“Ist dieser Ausschlag gefährlich?” – “Wie schlimm ist es, wenn mein Kind zwei Paracetamol geschluckt hat?” – “Was tun bei Hämorrhoiden?” Mehr und vor allem weniger seriöse Antworten auf all das findest du, wenn du googelst. Geht es um Leben und Tod, ist Dr. Google sicher nicht die beste Option. Genau deshalb gibt es den Giftnotruf.
Bruce Ruck und Richard Casas sind Ärzte am New Jersey Poison Information and Education System, zusammen haben sie fast 50 Jahre Erfahrung. Die Giftnotrufzentrale des US-Staats New Jersey erhält täglich 130 bis 160 Anrufe, jedes Mal muss das Personal entscheiden: Muss diese Person ins Krankenhaus? Gerade in den USA, wo viele Menschen keine Krankenversicherung haben, ist die Hemmschwelle oft höher, in eine Klinik zu gehen. Wir haben uns mit den beiden Ärzten über ihre lebensrettende Arbeit unterhalten.
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VICE: Was sind die häufigsten Vergiftungen und welche Gegenmittel helfen?
Bruce Ruck: Meist sind es Drogen, Medikamente, Pflanzen und Haushaltschemikalien.
Richard Casas: Für die meisten Dinge gibt es kein Gegenmittel. So was wie “trink etwas Milch und dann wird das schon wieder” gibt es nicht. Je nach Fall versuchen wir, den Menschen zu erklären, wie sie zu Hause damit umgehen können, aber viele müssen einfach ins Krankenhaus.
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Rufen Menschen auch öfter wegen Haushaltschemikalien an?
Casas: Unsere meisten Anrufe haben damit zu tun, dass Kinder zu Hause an irgendwas geraten sind. Wir können grundsätzlich nichts als harmlos bezeichnen, weil alle Menschen unterschiedlich sind. Wir brauchen Informationen zur Person, um sagen zu können, ob das ein Problem ist oder nicht.
Ruck: Sagen wir, ein Kind nimmt Medikament A, und bei dem Alter, Gewicht und der Krankengeschichte des Kindes gehen wir von sehr geringen bis gar keinen Nebenwirkungen aus. Dann schicken wir es nicht ins Krankenhaus. Aber wenn ein Kind im selben Alter und mit demselben Gewicht ein Gesundheitsproblem hat, schicken wir es in die Klinik.
Wegen welcher Dinge sollten die Leute häufiger mal anrufen, tun es aber nicht?
Ruck: Kinder probieren oft eine Substanz, die sie im Haus finden, oder nehmen eine Tablette, zum Beispiel von Omas Medizin oder etwas, das nicht verschreibungspflichtig ist. Die Eltern denken oft, das sei keine große Sache. Aber sobald ein Kind ein Medikament schluckt, das nicht für das Kind bestimmt war, sollten sie uns anrufen. Und auch sobald ein Kind Reinigungsmittel oder eine Chemikalie aus dem Garten zu sich nimmt. Was Menschen häufig nicht beachten, sind Knopfbatterien. Die gibt es in fast jedem Haushalt, für Kinder können sie tödlich sein.
Welche verrückten Anrufe haben Sie schon bekommen?
Casas: Das ist eine schwierige Frage, weil wir jeden Tag verrückte Anrufe kriegen.
Ruck: Es haben schon Leute einen Truthahn im Ofen zubereitet und die Plastikverpackung drangelassen, die wollten dann wissen, ob die Familie das noch essen könne. Es haben auch schon Menschen angerufen, weil jemand ein Sexspielzeug verschluckt hatte und es im Magen weiter vibrierte.
Vor einigen Monaten kursierte im Internet die “Tide Pod Challenge“. Hatten Sie zu der Zeit viele Anrufe von Menschen, die Waschmittel gefuttert hatten?
Ruck: Für die Challenge haben sich hauptsächlich ältere Teenager interessiert, während wir mehr von kleinen Kindern hören, die dieses Waschmittel probiert haben. Erst neulich Nacht hatten wir einen Anruf, ein Kleinkind hatte in einen Tide Pod gebissen und dabei etwas davon geschluckt.
Casas: Sie sehen ja auch ein bisschen aus wie Süßigkeiten, da ist es kein Wunder, wenn Kleinkinder sich dafür interessieren.
Was tun Sie, wenn jemand anruft, weil er oder sie auf Drogen ist? Müssen Sie diese Person dann verpfeifen?
Ruck: Wenn jemand high ist und bei uns anruft, versuchen wir, die Person dazu zu bringen, dass sie ins Krankenhaus geht und sich untersuchen lässt.
Casas: Wenn jemand bei uns anruft, dann offensichtlich, weil es der Person nicht gut geht. Also ist das Letzte, was wir wollen, jemanden einfach allein zu Hause lassen. Ich möchte, dass jemand die Person in Augenschein nimmt und feststellt, ob sie Behandlung braucht.
Gibt es auch Anrufer, die Ihnen nicht glauben oder gegen Ihren Rat handeln?
Casas: Wenn ein Kind etwas potentiell Gefährliches zu sich genommen hat, und wir den Eltern sagen, sie sollten damit ins Krankenhaus, dann sagen sie oft: “Ich fahre nicht ins Krankenhaus, das kriege ich zu Hause hin.” Oder “Mein Bruder ist Krankenpfleger, und er sagt, ich muss nicht.” Wir können in so einem Fall auch nur aufklären, inwiefern das Produkt gefährlich für das Kind sein kann. Die Entscheidung liegt bei den Eltern.
Ruck: Wenn wir meinen, jemand ist in Gefahr, aber die Person weigert sich, ins Krankenhaus zu gehen, dann schicken wir in sehr seltenen Fällen auch einen Krankenwagen. Gerade bei Menschen, die suizidgefährdet sind, wollen wir sichergehen, dass sie nicht zu Hause bleiben.
Casas: In vielen Fällen, wo die Person zu Hause bleibt, rufen wir später noch einmal an, um einzuschätzen, wie sich die Situation entwickelt hat.
Bekommen Sie weniger Anrufe, seit es Google gibt? Oder verhalten sich die Anrufenden seither anders?
Casas: Manchmal glauben sie, sie wüssten es besser als wir, dabei haben sie sich verlesen oder etwas Falsches gefunden. Oft müssen wir versuchen nachzuvollziehen, was die Person schon alles gemacht hat, weil sie Rat im Internet gesucht hat. Das Internet kann in die Irre führen. Außerdem hat es dazu geführt, dass Teenager an Informationen kommen, die sie besser nicht haben sollten. Das bereitet uns Probleme.
Ruck: Und es sind nicht nur Teenager, die versuchen, sich zu berauschen. Wir haben auch mit immer jüngeren Suizidgefährdeten zu tun. Vor zehn Jahren bekam ich fast keine Anrufe, in denen es um Elf- oder Zwölfjährige ging, die Suizid begehen wollen. Heute leider schon.
Wie gehen Sie bei einem Anruf vor, um die Gefahr abzuschätzen? Gibt es Datenbanken mit allen Giften?
Ruck: Alle Giftnotrufzentralen verwenden bestimmte Nachschlagewerke, das sind sehr teure Programme. Unsere Abonnements kosten uns jährlich zwischen 50.000 und 100.000 Dollar. Diese Informationen könnten in unqualifizierten Händen aber auch sehr gefährlich sein. Alle unsere Angestellten müssen den Umgang mit den Datenbanken lernen und nehmen monatelang kein Telefon in die Hand, bis sie wirklich wissen, wie sie mit den Anrufen umgehen müssen.
Casas: Neben Ärztinnen und Ärzten bilden wir grundsätzlich nur Menschen aus den Fächern Pharmazie und Krankenpflege aus.
Warum haben Sie diese Arbeit gewählt?
Casas: Ich finde es interessant. Das hier ist ein Job, in dem man immer die jüngsten Erkenntnisse über neue Medikamente und Behandlungen bekommt. Außerdem können wir jeden Tag Menschen helfen.
Hier findest du eine Übersicht von Giftnotrufnummern in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Notrufnummern für Suizidgefährdete bieten Hilfe für Personen, die an Suizid denken – oder sich Sorgen um einen nahestehenden Menschen machen. Die Nummer der Telefonseelsorge in Deutschland ist: 0800 111 0 111. Hier gibt es auch einen Chat. Trauernde Angehörige von Menschen, die Suizid begangen haben, finden bei Organisationen wie Agus Hilfe.
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