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In Ägypten stehen wir kurz vor dem nächsten großen Zusammenstoß

Heute vor einem Jahr kam der neue Präsident Mohammed Mursi in Ägypten an die Macht, nachdem vorher sein Vorgänger Mubarak rausgeschmissen wurde. Aber die Ägypter sind immer noch unzufrieden und gehen heute gegen den Neuen auf die Straßen. Kampf- und...

Der Tahrir-Platz, Symbol der Revolution vom 25. Januar 2011, ist wieder von Zehntausenden Menschen besucht. Es dringen die Irhal-Rufe der Mursi-Gegner in mein Hotelzimmer am Tahrir-Platz, „Irhal“—„Verschwinde“! Vor ein paar Tagen bin ich in Kairo gelandet und die Bilder, die mich nun hier erwarten, kannte ich bereits—aus den Medien, damals von der Revolution 2011. Ganz Kairo scheint auf den Beinen zu sein.

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Einerseits sind da die Muslimbrüder. Sie demonstrieren für ihren Präsidenten Mohammed Mursi—weit entfernt vom Tahrir-Platz, in Nasser City (einem anderen Stadtteil von Kairo). Die Atmosphäre in Nasser City ähnelt eher einem großen Volksfest: Essensstände, Souvenirverkäufer, die Mursi-Anhänger lagern zu Tausenden in offenen Zelten, schlafen, diskutieren einvernehmlich, lesen Zeitung.

Die Dauerdemonstration der Brüderschaft unterscheidet sich deutlich von der Tamarod-Bewegung auf dem Tahrir-Platz.

Kurz mal ausgeholt:

Die Tamarod, „Rebellen“, haben sich als Widerstandsbewegung gegen die Regierung gebildet und inzwischen 20 Millionen Unterschriften gegen die Mursi-Regentschaft gesammelt.

Die Muslimbruderschaft hingegen stehen auf konservative Werte und halten wenig von einem säkularen Staat. Der Islam steht im Vordergrund.

Die Rebellenbewegung allerdings wünscht sich eher eine moderne, eine weltoffene Regierung, in etwa das Gegenteil der Brüderschaft.

Der Unterschied ist auch, dass sich die Muslimbrüder weitgehend einig sind in dem, was sie wollen. Die Tamarod hingegen nur einig in dem Sturz Mursis—die Interpretation von „weltoffen“ und „modern“ birgt viel Stoff, um wieder auseinanderzubrechen.

Auf dem Tahrir-Platz skandieren die Menschen „Thaura Thaura Thaura“—Revolution, hitzige Debatten entbrennen, die nicht selten in Handgreiflichkeiten gipfeln. Viele Ordner, in gelben Westen gekleidet, versuchen, einen glimpflichen Ablauf zu organisieren, sind sich aber selten einig und überfordert.

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Seit der letzten Revolution vor zweieinhalb Jahren ist der Traum zerplatzt—der Traum von einem Staat, der nicht mehr korrupt ist und der mehr Freiheit als das alte Mubarak-Regime zulässt. Viele von damals sind nun wieder auf dem Tahrir-Platz mit demselben Anliegen wie Anfang 2011. Heute, am Sonntag, soll der landesweite Aufstand beginnen, doch die Vorbereitungen selbst haben eine Intensität erreicht, wie es Kairo seit der Revolution nicht mehr erlebt hat. Da wundert es nicht, wenn mal die Augen zufallen. „Verschwinde Mursi“ ist auf dem Stirnband dieses Kindes geschrieben.

Die Traumata der Vergewaltigungen, die während der Revolution von 2011 in einer Vielzahl auf dem Tahrir-Platz geschahen, lassen die Frauen sehr vorsichtig sein. Bis heute ist umstritten, ob diese Grausamkeiten organisiert waren oder nicht. Der Verdacht liegt nahe, da diese immer wieder nach dem gleichen Muster abliefen. Auffallend ist, dass die Ordner Frauen und Männer versuchen zu trennen. Ironischerweise erinnerte mich diese Separierung an die viel religiösere Pro-Mursi-Demonstration in Nasser City.

Das Schaf nutzt die Tamarod-Bewegung als Symbol für die verhasste Muslimbrüderschaft. Findige Straßenhändler bieten diese zum Kauf auf dem Tahrir-Platz an. Auch die Sprayer Kairos haben dies erkannt und verzieren die Stadt mit Schaf-Graffitis. Das Schaf stehe für die Hörigkeit der Brüderschaft, die ohne ihre Anführer verloren seien, erklärte mir ein Protestierender.

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Dieser Aktivist hier oben ist ein Pro-Mursi-Anhänger und auch er hat ein Tier zur Demonstration in Nasser City mitgebracht. Eine willkommene Abwechslung  in der erdrückenden Mittagshitze.

Meine ägyptischen Freunde mit Kindern, haben Kairo am Sonntag in aller Früh verlassen, aus Angst vor möglichen Ausschreitungen. Benzin für ihre Fahrzeuge zu bekommen, hatte sich als eine echte Herausforderung dargestellt. Dieses zu kaufen, ist seit Tagen nur noch über Umwege oder Beziehungen möglich. Auch per Flugzeug gestaltet sich das Verlassen Kairos schwierig. Alle Flüge nach Europa, in die USA, sowie in die Golfstaaten sind ausgebucht, wie die Zeitungen hier schreiben. Ich selbst habe ein etwas mulmiges Gefühl. Niemand weiß, was passiert. Alles, einfach alles, ist möglich. Aber einfach nach Hause zu fliegen, wäre auch blöd, wenn ich dann eine Revolution verpassen würde. Und nach Hause fliegen geht ja eh nicht.

Der Schuh wird im arabischen Raum gerne zu Beleidigungen erhoben. Die Adressaten sind klar: Die Muslimbrüder. Jedoch kommt es immer wieder zu Übergriffen gegenüber bärtigen Männer, in der Vermutung, sie gehören der Brüderschaft an. Mehrmals musste ich selbst initiierte „Verhaftungen“ von bärtigen Männern durch Mursi-Gegner beobachten, nicht selten mit blutigen Folgen.

Ob Mursi, nun seit einem Jahr im Amt, sich als Präsident halten kann, wird sich in den nächsten Tagen herausstellen. In den Gesprächen auf dem Tahrir-Platz wurde deutlich, dass nur die Minderheit an einen selbst motivierten Abgang Mursis glaubt.

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Das Militär fliegt mit seinen Hubschraubern tief über den Tahrir-Platz. Es nimmt eine besondere Rolle in Ägypten ein und hatte damals nach der Revolution bereits die Macht übernommen. Ob das Land bald wieder vom Militär geführt wird, bleibt abzuwarten.

Trotz der Ungewissheit und der Ängste vieler Menschen ist die Stimmung auf dem Tahrir-Platz an Euphorie nicht zu überbieten. Die Generation „Tahrir-Platz“ generiert sich aus allen Generationen.

Nicht nur die Vielfalt der Generationen beeindruckt. Auch die verschiedenen religiösen Auffassungen finden hier eine gemeinsame Linie. Selbst bekennende Salafisten gehören den Mursi-Gegnern an.

Am 30. Juni, beim Verfassen dieses Textes, lässt lässt sich keiner meiner Gesprächspartner sich auf eine Prognose ein. Draußen vom Tahrir-Platz schallen die Rufe Zigtausender in mein Hotelzimmer. Ob die Irhal-Rufe Gehör finden werden, bleibt offen.