt sich das Spiel beinahe oldschool an. Im Grunde ist es ein interaktiver Sommerblockbuster, halb National Treasure, halb Indiana Jones. Die Versuche, den Charakteren mehr Facetten und Reife zu geben, sind bewundernswert. Trotzdem hat es etwas Absurdes, Nathan dabei zuzusehen, wie er mit Bruder und Frau über das Geben und Nehmen in erwachsenen Beziehungen zankt, während sie von Söldnern durch eine verlassene Piratenutopie auf einer Inselkette in der Nähe von Madagaskar verfolgt werden.

-ROSCOE JONES


CASTRO'S CUBA
Lee Lockwood
Taschen

Im Jahr 1965, sechs Jahre, nachdem er über die kubanische Revolution berichtet hatte, kehrte der Fotojournalist Lee Lockwood ins Land zurück, um das neue sozialistische System zu dokumentieren. Er reiste mit dem jungen Fidel Castro in Jeeps, Booten und sowjetischen Helikoptern durch Kuba und fotografierte den charismatischen Revolutionsführer, wie er Reden unter tropischen Wolkenbrüchen hielt, Domino spielte und Zigarre rauchte. Castros Kuba—1967 erstmalig veröffentlicht und nun erneut mit mehr als 200 Fotografien aus Lockwoods Beständen aufgelegt—ist ein Tagebuch dieser 14 Tage, begleitet vom Protokoll einer breitgefächerten, über eine Woche gehenden Unterhaltung, die er mit dem damals 39-jährigen Anführer führte. Einige von Lockwoods Fotos sind überraschend intim: ein oberkörperfreier Castro in Armeehosen und Chucks, der seine Muskeln spielen lässt und Klimmzüge macht; in einer anderen Aufnahme räkelt er sich in einem Trainingsanzug und zielt faul mit einer AK-47. Obwohl er das Interview vor der Veröffentlichung bearbeitete, befürwortete Castro Lockwoods unmissverständliche Infragestellung seiner utopischen Ziele. Er konterte, indem er die USA auf Grund ihrer Rassendiskriminierung, ihrer auf Profit orientierten Politik sowie ihrer Unterdrückung kommunistischer Medien der Hypokrisie beschuldigte.

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-NATALIE SHUTLER


WOMEN OF ABSTRACT EXPRESSIONISM
Denver Art Museum

1945, zwei Jahre, bevor Jackson Pollock seine ersten Malereien tropfte, zog Grace Hartigan, 23, mit ihrem Kunstprofessor Ike Muse nach New York. Muse war dort, um seine künstlerische Karriere voranzubringen. Hartigan kam mit. Eines Abends gaben sie eine Party. Muse hatte seine Bilder im Haus aufgehängt. Ein einziges Bild von Hartigan hing im Wohnzimmer. Die Gäste deuteten darauf und gratulierten Muse zu seinem bisher besten Bild. Er war fuchsteufelswild. Er befahl Hartigan, mit dem Malen aufzuhören. Sie tat es nicht—und zog aus. Inzwischen gilt Hartigan als eine der wichtigsten Vertreterinnen des Abstrakten Expressionismus. Sie ist für ihre wilde Verwendung von Farben und ihre popkulturellen Referenzen berühmt. (Sie hat einmal gescherzt, dass Muse ihr mehr über Sex beigebracht hat als über Kunst.) Einige ihrer berühmtesten Werke sind Teil einer neuen Ausstellung namens Frauen des Abstrakten Expressionismus in Denver. Die geballte Genialität dieser Künstlerinnen gibt es passend zur Ausstellung auch als Bildband, in dem Essays Einblick geben in ihre Leben. Die neue Aufmerksamkeit, die diesen Malerinnen geschenkt wird, könnte helfen, den Abstrakten Expressionisms in völlig neuem Licht zu sehen. Es wurde auch Zeit.

-JULIANE LIEBERT