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Auf einem Baum mit den hungerstreikenden Flüchtlingen in München

"Ich habe auch keinen Bock, hungrig auf einem Baum zu sitzen", sagt Qasim aus Pakistan. "Aber wir haben keine Wahl."

Cheikhfaty auf dem Baum am Sendlinger Tor | Alle Fotos von der Autorin

"Ich muss pinkeln", sagt Cheikhfaty. "Oh", sage ich. Wir sitzen in etwa vier Metern Höhe auf einem Baum am Münchner Sendlinger-Tor-Platz. Unter uns: Polizei. Sehr viel Polizei. "Wenn ich jetzt runtergehe, dann lassen sie mich nicht wieder hoch", sagt Cheikhfaty. "Ja", sage ich. Cheikhfaty grinst verkniffen. Er steht auf, blickt unschlüssig nach unten und setzt sich mit einem Seufzen wieder hin. Beine zusammenkneifen. Wie lange er das aushalten kann? Mal sehen. Cheikhfaty hat seit fünf Tagen nichts mehr gegessen. Er ist bereit, einiges auszuhalten.

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Es ist Freitagabend, 20 Uhr, und klar ist: Ewig werden wir nicht mehr hier oben sitzen. Irgendwann wird die Feuerwehr kommen, ihren Kran ausfahren und uns von unseren Ästen pflücken. Die Frage ist nur: Wann?

Cheikhfaty und die sechs anderen Männer, die auf den Ästen über uns sitzen, hoffen, dass es noch möglichst lange dauert. Die Baumbesetzung ist ihre letzte Möglichkeit, weiter zu protestieren, bevor die Polizei sie aus den Augen der Öffentlichkeit entfernt. In den letzten Monaten haben sie und 60 weitere Aktivisten wochenlang auf dem Sendlinger-Tor-Platz campiert, sind zu Fuß bis nach Nürnberg gelaufen und in den Hungerstreik getreten. Ihre Forderung: ein Bleiberecht.

Eigentlich wollten sie sich ab Samstag auch noch weigern zu trinken. Aber die Polizei ist ihnen zuvorgekommen. Vor zwei Stunden haben Einheiten begonnen, das Camp, in dem die Geflüchteten die letzten Tage öffentlich gehungert hatten, zu räumen. Vor einer Stunde sind Cheikhfaty und sieben weitere junge Männer deshalb auf einen Baum geklettert, um weiter protestieren zu können. "Wenn ihr versucht, uns hier runterzuholen, springen wir", haben sie der Polizei von dem Baum aus zugerufen. Jetzt geht es um die Frage: Wer hält länger durch? Wobei das eine rhetorische Frage ist, denn Polizeieinheiten können ausgetauscht werden und die jungen Männer auf dem Baum haben seit Tagen nichts gegessen. "Say it loud, say it clear, refugees are welcome here", singt der Backgroundchor der linken Unterstützer. Weiter oben auf unserem Baum stimmen zwei Männer mit ein.

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"Mir ist schwindelig", sagt Cheikhfaty. Er lehnt sich zurück und schließt die Augen, kurz, dann setzt er sich abrupt wieder auf. "Zu Hause wache ich immer auf einer anderen Seite des Bettes auf als der, auf der ich eingeschlafen bin", sagt er. "Das sollte mir hier nicht passieren. Dafür ist der Ast zu dünn." Er lacht. Cheikhfaty ist 20 und kommt aus dem Senegal. Seine Gesichtszüge sind weich und kindlich, über seine weiße Mütze hat er zusätzlich eine Kapuze gezogen. Obwohl er noch keine zwei Jahre in Deutschland lebt, spricht er fast fließend deutsch. "Fuck, ist das unbequem hier", sagt er. Ich nicke.

Ich frage mich, ob hier ernsthaft noch jemand daran glaubt, dass die Proteste irgendwann Erfolg haben werden. Ob sie nicht schon lange Selbstzweck geworden sind. Ein wenig fühle ich mich wie in einem Theaterstück, die Rollen sind klar verteilt, das Skript schon lange geschrieben. Das Ende: erwartbar.

Es ist nicht die erste Aufführung dieser Art. Vor zwei Jahren gab es schon einmal einen Hungerstreik am Sendlinger Tor, auch damals wurde geräumt, auch damals wurden im Anschluss Bäume besetzt. Es war die Zeit des großen Kuscheltier-Verschenkens in Deutschland. Gebracht hat es trotzdem nichts. Warum, frage ich mich, sollte das heute anders sein?

Von oben regnet es Rinde herab, Qasim von einem Ast weiter oben hat seine Füße bewegt. "Braucht ihr irgendwas?", rufen die Unterstützer von unten, eine junge Frau wedelt mit einer Wasserflasche. "Pässe!", ruft Qasim zurück und lacht. Nie die gute Laune verlieren.

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Das ist Qasim

"Was erhoffst du dir von diesem Protest?", frage ich Qasim. "Dass uns endlich jemand zuhört", sagt er. Qasim kommt aus Pakistan. Er ist Kommunist. In Pakistan hat er gegen die Regierung protestiert und gegen den Kapitalismus, deswegen musste er fliehen. Jetzt ist er in Deutschland und protestiert weiter. Ihm geht es nicht nur um ein Bleiberecht, er hätte gerne eine andere Welt. "Wenn ich abgeschoben werde, dann werde ich wohl mein Leben lang in Pakistan im Knast sitzen", sagt Qasim. Obwohl er erst 24 ist, wirkt er älter als die meisten hier. Er hält Leute fest, wenn sie von einem Ast zum anderen klettern, sorgt für gute Stimmung und ruft immer wieder Parolen. "Zugegeben: Ich habe auch keinen Bock, hungrig auf einem Baum zu sitzen", sagt er. "Aber wir haben keine Wahl."

Es ist inzwischen fast 22 Uhr, seit drei Stunden sitzen wir auf unserem Baum und langsam wird es kalt. Vor allem am Hintern. Das Holz des Astes, auf dem wir sitzen, fühlt sich an wie eiskalter, stachliger Marmor. Morgen werde ich eine Blasenentzündung haben, denke ich. Qasim hat sich in ein Transparent gehüllt, eigentlich sollte es die Forderungen verkünden, jetzt dient es als Deckenersatz. Von unten reichen Unterstützer Knicklichter und Handschuhe nach oben. Zwei Männer fangen an zu singen, klatschen rhythmisch mit den Knicklichtern den Takt, sonst ist es still auf dem Baum. Qasims Handy klingelt. Er hat eine SMS bekommen. "Ihr seid eine Schande für alle anderen Flüchtlinge. Verpisst euch aus Deutschland!", steht darin. Qasim blickt irritiert auf das Display. "Ich kenne diese Nummer nicht", sagt er. Dann lacht er: "Na ja, das ist das Pressetelefon. Ich schätze, ich muss darauf nicht antworten."

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Unten kommt Bewegung in die Szenerie. Die Polizei hat ein paar Minuten nicht aufgepasst. Fünf weitere Männer ziehen sich an den Ästen auf unseren Baum hoch. Es wird eng. Einer tritt dem anderen auf die Füße, Rinde regnet herab, "Autsch", "Rück mal", "Ist hier noch Platz?". Cheikhfaty steht mit einem Bein auf einem dicken Ast, das andere hängt in der Luft, er schwankt. Ein junger Mann quetscht sich an ihm vorbei und robbt einen dicken Ast entlang langsam in die Höhe. "Ich habe Angst runterzufallen", sagt Cheikhfaty. "Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte."

Warum tut er sich das an? "Im Senegal gab es keine Möglichkeit für mich zu überleben", sagt Cheikhfaty. "Also bin ich nach Deutschland gegangen. Ich habe hier die Berufsoberschule besucht. Ich hatte gute Noten. Aber ich gelte als Wirtschaftsflüchtling, ich habe nur eine Duldung bekommen. Ich darf keine Ausbildung machen." Cheikhfaty hat seinen Schal weit nach oben gezogen, gegen die Kälte, trotzdem zittert er. Er hat Tränen in den Augen. "Es gibt nichts, das ich tun kann. Keine Möglichkeit, ein normales Leben zu führen. Nirgendwo." Er bricht ab. "Was soll ich sonst machen?", fragt er dann.

Ich habe keine Antwort. Cheikhfaty hat sich in der Schule angestrengt. Er hat monatelang auf dem Sendlinger Tor campiert. Er ist zu Fuß bis nach Nürnberg gelaufen. Er hat tagelang gehungert. Was bleibt noch? "Keine Ahnung", sage ich.

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"Jeder ist seines Glückes Schmied", lautet das Mantra unserer Zeit. Wir posten es auf kitschigen Bildern bei Facebook. "Gib niemals auf", "Du kannst alles schaffen, du musst es nur wollen". Für Cheikhfaty, Qasim und die anderen hier auf dem Baum gilt dieser Leitsatz nicht. Cheikhfaty hat nur eine Duldung für wenige Monate und mit einer kurzzeitigen Duldung kann er keine Ausbildung machen in Deutschland, so sehr er auch will. "Gib niemals auf", merke ich auf diesem Baum, ist ein Satz, der nur für Deutsche gilt.

Unten auf dem Sendlinger-Tor-Platz wird die Polizistendichte immer höher. Blaulicht, Polizeisirenen, Sprechgesänge. Die Unterstützer sammeln sich um den Baum und haken sich ein, um sie herum bildet sich eine Polizeikette. "Die Regierung sagt, sie räumen uns, weil sie nicht wollen, dass wir sterben", sagt Qasim. "Aber sie wollen nur nicht, dass wir öffentlich sterben. Wenn sich Leute in den Flüchtlingslagern umbringen, ist das egal."

Rund 600 Polizisten räumten den Platz

Es ist der Moment, in dem mir klar wird, dass es hier schon lange nicht mehr darum geht, ob die Forderungen der Aktivisten erfüllt werden. Qasim möchte eine bessere Welt, Cheikhfaty zumindest eine Arbeitserlaubnis: Beiden ist klar, dass sie ihr Ziel heute Abend nicht erreichen werden. Egal, wie lange sie auf diesem Baum sitzen bleiben. Nur: Die Wahl, die sie haben, ist eine Wahl zwischen Aktivismus und Apathie—nicht zwischen Erfolg und Misserfolg. Ihr Protest mag sich für mich anfühlen wie ein Theaterstück mit erwartbarem Ende, aber für Cheikhfaty und die anderen ist er bitterer Ernst. Besser ohne Erfolg protestieren, als nur still ertragen. "Ich werde nicht herumsitzen und das Unrecht geschehen lassen", sagt Qasim. "Ich bin ein Subjekt, kein Objekt. Solange es rassistische Gesetze gibt, werde ich weiter protestieren."

Um zwei Uhr nachts beginnt die Polizei schließlich, die Bäume zu räumen. Ein paar Aktivisten klettern freiwillig nach unten. Ein paar andere werden von der Feuerwehr nachgeholt. Fünf Leute werden in Gewahrsam genommen. Der Vorwurf: Widerstand. Fünfzehn Personen werden in Gewahrsam genommen.

Am nächsten Morgen rufe ich Qasim an. Er ist frisch aus der Polizeistation entlassen und auf dem Weg zu einer Demonstration gegen das Vorgehen der Polizei. Was ist jetzt der Plan? Qasim sagt: "Wir werden weitermachen."

Laura Meschede ist auf Twitter.