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Deutschlands Kriegsschuld könnte Griechenlands Schuldenproblem lösen

Heute, knapp 70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges, weisen Griechen und Historiker daraufhin, dass Deutschland Griechenland noch eine Menge Geld schuldet. Genug Geld, um den maroden Staat aus der Schuldenfalle zu ziehen.

Griechische Zivilisten, die von deutschen Fallschirmjägern in Kondomari auf Kreta 1941 ermordet wurden (Foto via)

Im April 1941 besiegte die Wehrmacht die griechischen Streitkräfte an der nordgriechischen Front. Da, wo die Griechen die Italiener im vorangegangenen Winter noch erfolgreich zurückgehalten hatten, erlebten sie jetzt ein existenzielles Horrorszenario. Der Premierminister beging, ein paar Tage bevor die Deutschen in Athen einmarschierten, Selbstmord und die Bevölkerung war den einmarschierenden Truppen der Achsenmächte schutzlos ausgeliefert.

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Die folgenden drei Jahre Besatzung erwiesen sich als Hölle auf Erden. Die Hungersnot und die Gräueltaten der deutschen Truppen kosteten mehr als 300.000 Griechen das Leben. Auch Vergewaltigungen und Plünderungen von ganzen Dörfern mussten die Griechen über sich ergehen lassen. Wehrfähige Männer wurden systematisch hingerichtet. In manchen Fällen sogar Frauen und Kinder—insbesondere bei den Massakern in Distomo und Kalavryta.

Heute, knapp 70 Jahre nach dem Ende der Besatzung, weisen Griechen und Historiker daraufhin, dass Deutschland Griechenland abgesehen von den nicht gezahlten Reparationen noch zwei weitere Dinge schuldig ist: Schulden für eine Zwangsanleihe und die Rückgabe alter Artefakte, die während der Besatzung gestohlen wurden.

Im vergangenen April warfen SYRIZA—Griechenlands zweitgrößte Partei—und der damalige griechische Außenminister, Dimitris Avramopoulos, diese Fragen erneut auf. Avramopoulos stimmte zu, dass diese offene Frage ein für alle Mal vor einem internationalen Gericht geklärt werden sollte. Das war das erste Mal, dass ein griechischer Offizieller eine solche Forderung publik machte.

Experten schätzen, dass Deutschland Griechenland alles in allem etwa 162 Milliarden Euro einschließlich Zinsen schuldet. Das griechische Finanzministerium weigert sich allerdings, solche Zahlen öffentlich zu kommentieren.

Deutschland verhält sich derzeit ebenfalls wortkarg. Finanzminister Schäuble räumt dem Thema nicht viel Platz ein und sagt den Reportern, dass die Schuld bereinigt wurde. Auch sagt er, Griechenland solle sich lieber auf Reformen fokussieren, die das 240 Milliarden Euro schwere Rettungspaket umfassen—das an umfangreiche und zugegebenermaßen unwirksame und lähmende Sparmaßnahmen gekoppelt ist—, um aus eigener Kraft den Weg aus der Schuldenkrise zu finden.

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Manolis Glezos

Schäubles Äußerungen sind für Manolis Glezos, einem Parlamentsmitglied der SYRIZA, neu. Er setzt sich seit 1946 für die Rückzahlung der Schulden ein. Glezos wurde zum internationalen Helden, als er mit einem Freund 1941—einen Monat nach der Besatzung—auf die Parthenon kletterte und die Nazi-Flagge klaute. Später wurde er gefangen genommen, gefoltert und zu Tode verurteilt—nicht zum letzten Mal.
Glezos reagierte auf Schäubles Aussagen und stellte die Gegenfrage: „Wann war es vorbei?“ „Wie war es vorbei?“ „Und warum?“ Schäuble hat nicht auf Glezos Fragen geantwortet, mit dem ich mich für ein zweistündiges Interview in seinem Haus getroffen habe. „In Wirklichkeit zeigen Schäubles Aussagen nur auf, dass er in die Enge getrieben wurde“, erzählte mir Glezos. „Und natürlich versucht er, dieses Problem mit verschiedenen Tricks zu umgehen.“

Schäuble könnte mit seiner Aussage auf den Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 hingedeutet haben. Dieser würde—einem Vertreter der Deutschen Botschaft in London zufolge—eine abschließende Regelung der rechtlichen und internationalen Fragen im Bezug auf Deutschland und den Zweiten Weltkrieg darstellen. Es wurde eindeutig klargestellt, dass es nach diesem Vertrag keine weiteren Friedensverträge oder Reparationszahlungen mehr geben wird. Der Vertrag wurde am 21. November 1990 von allen KSZE-Mitgliedsländern (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) akzeptiert—auch von Griechenland.

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Ich las beide Dokumente. Aber vom Zweiten Weltkrieg oder von Reparationen wurde dort nichts erwähnt. Als ich den Botschaftskontakt darauf hinwies, antwortete er rhetorisch enttäuschend.

„Ich bin mir nicht sicher, ob es da drin steht oder nicht, Gregory“, schrieb er mir. „Aber damit war allen beteiligten Parteien klar, dass dieser Vertrag in allen rechtlichen und politischen Fragen, die im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg stünden, das letzte Wort sein sollte. Das ist auch der Grund, warum er zwei Monate später der KSZE-Konferenz in Paris zur Annerkennung und Billigung vorgelegt wurde.“

Deportationen in Thessaloniki im Juli 1942 (Foto via)

Wenn das der Fall wäre, würdest du nicht auch denken, dass der Vertrag oder die Charta solche Vereinbarungen ausdrücklich erwähnen sollte? Das, was dem „Vergessen des Zweiten Weltkriegs“ in der aktuellen Charta am nächsten kommt, steht in den ersten Zeilen: „Europa befreit sich selbst vom Erbe der Vergangenheit.“ Auch erwähnt die Charta das hier: „Wirtschaftliche Freiheit, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung sind für den Wohlstand unerlässlich.“

Wenn die Geschichte und die rechtlichen Unterlagen aufzeigen, dass Griechenland das einzige Land ist, das von Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht vollständig entschädigt wurde, kann von sozialer Gerechtigkeit sicher keine Rede sein.

Vielleicht spielte Schäuble in seinen Kommentaren auch auf die Zahlungen aus den 60er Jahren an. Damals zahlte Deutschland den Griechen 115 Millionen Mark (ca. 57,5 Millionen Euro) für Reparationen. Aber der deutsche Historiker Hagen Fleischer sagte in einem Interview mit der Deutschen Welle Folgendes: „Die Niederlande, die wesentlich geringere Verluste hatten, haben einen höheren Betrag erhalten.“

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Fleischer und einige Juristen glauben, dass Griechenland seinen Fokus beim Thema Reparationen auf die damalige Zwangsanleihe legen sollten. Zu Beginn des Krieges zwangen Deutschland und Italien die griechische Regierung nämlich dazu, die Besatzung selbst zu finanzieren. Griechenland zahlte auf monatlicher Basis Milliarden Drachmen. Als Beweis für das Darlehen dienen einige wenige Rückzahlungen, die Deutschland vor Kriegsende getätigt haben soll. Wenn man die Zinsen für dieses Darlehen hochrechnen würde, würde man auf eine erstaunliche Summe kommen.

Yiannis Stathas

„Es geht nicht um das Geld, es um die Menschlichkeit“, sagte Yiannis Stathas, ein Parlamentsmitglied für SYRIZA, der sich als Vertreter der Arbeiterklasse sieht. „Es ist so, als ob man loszieht, um jemanden zu töten, aber nie dafür bestraft wird.“

Stathas kommt aus Distomo, dem Ort, an dem sich die deutsche Brutalität von ihrer schlimmsten Seite gezeigt hatte. Am 10. Juni 1944 fielen die Truppen der Achsenmächte, die von dem Widerstand der Guerillagruppen frustriert waren, in das Dorf ein und ermordeten 218 Menschen. Darunter schwangere Frauen, Babys und den Dorfpriester. Noch heute hat das Dorf mit den Folgen zu kämpfen. Stathas erinnert sich daran, dass seine Großmutter und die Frauen aus ihrer Generation immer nur schwarze Kleidung tragen. Auch erzählt er Geschichten von Leuten, die nach dem Massaker den Verstand verloren haben sollen.

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Keiner der Soldaten, die an dem Massaker beteiligt waren, wurde jemals mit irgendeiner Art von Strafe konfrontiert.
„Das ist nicht nur ein Thema der Griechen. Das ist ein globales Thema“, erzählte mir Stathas.

Während wir in seinem Büro saßen, erklärte Stathas, dass dieses Theman nichts mit der Wirtschaftskrise und den Sparmaßnahmen zu tun hat. Wenn man die beiden Dinge miteinander verbinden würde, würde man ein falsches Signal senden, sagte er. „Die Menschen, die diese Verbrechen begangen haben, müssen zahlen, damit der Gerechtigkeit Genüge getan werden kann. Auf diese Weise würden Menschen, die planen, solche Verbrechen wieder zu begehen, wissen, dass sie bestraft werden.“

Glezos ging auch auf alternative Möglichkeiten der Schuldenrückzahlung ein. So soll Deutschland griechischen Studenten kostenlose Bildung ermöglichen. Oder deutsche Bauunternehmen sollen öffentliche Bauprojekte in Griechenland durchführen.

Deutsche Soldaten nehmen das Parthenon in Athen im Mai 1941 ein. (Foto via)

„Wir wollen Deutschland nicht an der Nase packen, damit sie herkommen, um darüber zu reden, wie sie diese Schulden zurückzahlen wollen“, sagte Glezos. „Wir hassen die deutschen Menschen nicht. Aber wenn sie uns auch nur eine einzige Mark schulden, dann müssen sie sie zurückzahlen. Als Garantie dafür, dass sie solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Zukunft nie wieder begehen werden.“

Zoe Soteriou, eine Lehrerin aus Athen, glaubt, dass die meisten Griechen Angst haben, das Thema voranzutreiben. Angst davor, dass sich die ohnehin schon schlechte Situation (AKA Rezession und die Sparmaßnahmen) verschlimmern könnte. „Wir wollen auf irgendeine Art und Weise reagieren, und das wollen alle. Doch die Menschen haben Angst davor, dass das Schlimmste noch auf uns wartet. Das ist nur der Anfang von etwas noch Düsterem“, sagt sie. „Deutschland befindet sich jetzt im Vorteil. Sie schneiden die Torte an und verteilen die Stücke, und wir sind nur wie Bettler.“

Ihr Kollege, Christos Kribas, stimmt zu, dass momentan vielleicht nicht das beste Timing dafür ist, sich diesem Thema zu widmen. „Du musst auf Augenhöhe sein. Im Augenblick sind wir das nicht“, sagt er und erwähnt gleichzeitig, dass Griechenland momentan einen schlechten Ruf hat. „Wir müssen unser Image verbessern. Wir sollten keine unrealistischen Ziele haben, die nicht umsetzbar sind. Politik ist ein dynamisches Geben und Nehmen—nicht: ,Ich will dies' oder ,Ich möchte, das …'“