Als die ersten Takte von “I want your love” aus dem Lautsprecher dröhnen, beginnt Gigi Lou, sich ins Licht zu bewegen. Sie schreitet auf zehn Zentimeter hohen Riemchenstilettos über die Bühne. Alles an diesem Auftritt sagt: Schau mich an – das bin ich. Doch hinter Gigi Lou steckt nicht nur viel Training. Gigi ist das, was Danial immer sein wollte – wofür er seine Familie verlassen hat und fast in eine Psychiatrie eingewiesen worden wäre.
Gigi Lou trägt einen eng anliegenden schwarzen Body und einen BH mit unzähligen Strasssteinen. Dazu eine Robe aus durchsichtigem schwarzen Stoff mit Federkragen. Ihre Lippen sind violett geschminkt, ihre Augen – eigentlich braun – strahlen dank Kontaktlinsen nun hellblau auf das Publikum herab.
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Gigi Lou, 19, ist eine Dragqueen aus Fribourg. Heute versucht sie, im Zürcher Bernhard Theater zur Miss Heaven, ein Award für Dragqueens, gekrönt zu werden. Rund 400 Leute schauen ihr und sechs weiteren Queens dabei zu, wie sie um die Krone kämpfen. Der Titel hilft dabei, Bühnenauftritte zu bekommen. Eine Miss Heaven kann sich einen Namen in der Szene machen. Gigi bräuchte das eigentlich nicht. Auf Instagram hat sie schon über 15.000 Follower. Aber es würde ihr helfen, sich in der Schweizer Drag-Szene einen festen Platz zu sichern.
“Gigi war schon immer da”, sagt Danial. Wenn er über seine Drag-Persona spricht, wirkt er gelöst. “Sobald ich als Gigi auf der Bühne stehe, fühle ich mich gut und selbstbewusst.” Er geniesst die Blicke des Publikums. Die Augen, die auf ihn gerichtet sind. Die Menschen, die ihm applaudieren und ihn bejubelen.
“Lass ihn nicht entkommen.”
Danial ist in Ahvaz aufgewachsen, einer Stadt im Südwesten des Iran. Er war 15, als er es nicht länger aushielt, Gigi zu verstecken. Sich zu verstecken. Er musste endlich die Wahrheit sagen. Die Worte aussprechen, die im Iran ein Todesurteil bedeuten können. Sein Todesurteil. Doch das war ihm jetzt egal. Es musste raus: “Ich date auch Männer”, sagte er.
So erzählt Danial es heute, vier Jahre später, in einem Café in Fribourg. Das und vieles weitere, was Danial uns aus seiner Vergangenheit im Iran erzählt, können wir nicht überprüfen. Es ist seine persönliche Geschichte, sie beruht auf seinen Erinnerungen.
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Danial habe die Beichte im Zimmer seiner Psychiaterin ausgesprochen, sagt er. In diesem Zimmer sei es dann erstmal still gewesen. Dann habe sich die Frau an ihre Sekretärin gewandt und gesagt: “Lass ihn nicht entkommen.”
Dann rannte Danial. Er stiess die beiden Frauen zur Seite und hastete das Treppenhaus herunter. Auf der Strasse wartete sein Grossvater im Auto, um ihn abzuholen. “Fahr mich nach Hause!”, wies er ihn an. Ohne Rückfragen fuhr er los und setzte den Jungen zu Hause ab. Er packte gerade einige Kleider in eine Tasche, als er hörte, wie seine Eltern nach Hause kamen. Sie waren es, die wollten, dass er zur Psychiaterin geht. Und sie waren es auch, die nun wollten, dass er in die Psychiatrie kommt.
Er ging in Richtung Eingangstür, wo sein Vater und seine Mutter standen. Er konnte erkennen, dass hinter der Haustür etwas passierte. Sein Vater beteuerte noch, dass alles in Ordnung sei und er sich keine Sorgen machen müsste. Das war untypisch für seinen Vater, der ihn sonst bei den kleinsten Zuwiderhandlungen bestrafte. Seine Mutter sagte gar nichts.
Danial drückte sich an seinen Eltern vorbei, heraus zur Eingangstür, wo bereits zwei Männer vor einem Krankenwagen standen, und rannte wieder. So schnell, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war.
Er liess den weissen Krankenwagen hinter sich. Er liess die beiden Krankenpfleger zurück, die sich soeben Gummihandschuhe übergezogen hatten.
Wie sein Schicksal hätte aussehen können, darüber gibt es zahlreiche Zeitungsberichte. In der Psychiatrie hätte man ihm unterstellen können, dass er trans sei. Danial kennt die Geschichten von schwulen Männern, deren einzige Überlebenschance eine geschlechtsangleichende Operation ist. Danial kennt auch den weiteren Verlauf vieler dieser Geschichten: Geschlechtsangleichung, Depression, im schlimmste Fall Suizid.
Ausser in Thailand gibt es in keinem Land der Welt so viele geschlechtsangleichende Operationen wie im Iran. Seit Mitte der 80er Jahre ist es im Iran legal, trans zu sein. Aber nicht, um den Iranerinnen und Iranern sexuelle Freiheit zu gewähren. Im Gegenteil: Trans zu sein, gilt seitdem als Krankheit. Und Krankheiten können geheilt werden. Nicht so Homosexualität. Auf den Geschlechtsverkehr zwischen zwei Männern steht im Iran die Todesstrafe. Erst im Januar dieses Jahres wurde erneut ein schwuler Mann hingerichtet.
Wenn Danial er selbst sein wollte, musste er das versteckt tun
Aber Danial fühlt sich als Mann. Nur dass er eben Frauen und Männer attraktiv findet. Danial ist bi, und das geht im Iran nicht, zumindest nicht offiziell. Dass er in den letzten Monaten immer wieder mit Männern geschlafen hat, wusste bis zu dem Zeitpunkt, als er es seiner Psychiaterin gebeichtet hat, niemand.
Seine Eltern, strenggläubige Muslime, wünschen sich einen Sohn, der nach den geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen des Irans lebt. Einen Sohn, der die Ehre seiner Familie wahrt, betet, der zur Schule geht, um Arzt zu werden oder Ingenieur.
“Die Erziehung meiner Eltern war regelrechte Gehirnwäsche”, sagt Danial heute. Er fährt sich mit seinen Händen durch sein dichtes, schwarzes Haar. “Meine Eltern sind wohlhabende, geachtete Leute. Dass die Familie ein gute Bild abgibt, das war immer ihre oberste Priorität.”
Dass Danial nicht der Junge war, den sich seine Familie wünschte, merkte er früh. Als Kind durchwühlte er im Haus seiner Grosseltern einmal den alten Kleiderschrank seiner Mutter. “Diese wunderschönen Vintage-Stücke” waren es, die Danial in den Bann zogen. Er schlüpfte selbst in eines der Kleider, betrachtete sich im Spiegel. Er fühlte sich gut darin. Als seine Grossmutter ihn entdeckte, schimpfte sie ihn aus. Für einen Jungen gehöre sich das nicht.
Einmal kam seine Mutter zu früh nach Hause.
“Trägst du etwa Eyeliner?!”, fragte sie.
“Nein!”, log Danial.
Sie spuckte auf ein Stück Stoff und rieb ihm über seine Augen. Das weisse Tuch bekam schwarze Striemen. Danial schwieg. Seine Mutter auch.
Danial lernte schnell: Wenn er er selbst sein wollte, musste er das versteckt tun.
Wenn er allein war, durchwühlte er den Kleiderschrank seiner Schwester nach den schönsten Röcken, nach weit geschnittenen Hosen und engen Tops. Er zog sich die Lippen nach und tanzte zu verbotener westlicher Musik wie “Just Dance” von Lady Gaga durchs Haus. “Das waren meine ersten Schritte als Dragqueen“, sagt er heute.
Seine Mutter wollte nicht mit ihm über die Kleider und den Eyeliner reden. Es war zu schlimm. Auch seine Schwester sprach ihn nie darauf an, dass ihre Kleider an den Schultern ausgeleiert waren. Nur sein Vater, ein ernster Mann mit einem Schnauzbart und meistens im Anzug, schrie ihn oft an.
Bevor Danial zu Gigi wurde, lernte er, Männer zu imitieren, um nicht aufzufallen
Im Laufe seiner Jugend wurde Danial zu einem Künstler der Verschleierung. Wenn er mit seinen männlichen Freunden in Shisha-Bars ging, war er der Lauteste von allen. Die meisten von ihnen waren 20 Jahre alt oder älter. Sie zeigten dem damals 13-jährigen Jungen, was bei ihnen gerade angesagt war: Sie führten Danial in die Gegenden von Ahvaz, in denen die Polizei nur selten patrouillierte. Mit ihnen probierte Danial zum ersten Mal Alkohol und Gras. Er imitierte ihre Art zu reden und breitbeinig zu sitzen. Er lernte, die Art von Mann zu imitieren, die er heute als hypermaskulin bezeichnet.
Danial erhaschte durch sie immer mehr Eindrücke aus der Welt, die er “westlich” nennt, und die in seinem Elternhaus verabscheut war: USB-Sticks, auf denen die neuste Musik von Rihanna gespeichert war, Filme wie American Pie oder Inception, Alkohol, Gras und Kontakte zu Piercern und Tätowierern. Aber mit jeder neuen Entdeckung wollte Danial mehr von dieser Welt sehen. Er schwänzte die Schule und zog mit seinen älteren Freunden um die Häuser, ließ sich mit 13 einen Harlekin tätowieren und trank dabei Whisky.
Immer nachdem Danial sich hatte piercen lassen, lief er mit einem Mundschutz umher, sodass es niemand bemerkte. Den Schmuck versteckte er unter seinem Kopfkissen. Nachts drehte er sich die silbernen Stecker in seine Ohren, seine Lippen, seine Zunge.
Als Danials Vater die Piercings entdeckte, schlug er zu.
Heute sagt Danial, diese Freunde seien nie richtige Freunde gewesen. Wenn er von Streits mit seinen Eltern erzählte, hörten sie nicht zu. Wenn die Streitereien so schlimm wurden, dass er von zu Hause davonlaufen musste, versteckte er sich nicht bei ihnen. Nein, dann ging er zu Reza. Seinem besten und vielleicht einzigen Freund.
“Er hat mich verstanden”, sagt Danial über Reza. Bei den Eskapaden mit seinen älteren Bekannten war der nie dabei. “Aber er verurteilte mich nie deswegen.”
Es gab aber auch Dinge über Danial, die Reza nicht wusste. Zum Beispiel, dass Danial heimlich Frauenkleider anzog. Dass er sich zu Männern hingezogen fühlte. Danial traute sich nicht, es ihm zu sagen, weil er selbst noch nicht wusste, was mit ihm los war. “Ich fragte mich: Was ist das? Was geschieht mit mir?” Aber es fühlte sich richtig an. So entschied er sich irgendwann, einfach zu tun, was sich gut anfühlt.
Mit einer App, die ähnlich wie Tinder funktioniert, machte Danial seine ersten Treffen mit Männern aus. Meist traf er sie erst an einem öffentlichen Ort und ging dann zu ihnen oder zu sich nach Hause. Danial hatte eine Zeit lang einen festen Freund. “Es war Liebe auf den ersten Blick”, erinnert er sich. “Mit ihm war ich zusammen, als ich entschied, dass ich nicht mehr mitspielen konnte, dass ich die Wahrheit sagen musste.” Kurz darauf sass er bei der Psychiaterin.
Als Danial vor dem Ambulanzauto floh, rannte er zu Reza. Dann eröffnete ihm Danial seinen Plan: “Reza, ich haue heute Abend von hier ab.” Reza überlegte nicht lange: “Dann komme ich mit”, entschied er.
Von zu Hause abhauen, diese Idee hatten schon viele 15-Jährige. Die meisten machen nicht ernst oder kehren nach ein paar Nächten unter freiem Himmel zurück. Bei Danial ist das anders. Es ging um sein Leben.
Nur für seinen Grossvater kam Danial noch einmal zurück. Als er ankam, war der Krankenwagen verschwunden und Danial hatte einen Plan.
“‘Hör zu’, sagte ich zu meinem Vater: ‘Ich gehe heute Abend. Ich kenne einen Schmuggler, der mich nach Europa bringen kann.’” Es war nicht das erste Mal, dass er über eine Flucht nachdachte. Die Nummer des Schmugglers hatte er schon seit Monaten in seinem Handy gespeichert.
Sein Vater soll eingewilligt haben, seinen Sohn gehen zu lassen, erzählt Danial heute. “Ich sollte nicht noch weiter die Ehre der Familie beschmutzen.” Dennoch schien sein Vater wissen zu wollen, dass sein Sohn den ersten Teil der grossen Reise sicher bestreitet. Denn er bestand darauf, Danial und seinen besten Freund in die Türkei zu begleiten. “Er wollte mich persönlich dem Schmuggler übergeben”, sagt Danial.
Der Rest seiner Flucht bis in die Schweiz ähnelt der vieler Flüchtlinge. Ein kleines Boot, das für maximal 30 Menschen gedacht ist, in dem aber doppelt so viele sitzen. Über Griechenland mit dem Flugzeug nach Genf. Von da nach Estavayer-le-Lac. Und schliesslich vor zwei Jahren nach Fribourg.
Als Danial 18 Jahre alt war, er und Reza lebten schon ein Jahr in der Schweiz, entschied er, sich vor seinem besten Freund zu outen. “Das habe ich schon längst gewusst”, antwortete der und winkte ab.
Es war Reza, der Danial in seine Theatergruppe nach Lausanne holte. Dort hörte Danial das erste Mal von der Drag-Szene und baute sich als Gigi Lou auf Instagram eine Drag-Persona auf. Es folgten erste Auftritte in Clubs in der Westschweiz. Auf den Durchbruch in der deutschen Schweiz wartet er noch.
Reza lebt nicht wie Danial in Fribourg, aber sie sehen sich regelmässig. Aktuell hätten sie gerade wegen einer Kleinigkeit Streit. Aber das hätten sie immer wieder. Das Band, das die beiden zusammenhält, sei am Schluss stärker. Ein Paar seien sie nie gewesen – sondern beste Freunde.
Die Krone zur Miss Heaven hält Gigi Lou am Schluss nicht in den Händen. Weitermachen will Danial trotzdem. “Ich möchte mit Gigi Lou berühmt werden und meinen Lebensunterhalt verdienen. Ich möchte, dass mich die Leute so cool finden, wie ich jetzt bin. Ob als Gigi Lou oder als Danial.”