Menschen

Was Reisen bedeutet, wenn du aus einer armen Familie stammst

Für alle, die als Kinder nicht im Disneyland waren oder nach dem Abi durch Australien gereist sind.
Eine Frau in einem roten Pullover füttert einen Affen in Japan
Die Autorin füttert einen Affen auf dem Gipfel eines Berges in Japan | Foto mit freundlicher Genehmigung der Autorin

Als ich aufwuchs, war Urlaub nie eine Priorität in meiner Familie. Ich verbrachte meine Kindheit in Newham im Osten Londons, dem Bezirk mit der zweithöchsten Kinderarmutsrate Englands. Die Hälfte aller Kinder in Newham sind von Armut betroffen, und meinen sechs Geschwistern und mir ging es nicht anders. 

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Mein ältester Bruder Raheem war zum Beispiel nie außerhalb Großbritanniens – lebte aber mit 15 auf der Straße und wurde mit 18 Vater, Teil einer Gang und einer der Hauptverdiener unserer Familie. Raheem heißt in Wirklichkeit anders, aber um ihn und meine anderen Familienmitglieder zu schützen, tragen alle in diesem Artikel andere Namen. 

Auch ich hatte lange Zeit nicht einmal Englands Küste besucht. Doch als ich 16 war, verließ ich mein Umfeld in Newham, um eine weiterführende Schule im Londoner Stadtteil Camden zu besuchen. Dort traf ich zum ersten Mal auf Gleichaltrige, die regelmäßig von ihrem Familienurlaub erzählten. Wenn sie mich dagegen nach meinen Ferienerlebnissen fragten, habe ich mich geschämt. Ich wollte nicht zugeben, dass wir uns mehr Sorgen über unsere nächste Mahlzeit machen als über die Frage, ob wir in den Schulferien nach Cancún oder ins Disneyland fahren. 


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Die Reiseindustrie ist mehrheitlich Weiß. In US-amerikanischen Umfragen gaben nur 36 Prozent der Auslandsreisenden an, nicht-Weiß zu sein. Studien aus Großbritannien zeigen, dass Schwarze und asiatische Personen im Gegensatz zu Weißen Menschen weniger wahrscheinlich kulturelle Denkmäler oder Museen besucht haben. In Deutschland gibt es keine groß angelegten Studien zum ethnischen Hintergrund deutscher Reisender. Zu deren finanziellen Möglichkeiten schon eher: In einer Umfrage des Bayerischen Zentrums für Tourismus aus dem vergangenen Jahr gaben fünf Prozent der Befragten an, kein Geld für einen Urlaub zu haben. 

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Für meine Familie waren Reisen so unerreichbar, dass wir uns lange nicht einmal getraut haben, darüber nachzudenken. Dennoch hatten die Erzählungen meiner Mitschülerinnen und Mitschüler einen großen Einfluss auf mich: Ich träumte zum ersten Mal davon, zu verreisen. Es war damals ein unerreichbarer Traum. Niemals hätte ich gedacht, dass ich wirklich irgendwann das Land verlassen würde. 

Wer als Erwachsener zum ersten Mal verreist, muss sich alles selber beibringen

Als ich zum ersten Mal außerhalb Englands gereist bin, war ich 21 Jahre alt. Ich bin nicht die Einzige, die diese Erfahrung so spät gemacht hat: Wunmi Alowonle und Sophia Tran, beide 30, waren ebenfalls erst spät zum ersten Mal im Urlaub. "Unsere Eltern waren Immigranten", sagt Tran, "wir sind als Kinder nie richtig verreist".

Wunmi Alowonle (r.) und Sophia Tran posieren auf einem Berggipfel für ein Foto

Heute haben sie und Alowonle zusammen viele Länder besucht, von Frankreich bis Belize. Um zu zeigen, dass auch Menschen aus ärmeren Bevölkerungsgruppen reisen können, haben die beiden den Blog Thrifty with a Compass gegründet. Dort beschreiben sie, wie man mit wenig Geld in den Urlaub fährt – und wie es sich anfühlt, die erste reisende Person in der Familie zu sein. "Wir haben nie gelernt, worauf man achten muss", sagt Alowonle. "Vieles mussten wir als Erwachsene erst herausfinden." 

Ich kann dieses Problem gut nachvollziehen. Für meinen ersten Trip alleine habe ich einen Hinflug nach Indien gebucht. Ich hatte mich nicht über das Land informiert. Es war einfach weit genug weg von meiner Familie, um als echte Abenteuerreise zu gelten. Meine Freunde und Freundinnen hielten mich für verrückt und erzählten mir alle möglichen Horrorgeschichten. Aber ich war stur genug, um mich dadurch nicht von meinem Plan abhalten zu lassen.

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Doch auch zu Hause wurde meine Idee kritisiert. Viele Gleichaltrige hatten auslandserfahrene Familien, die sie beim Reisen mental und finanziell unterstützten. Meine Eltern dagegen hatten keine Ahnung von der Welt und hätten mich lieber zu Hause in Sicherheit behalten. Tran berichtet von einer ähnlichen Erfahrung: "Meine Mutter ist sehr ängstlich, weil sie während des Krieges in Vietnam aufgewachsen ist", sagt sie. "Sie hat furchtbare Dinge gesehen und macht sich immer Sorgen um mich – vor allem als alleinreisende junge Frau." 

Natürlich läuft nicht immer alles glatt. Wer als Erwachsene zum ersten Mal reist, neige zu Problemen bei der Reiseorganisation, sagt Alowonle: "Man hat ja nie die Erfahrung gemacht, zu reisen und sich dabei ganz auf die Planung der Eltern zu verlassen." Ich war nie jemand, der viel organisiert hat. Aber nach meiner ersten chaotischen Woche in Delhi hat sich das geändert.

So sehr, dass ich mich ins andere Extrem gestürzt habe. Beim nächsten Stopp meines Indien-Trips in Goa hatte ich alles bis ins kleinste Detail vorgeplant und dabei den Sinn des freien Backpacker-Daseins total verfehlt. Während alle anderen spontan von Hostel zu Hostel gefahren sind und dazwischen die besten Partys erlebt haben, hing ich in meiner gebuchten Unterkunft fest. 

In den Hostels sparte ich Geld und schickte es meinem Bruder für seinen Gerichtsprozess

Die Skills, die ich bei meiner ersten Reise erlernt habe, sind heute unersetzbar. Und die neue Flexibilität, das sparsame Leben und die Distanz zu London haben mir und meiner Familie sogar in einigen Krisensituationen geholfen. Als ein Gericht meinen zweitältesten Bruder Fayez zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilte, konnte ich Geld für das Berufungsverfahren beisteuern. Immerhin hatte ich viel Geld durch günstiges Streetfood, Couchsurfing und Trampen gespart. In London hätte ich viel mehr ausgegeben. Zum ersten Mal in meinem Leben war es cool, wie eine arme Person zu leben. Schließlich war ich jetzt nicht mehr finanziell schwach, sondern einfach eine unter vielen Low-Budget-Backpackerinnen. 

Doch es gab auch eine schlechte Seite: Während ich im Ausland war, verpasste ich wichtige Familienereignisse. Wenn Fayaz einmal in der Woche aus dem Gefängnis anrufen durfte, legten meine Geschwister das Festnetztelefon meiner Eltern neben ihr Handy, über das ich von einem anderen Kontinent zugeschaltet war.

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Dennoch schienen meine Reisen meine Brüder auch zu inspirieren: Ich habe viel mit Raheem gelacht, wenn er ungläubig fragte, ob in Thailand wirklich wilde Elefanten durch die Gegend laufen. "Ich bin so stolz, wenn du von deinen Reisen erzählst", sagte er einmal. "Manchmal will ich ein ehrliches Leben führen, nur damit ich mit meinen Kindern einen schönen Ort besuchen kann." Für nicht-Weiße Menschen fühle sich Urlaub oft wie ein unerreichbarer Traum an, sagt Wunmi Alowonle. Tatsächlich konnte ich da zum ersten Mal spüren, dass sich Raheem ein anderes Leben erhoffte. 

Doch sein Traum sollte unerreicht bleiben. Raheem starb mit 32 in einer Gefängniszelle. Ich war zu dem Zeitpunkt in Thailand. Weil ich kein Geld hatte, um meinen Flug umzubuchen, habe ich es erst eine Woche nach seinem Tod zurück nach Hause geschafft. Nicht einmal ein privates Hotelzimmer konnte ich mir in der Zeit leisten: Die ganze Woche bis zu meinem Heimflug saß ich in meinem Bett im Schlafsaal und trauerte um meinen Bruder. 

Selbst am anderen Ende der Welt kann ich meiner Herkunft nicht entkommen

Raheems Tod riss mich mit voller Wucht zurück in die Realität. Egal, wie weit ich mich von meinem Leben zu Hause entfernte, ich würde niemals vor meiner Herkunft weglaufen können. 

Sophia Tran hat eine optimistischere Herangehensweise: Wer aus einem Umfeld wie unserem komme, könne mit seinen Reisen andere inspirieren. Trans Vater, der wie ihre Mutter den Vietnamkrieg überlebt hat, freue sich jedes Mal über ihre Fotos, Videos und Anrufe aus fernen Ländern. 

"Mein Vater hat gesehen, wie kurz das Leben sein kann", sagt Tran. "Deswegen sagt er meiner Mutter immer: 'Sophia muss da draußen noch viel erleben, und über sie nehmen wir an diesem Leben teil.'" Und vielleicht stimmt das: Obwohl Raheem nie selber verreisen konnte, wirkte er über meine bevorstehenden Reisen genauso aufgeregt und voller Vorfreude wie ich selbst. 

Menschen wie Raheem und Sophia Trans Vater zeigen, dass Reisen für Menschen wie uns mehr sind als Spaß und die Suche nach uns selbst. Oder wie Wunmi Alowonle sagt: "Es ist wichtig, dass Menschen wie wir beim Reisen repräsentiert sind. Das hat einen enormen Einfluss auf andere, die den gleichen Traum haben." Vielleicht reise ich auch deswegen so viel wie nie zuvor. Es zeigt anderen, dass jemand mit meinem Hintergrund in der Welt aufblühen kann – trotz aller Hindernisse, die das Leben uns mitgegeben hat.

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