Gleich zweimal hat Russlands Präsident Wladimir Putin vergangene Woche mit einem Atomkrieg gedroht – anfangs indirekt, beim zweiten Mal schon ein gutes Stück konkreter. In seiner Fernsehansprache vom 23. Februar, in der er den Angriff auf die Ukraine bekanntgab, warnte er den Westen davor, sich einzumischen. Das würde Konsequenzen haben, wie man sie noch nie zuvor in der Geschichte erlebt hat.
Am vergangenen Sonntag gab Putin dann bekannt, dass er Russlands “Abschreckungskräfte” in Alarmbereitschaft versetzt habe. Als Grund nannte er die wahrgenommenen Aggressionen durch die NATO. “Die westlichen Länder ergreifen nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht unfreundliche Maßnahmen gegen unser Land, sondern wichtige Führer großer NATO-Mitglieder haben aggressive Erklärungen über unser Land abgegeben”, sagte Putin in der Fernsehansprache. “Deswegen versetze ich Russlands Abschreckungskräfte in ein spezielles Regime der Kampfbereitschaft.”
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Eine derartige Bedrohung hat die Welt seit Jahrzehnten nicht gesehen. Wir haben mehrere Expertinnen und Experten gefragt, wie ernst wir Russlands Drohungen nehmen sollten. Wie wahrscheinlich ist ein Atomangriff und was genau bedeutet es eigentlich, dass Russlands Abwehrkräfte jetzt in Alarmbereitschaft sind?
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Emma Claire Foley von Global Zero, einer gemeinnützigen Organisation, die sich für die Abschaffung von Nuklearwaffen einsetzt, stellt erstmal klar: “Einige Atomwaffen sind jederzeit in Alarmbereitschaft.” Sowohl die USA als auch Russland verfügen über landbasierte Interkontinentalraketen, die jederzeit abschussbereit sind. “Diese Gefahr ist konstant, und das Zeitfenster für die Entscheidung über so einen Angriff ist sehr kurz.”
Beide Länder verfügen außerdem über die sogenannte nukleare Triade oder auch Zweitschlagfähigkeit. Neben den Interkontinentalraketen, die von Land aus abgefeuert werden, verfügen sie über U-Boot-gestützte ballistische Raketen und Langstreckenbomber mit Atomwaffen.
Die Triade ist wichtig, weil sie den Atommächten einen Gegenangriff erlaubt, sollte beim Erstschlag ein Teil der Triade ausgeschaltet worden sein. Würden die USA zum Beispiel alle Raketensilos Russlands zerstören, könnte das Land theoretisch noch mit Bombern und U-Booten zurückschlagen – der sogenannte Zweitschlag.
Der Theorie der nuklearen Abschreckung folgend ist der Grund, warum niemand Atomwaffen einsetzt, also nicht, dass niemand bereit dazu wäre, sondern dass Regierungen den Gegenschlag anderer Atomstreitmächte fürchten.
Um zu verstehen, was Putin eigentlich damit gemeint hat, dass er seine Abwehrkräfte in Alarmbereitschaft versetzt hat, muss man laut Foley in den kommenden Tagen genau die Bewegungen der Atom-U-Boote und Bomber verfolgen. “Zum Beispiel könnte eine Bombe schon aus einem Lager in ein Flugzeug verladen werden”, sagt sie. “Es wäre auch möglich, dass sie ihre U-Boote aufs Meer schicken, damit sie im Fall der Fälle direkt einsatzbereit sind.”
Wie genau der Kreml den Einsatz von Atomwaffen entscheidet, ist im Westen allerdings unbekannt. Hans Kristensen, Direktor des Atominformationsprojekts der Federation of American Scientists, sagt: “Der Bereitschaftszustand russischer Streitkräfte wird im Westen nur sehr unzureichend verstanden. Aber natürlich verwendet Putin es als eindeutige nukleare Drohung.”
Lange wurde dieses Wissen auch nicht wirklich gebraucht. Der Kalte Krieg ist seit über 30 Jahren vorbei, und seitdem haben sich die atomaren Spannungen langsam abgebaut. In den vergangenen fünf Jahren konnte man allerdings eine gegenläufige Entwicklung beobachten: Russland arbeitet an neuartigen Atomwaffensystemen, die USA haben zum ersten Mal seit Jahrzehnten ein U-Boot mit einem neuartigen Atomsprengkopf ausgerüstet, und Großbritannien gab bekannt, ebenfalls neuartige Nuklearwaffen bauen zu wollen. Hinzu kommt, dass diverse Rüstungsabkommen ihr Papier nicht mehr wert sind.
“Das sind ziemlich düstere Aussichten. Die größte Atommacht auf dem Planeten hat einen Anführer, der zu solchen Drohungen und militärischen Schritten bereit ist, ohne dass eine direkte Bedrohung durch die NATO oder die Vereinigten Staaten vorliegt”, sagt Kristensen. “Die NATO hat nicht mit Atomraketen vor Russlands Gesicht herumgefuchtelt.”
Viel mehr, so Kristensen, benutze Putin die Drohung mit einem Atomkrieg, um auf die westlichen Sanktionen gegen Russland und die Unterstützung der Ukraine zu antworten. “Bei solchen Dingen sollte das allerdings kein Faktor sein. Dass er trotzdem dazu bereit ist, bereitet mir Sorgen.”
Beatrice Fihn, Direktorin der internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, sieht das auch so. “Das ist eine extrem gefährliche Situation”, sagt sie. “Wir haben jetzt bei Putin gesehen, dass das für sie keine Verteidigungswaffe ist. Es ist eine Waffe, die sie benutzen, um mit anderen Ländern anstellen zu können, was sie wollen.”
Laut Fihn wäre es extrem gefährlich für die NATO, als Reaktion ihre eigenen Abschreckungsmaßnahmen hochzufahren. “Wir müssen die nukleare Rhetorik sofort deeskalieren”, sagt sie. “Je höher die Alarmstufe ist, desto anfälliger ist man für Fehler, Unfälle und Missverständnisse. Wir müssen auf lange Sicht an einer multilateralen Atomabrüstung arbeiten. Wir haben jetzt zehn Jahre lang erlebt, wie Waffenkontrollvereinbarungen aufgeweicht und verletzt wurden, wie internationale Gesetze ausgehöhlt und der Multilateralismus vernachlässigt wurde. Wenn Länder und ihre Anführer glauben, mit allem davonkommen zu können, endet man in Situationen wie dieser hier.”
Die Theorie der nuklearen Abschreckung geht davon aus, dass aus Angst niemand einen Erstangriff mit Atomwaffen starten würde. Außerdem geht sie davon aus, dass die Drohung mit nuklearer Zerstörung nicht in einem konventionellen Krieg benutzt werden würde. Für Fihn sind das ein paar Voraussetzungen zu viel. “Das ist die große Schwachstelle der nuklearen Abschreckung”, sagt sie. “Sie geht davon aus, dass alle rational handeln.”
Stephen Schwartz von der Fachzeitschrift Bulletin of the Atomic Scientists stimmt zu. “Die größten Befürworter von Nuklearwaffen haben gesagt, dass diese für Frieden sorgen, dass sie einen Atomkrieg verhindern”, sagt er. “Ich glaube, diese Leute müssen ihre Argumente zumindest anpassen, wenn nicht sogar komplett überdenken. Wollen wir uns erlauben, uns von Atomwaffen schachmatt setzen zu lassen? Was bedeutet das für die Zukunft von Russland und Europa? Was bedeutet das für die Zukunft der Welt?”
Wir sollten auch bedenken, dass die USA und andere westliche Länder pausenlos die Veränderungen in Russlands Atomgebaren überwachen. Putin hätte also gar nicht im Fernsehen bekanntmachen müssen, dass er Russlands Abwehrkräfte in Kampfbereitschaft versetzt. Dass er es getan hat, ist umso wichtiger.
Jeffrey Lewis, Atomwaffenexperte und Dozent am Middlebury Institute of International Studies in Kalifornien, sagt, dass die Tatsache, dass er es gesagt hat, beinahe traurig sei. “Putin versucht, Macht und Einschüchterung auszustrahlen. Das ähnelt Richard Nixons Madman-Alarm von 1973, auch wenn Nixon sich nie so direkt geäußert hat.” In den 70ern wollte Nixon bei der Sowjetunion und in Vietnam den Eindruck vermitteln, dass er unzurechnungsfähig ist und jederzeit einen Atomkrieg auslösen kann. “Die Sowjets haben Nixons Schachzug gelassen hingenommen. Das sollten wir auch mit Putin tun.”
Gleichzeitig sind natürlich viele Atomwaffen auf Russland gerichtet. “Auch wenn Putin Millionen Menschen töten könnte, ist er nicht dumm. Er weiß, dass auch die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich Nuklearwaffen besitzen. Das ist Abschreckung”, sagt Lewis.
“Wenn du es aber ein wenig wahnsinnig findest, dass Putin und der Westen Millionen Männer, Frauen und Kinder als Geiseln nehmen, um über die Zukunft der Ukraine und Putins Herrschaft in Russland zu verhandeln, gehörst auch du vielleicht zu den Skeptikern der atomaren Abschreckung”, sagt Lewis. “Nimm Platz, wir sind ein netter Haufen.”
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