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Tony wurde vom Blitz getroffen und war plötzlich Klavier-Virtuose

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Dieses Interview ist ein Ausschnitt von einer Folge ‘Extremes’ – einem VICE-Podcast, den es exklusiv auf Spotify gibt. Die ganze Story kannst du hier hören.

Laut eigener Aussage interessierte sich Tony Cicoria – 1952 in Upstate New York geboren – als Kind viel mehr fürs Angeln als für Musik. Er sagt: “Als ich sieben Jahre alt war, bestand meine Mutter trotzdem darauf, dass ich Klavierstunden nehme. Nach einem Jahr hatte ich keine Lust mehr und hörte wieder auf.” Durch eine Nahtoderfahrung sollte sich das alles ändern.

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Spulen wir vor bis ins Jahr 1994: Inzwischen arbeitet Tony nach seinem Medizinstudium als orthopädischer Chirurg und hat eine Familie gegründet. Eines Tages fällt ihm beim Grillen in einem Park ein, dass er schon länger nicht mehr mit seiner Mutter gesprochen hatte. Also geht er zu einer Telefonzelle und wählt ihre Nummer.

In diesem Moment entlädt sich – ohne, dass Tony es merkt – eine große Wolke über dem See im Park. Gerade als Tony auflegen will, schlägt ein Blitz in die Telefonleitung ein, schießt durch den Hörer und trifft ihn im Gesicht. Er wird aus der Telefonzelle geschleudert, zum Glück kann ihn eine herbeieilende Krankenschwester wiederbeleben.

Von da an ist nichts mehr wie vorher, durch den Zwischenfall entwickelt sich bei Tony auf unerklärliche Weise eine kaum zu bändigende Musikbegeisterung. 14 Jahre später findet diese Begeisterung ihren Höhepunkt: Tony betritt eine Bühne und spielt vor Tausenden Menschen seine erste Klavierkomposition, die er treffend “The Lightning Sonata” – also die Blitz-Sonate – genannt hat. Wir haben mit Tony Cicoria gesprochen.

Der Konzertpianist Tony Cicoria bei einem Auftritt. Durch einen Blitzeinschlag wurde er plötzlich zum Liebhaber klassischer Musik
Tony bei einem seiner Auftritte

VICE: Wie ging es dir, als du nach dem Blitzeinschlag aufgewacht bist?
Tony Cicoria: Da war ich erstmal richtig sauer, weil mein ganzer Körper höllisch weh tat und ich lieber ganz woanders sein wollte. Die Stellen, an denen mich der Blitz im Gesicht traf und wo er am Fuß wieder aus meinem Körper austrat, fühlten sich so an, als hätte sie jemand mit einem glühend heißen Schürhaken bearbeitet. Zum Glück konnte ich wieder aufzustehen und noch laufen. Meine Familie setzte mich ins Auto und brachte mich nach Hause. Das war der Anfang von allem.

Was heißt das, der Anfang von allem?
Zuerst war ich gut eine Woche lang wie benebelt und fühlte mich total schlapp. Aber danach konnte ich wieder klarer denken. Plötzlich hatte ich ein starkes Verlangen danach, klassische Musik zu hören. Also kaufte ich eine CD von Wladimir Aschkenasi, einem berühmten russischen Pianisten, auf der er seine liebsten Chopin-Stücke spielt. Diese CD lief dann rund um die Uhr, mein Umfeld hatte irgendwann die Nase voll davon. Dann wurde mir etwas klar: Es reichte mir nicht mehr, die Musik nur zu hören, ich musste lernen, sie selbst zu spielen. Ich war überzeugt davon, dass ich nur noch am Leben war, um Musik zu machen.

Gibt es eine neurologische Erklärung für dieses Verlangen?
Ich lernte den berühmten Psychiater und Forscher Darold Treffert kennen, der sich vor allem mit dem Thema Inselbegabungen beschäftigt. Er ordnete mich den Menschen zu, die plötzlich ein neues Talent entwickeln. Ich traf mich mit einigen dieser Menschen und stellte dabei erstaunt fest, dass sie alle in irgendeiner Weise ein Gehirntrauma erlitten hatten und daraufhin das Talent da war.

Ich weiß noch genau, wie der Neurologe Oliver Sacks zu mir sagte, dass mein Gehirn durch den Blitzeinschlag “wohl irgendwie neu verkabelt wurde” und ich jetzt Zugang zu Dingen hätte, von denen ich noch nicht gewusst hatte.

Also hast du dir ein Klavier gekauft und hast angefangen zu spielen.
Ich hatte keine Ahnung, was ich mit meinen Händen tun sollte, und tat mir echt schwer, die ganzen Aspekte des Klavierspielens zu begreifen. Ich gab aber nicht auf. Etwas später hatte ich dann einen total abgefahrenen Traum: Darin sah ich mich selbst auf einer Bühne Klavier spielen – und zwar nicht die Musik eines anderen Komponisten, sondern meine eigene! Die Musik endete mit einem lauten Rums, der mich aufweckte.

Du hast von deiner eigenen Komposition geträumt?
Genau. Ich stand auf, ging rüber zum Klavier und spielte einige der Melodien, die ich im Traum gehört hatte. Leider wusste ich nicht, wie man das Ganze aufschreibt, weswegen ich frustriert zurück ins Bett stieg. Von da an kam mir aber jedes Mal diese Musik in den Kopf, wenn ich mich ans Klavier setzte. Wenn ich sie ignorieren wollte, wurde sie einfach immer lauter. So entwickelte ich eine Art Obsession.

Was genau meinst du mit Obsession?
Ich stand jeden Tag um vier Uhr morgens auf und übte am Klavier, bis ich um sechs Uhr zur Arbeit musste. Nach zwölf Stunden kam ich wieder nach Hause, spielte eine Stunde mit den Kindern und dann setzte ich mich bis Mitternacht wieder ans Klavier, bis ich ganz wirr im Kopf war.


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Und dabei hast du immer versucht, die Musik aus deinem Traum nachzuspielen?
Ja. Ich schrieb auch immer Teilstücke der Melodie auf Papierfetzen, die ich dann in eine Schublade steckte. Eines Tages nahm ich den ganzen Inhalt der Schublade und verbrachte die darauffolgenden sieben Monate damit, die Musik aus meinem Traum so aufzuschreiben, dass sie auch jemand anderes lesen konnte.

Wie hast du das Stück genannt?
“The Lightning Sonata”. Die Musikexperten aus meinem Freundeskreis sagten jedoch, dass das keine Sonate sei, dafür müsse ich das Stück in eine andere Form bringen. Aber man kann seine Musik ja so nennen, wie man will. Deshalb blieb ich bei “Opus One: The Lightning Sonata”.

Wie kam es zu deinem öffentlichen Auftritt?
Eines Tages rief mich Oliver Sacks an, er sagte: “Ich will Ihre Geschichte für mein Buch verwenden. Sie wird am 23. Juli im Magazin The New Yorker stehen.” Plötzlich stand mein Telefon nicht mehr still. Ich bekam auch einen Anruf von einem der Leiter der Musikabteilung der State University of New York. Er überredete mich quasi dazu, ein Konzert im Performing Arts Centre der Universität zu spielen. Ich hatte ja keine Ahnung, auf was ich mich da einließ.

Wie hast du dich auf den Auftritt vorbereitet?
Ich rief meine Klavierlehrerin an, von da an übten wir täglich rund vier Stunden. Das war richtig viel Arbeit, ich musste ja lernen, wie ich mich auf der Bühne gebe, wie ich das Ganze am besten angehe und wie ich die Musik auswendig lerne. Als das Konzert im Januar 2008 schließlich anstand, hieß es plötzlich, dass auch Fernsehsender aus Großbritannien und Deutschland anwesend seien. Also waren neben den Tausenden Zuschauern plötzlich auch mehrere Kamerateams im Konzertsaal.

Wie lief dein Auftritt dann ab?
Als ich die Bühne betrat, war das Licht so eingestellt, dass ich den gesamten Zuschauerraum überblicken konnte. Da hatte ich Schiss. Ich habe echt keine Ahnung, wieso ich da nicht reflexartig geflüchtet bin. Letztendlich schaffte ich es aber ohne Probleme durch mein Stück. Und die Musik war wirklich genauso wie in meinem Traum. Ich hatte meine Blitz-Sonate endlich richtig gespielt.

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