Am 28. Februar stimmt die Schweizer Bevölkerung über die Durchsetzungsinitiative (DSI) ab. Mit der DSI fordert die rechtspopulistische SVP eine wortgetreue Umsetzung der vor sechs Jahren angenommenen Ausschaffungsinitiative, nach der schwer kriminelle Ausländer die Schweiz verlassen müssen. Die DSI geht aber vor allem in zwei Punkten weiter als die Ausschaffungsinitiative: Sie ergänzt den geltenden Straftatenkatalog, nach dem schwere Verbrechen wie Mord oder Vergewaltigung zu einer Ausschaffung führen, mit weniger schweren Delikten. Wer beispielsweise Hausfriedensbruch, Diebstahl und Sachbeschädigung begeht, würde mit der DSI ebenfalls ausgeschafft werden.
Weiter würde mit der DSI ein Aussschaffungs-Automatismus eingeführt. Mit diesem wäre es Richtern nicht mehr möglich, im Einzelfall über die Ausschaffung von kriminellen Ausländern zu entscheiden. Es gäbe keine Instanz mehr, die die Ausschaffung auf ihre Verhältnismässigkeit prüft. Wer gegen den in der DSI aufgeführten Straftatenkatalog verstösst, muss die Schweiz nach einer Verurteilung automatisch verlassen. Selten hat eine direktdemokratische Entscheidung einen derart intensiven Abstimmungskampf durchlebt. Auf der einen Seite stehen jene, die sich klar für ein Nein zur DSI aussprechen:
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- 52.000 Personen—von Ex-Bundesrätin Ruth Dreifuss über Bischof Markus Büchel bis zu Pop-Rapper Stress—, die einen „Dringenden Aufruf” unterzeichnet und über eine Million Franken für ihre Nein-Kampagne gesammelt haben. Im Vergleich dazu: Der Student Donat Kaufmann sammelte für den Kauf der Titelseite von 20 Minuten im letztjährigen Wahlkampf mit seinem „Mir langets”-Crowdfunding 138.000 Franken und die sozialdemokratische SP hatte im gesamten Wahlkampf für die Nationalratswahlen geschätzte 1.5 Millionen Franken zur Verfügung.
- 120 Rechtsprofessoren, die die DSI in einem Appell an das Stimmvolk als Gefahr für die schweizerische Rechtsordnung sehen.
- Ein von der Operation Libero angeführtes NGO-Komitee, das mit Memes und viral gehenden Artikeln versucht, Stimmung zu machen.
- Alle nennenswerten Parteien und Verbände von der linken Ecke der SP bis zur bürgerlichen Ecke der FDP.
Auf der anderen Seite stehen jene, die sich klar für ein Ja zur DSI aussprechen:
- Die rechtspopulistische SVP.
Dabei werden die üblichen Argumente zwischen den Gegnern hin und her gespielt: Ausländer sind Gäste in diesem Land und haben sich zu benehmen versus Ausländer sind ein wesentlicher Teil unserer Gesellschaft. Für unsere Sicherheit ist es wichtig, wenn möglichst wenig Kriminelle in der Schweiz leben versus eure Sicherheit basiert auf Diskriminierung von Minderheiten. Die DSI setzt den Willen des Volkes um versus die DSI untergräbt die demokratische Grundordnung. Die DSI schützt die Opfer versus die DSI macht die Täter zu Opfern.
Was dabei auffällt: Niemand scheint wirklich zu wissen, wie die DSI bei mehr als 50 Prozent Ja-Stimmen umgesetzt werden soll. Der SVP-Rechtsprofessor Hans-Ueli Vogt sagte in einem Interview, Ausländer der zweiten Generation ohne Schweizer Pass seien von den Ausschaffungen nicht betroffen—seine SVP widersprach. Die Redaktion der SRF-Politsendung „Arena” führte als Ausschaffungsbeispiel einen Kavalier an, der für sein Date in einen fremden Garten einbrach, um dort einen Strauss Rosen zu stehlen—die SVP-Vertreter in der „Arena” widersprachen, dieser Fall führe zu keiner Ausschaffung.
Bei einem der grundlegendsten Argumente, widerspricht jedoch kaum jemand: Ausländer sind krimineller als Schweizer. Schauen wir für einmal über die Tatsache hinweg, dass es „die Ausländer” ebenso wenig gibt wie „die Schweizer” und werfen einen Blick auf die Homepage der SVP. Die Partei schreibt dort als Basis für einen grossen Teil ihrer Argumentation für die DSI:
Bei einem Ausländeranteil von über 24% in der Schweiz gehen 57,7% der Tötungsdelikte, 61,3% der Vergewaltigungen und nicht weniger als 73% der Einbruchdiebstähle auf das Konto von ausländischen Kriminellen. Als Folge davon liegt der Ausländeranteil in den Schweizer Gefängnissen bei 73%, was Kosten für die Steuerzahler von über 730 Millionen Franken pro Jahr zur Folge hat.
Sehen wir uns diese Aussage genauer an, merken wir schnell, dass diese Argumentationsbasis nicht sonderlich solide ist. Die wichtigsten Probleme:
- Tötungsdelikte, Vergewaltigungen und Einbruchdiebstähle führen schon mit der aktuellen Umsetzung der Ausschaffungsinitiative zu einer Ausschaffung.
- Nur 20 Prozent der Gefängnisinsassen sind laut Bundesamt für Statistik Ausländer mit festem Wohnsitz in der Schweiz und somit für die DSI relevant. Die restlichen 80 Prozent sind Schweizer, Asylsuchende und Kriminaltouristen—Menschen also, die auch nicht ausgeschafft werden können, selbst wenn die DSI angenommen wird.
Wir müssen demnach nicht wie von der SVP kommuniziert von 73 Prozent Ausländern im Gefängnis ausgehen, sondern von 20 Prozent. Blenden wir also die Ausländer, auf die die DSI keinen Einfluss hat, aus, zeichnet sich ein ganz anderes Bild: Das Verhältnis von Ausländern zu Schweizern in Gefängnissen liegt bei 42 zu 58 Prozent.
Verglichen mit dem Ausländeranteil an der Bevölkerung von 24 Prozent, gibt der Ausländeranteil in Gefängnissen von 42 Prozent der SVP in einem Punkt recht: Rein rechnerisch sind Ausländer krimineller als Schweizer.
Auch eine Studie von Kriminologen der Universität Zürich kommt zu einem ähnlichen Schluss. Sie besagt, dass vor sechs Jahren 18- bis 29-jährige Ausländer 1.5 Mal—also 50 Prozent—krimineller waren als gleichaltrige Schweizer. In dieser Altersgruppe ist der Unterschied allerdings grösser als bei allen anderen Altersgruppen. Doch stimmt diese rein rechnerische Antwort, die die SVP unterstützt?
Die einfache—und nicht ganz richtige—Antwort wäre ein simples „Ja”. Die komplexe—und richtigere—Antwort fügt diesem „Ja” ein sehr grosses „aber” an. Unter Wissenschaftlern ist nämlich unumstritten, dass dieser Unterschied in den Kriminalitätsraten, anders als von der SVP mit der DSI impliziert, mit vielen Eigenschaften zusammenhängt—nicht aber mit der Nationalität.
Wir haben auch schon die Frage beantwortet, wie gefährlich „die Flüchtlinge” wirklich sind.
Die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung weist etwa darauf hin, dass Männer krimineller sind als Frauen, Junge krimineller als Alte, Städter krimineller als Landbewohner und schlecht Gebildete krimineller als gut Gebildete. Das leuchtet ein: Der junge, urbane Zürcher Kreis 4 weist schliesslich eine höhere Kriminalitätsrate auf, als ein überaltertes Walliser Bergdörfchen.
Auch der Berner Soziologieprofessor Ben Jann betont in einem Interview mit der NZZ, dass zwischen Schweizern und Ausländern kaum Unterschiede bezüglich Kriminalität bestehen, wenn man den Einfluss der Bildung, der beruflicher Stellung und der familiären Situation berücksichtigt.
Und siehe da: Es gibt sogar einzelne Studien, die zum Schluss kommen, dass Ausländer unter diesen Bedingungen weniger kriminell sind als Inländer.
Die meisten dieser wissenschaftlichen Studien verweisen auf die Bildung als einen der wichtigsten Einflüsse darauf, ob jemand kriminell wird oder nicht. Vergleichen wir die Bildung von Schweizern und Ausländer stellen wir fest: 25 Prozent der Ausländer verfügen nur über eine obligatorische Schulbildung, bei den Schweizern hingegen sind es gerade einmal 7 Prozent. Sind es also die Unterschiede in der Bildung, die die höheren Kriminalitätsraten bei Ausländern erklären?
Dazu nehmen wir noch einmal die Zahl aus der Studie der Kriminologen zur Hand: Junge Ausländer sind 1.5-mal krimineller als Schweizer. Schauen wir uns die Bildungsunterschiede an, sehen wir, dass unter Ausländern 3-mal so viel schlecht Gebildete sind wie unter Schweizern—oder einfacher gesagt: Ausländer sind im Durchschnitt deutlich weniger gut gebildet als Schweizer. Und wie wir bereits wissen, verstossen weniger gut Gebildete eben mehr gegen Gesetze als gut Gebildete—egal ob sie nun ein Schweizer Kreuz auf ihrem Pass haben oder nicht.
Man kann den Ausländern nicht vorwerfen, dass sie durchschnittlich schlechter gebildet sind. Ein Blick in die Schweizer Geschichte zeigt nämlich, dass es vor allem an den Eidgenossen selbst liegt, dass vorwiegend schlecht Gebildete Ausländer in die Schweiz kamen. 1948 holte die Schweiz Tausende Italiener und Anfang der 1990er über 130.000 Jugoslawen und Portugiesen als billige Arbeitskräfte und Konjunkturpuffer ins Land. Dass diese sich bilden—und damit weniger anfällig für Kriminalität werden—war gar nicht im Interesse der Schweiz. Erst seit einigen Jahren gibt es das Phänomen, dass vermehrt auch gut gebildete Spezialisten—Ärzte, Professoren, Manager—den Weg von Deutschland, Österreich oder Grossbritannien in die Schweiz finden.
Trotzdem beharrt die SVP darauf, dass sie mit dem Willen des Volkes für die Sicherheit der Schweiz hart gegen kriminelle Ausländer vorgehen muss—egal was es auf menschlicher, rechtlicher und wirtschaftlicher Ebene koste. Konsequent wäre dieser Logik nach allerdings, den Fokus nicht auf kriminelle Ausländer zu richten, sondern auf kriminelle Männer. Schliesslich sind 95 Prozent der Gefängnisinsassen männlich. Um auf dem Argumentationsniveau der SVP zu bleiben: eine angsteinflössend hohe Zahl im Vergleich zu den 20 Prozent Ausländern. Ich warte also auf die Initiative, die fordert, kriminelle Männer zum Schutz der Bevölkerung für immer hinter Gittern zu verwahren.
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Titelfoto von Connor Tarter | Flickr | CC BY-SA 2.0