Ein Mann mit Kopfhörern sitzt vor einem Bildschirm. Immer mehr junge Leute quiet quitten ihre Jobs. Woran liegt das
Bild: IMAGO / Panthermedia
Menschen

Warum Quiet Quitting so viele junge Leute anspricht

Ein Lehrer, eine Sexarbeiterin und ein Angestellter in einer Kreativagentur erzählen von der Ausbeutung im Job.

Ein Arbeitsleben ohne Stress. Das ist das Versprechen hinter Quiet Quitting, auf Deutsch: stilles Kündigen. Es meint, dass Arbeitnehmende nur noch das tun, was sie tun müssen. Keine Überstunden, keine unbezahlte Arbeit, nichts, was nicht explizit in ihren Aufgabenbereich fällt. Sie mögen ihre Jobs, sehen aber nicht mehr ein, dafür ihr Privatleben zu opfern.

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Also klar, das klingt jetzt nicht neu, aufregend oder innovativ. Der "Dienst nach Vorschrift" meint etwas ähnliches und ist in Deutschland schon lange die kokette Bezeichnung dafür, dass man keinen Bock auf Arbeit hat. Und in manchen Branchen auch schon fast Teil der Jobbeschreibung, wie wohl jeder bestätigen kann, der einmal einen neuen Personalausweis beantragt hat. Warum geht Quiet Quitting also gerade jetzt so durch die Decke? Und stimmt es wirklich, dass alle jungen Leute ihren Chefinnen den Vogel zeigen, wenn die mit neuen Aufgaben auf sie zukommen?


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Das Umfrageinstitut Yougov hat herausgefunden, dass 56 Prozent aller Menschen in Deutschland kündigen würden, wenn sie es sich finanziell erlauben könnten. 48 Prozent würden in Teilzeit wechseln, wenn sie dürften und 76 Prozent sind für eine Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich. All diese Werte sind in den letzten zwei Jahren gestiegen. Kurz: Leute haben immer weniger Bock zu arbeiten.

Dass Quiet Quitting jede Menge Leute anspricht, haben wir selbst erfahren. Unser TikTok-Video, das erklärt, was Quiet Quitting bedeutet, wurde über 150.000 mal geschaut. Über Tausend Leute haben den Post kommentiert oder ein Lesezeichen gesetzt.

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Uns haben aber auch eine Menge Menschen geschrieben, die von sich selbst sagen, dass sie das Quiet Quitting in ihrem Job jetzt schon durchziehen. Wir haben mit einigen dieser Leute, einem Lehrer, einem Agenturmitarbeiter und einer Sexarbeiterin gesprochen, um herauszufinden, was wirklich dran ist, am Quiet Quitting der jungen Menschen.

Eine Person auf TikTok bringt einen zentralen Gedanken hinter dem Quiet Quitting auf den Punkt. Sie schreibt: "Engleutsch? Besser Latein: do ut des: ich gebe (Zeit) damit du mir (Geld) gibst = Arbeiten nach Arbeitsvertrag. Was ist falsch daran?"

Nicole Clemens ist Wirtschaftspsychologin mit Schwerpunkt auf Organisationsentwicklung und kann das bestätigen. Sie sagt, es gebe neben dem Arbeitsvertrag, den man unterschreibt, wenn man einen neuen Job beginnt, auch einen ungeschriebenen, psychologischen Vertrag. Man könne sich den vorstellen wie die Grundlage einer Beziehung oder Freundschaft. Eine Art Grundvertrauen, dass beide Parteien nur das Beste füreinander wollen. "Wenn der psychologische Vertrag nun einseitig gebrochen wird, zieht sich die andere Seite auf den Arbeitsvertrag zurück. Und macht schließlich nur noch das, was schwarz auf weiß darin zu finden ist."

Corona könne das verstärkt haben. Alle Welt redete davon, wie gefährlich das neue Virus ist, während einige Arbeitgeberinnen ihre Angestellten ins Büro kommen ließen, obwohl der Sinn nicht ersichtlich war oder es andere Möglichkeiten gegeben hätte. Wenn meinem Arbeitgeber meine Gesundheit egal ist – wie soll ich ihm dann vertrauen können?

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1. Der Lehrer

Aber wie sieht das im konkreten Fall aus? Ein junger Lehrer aus Baden-Württemberg will anonym bleiben und erzählt, dass es unter seinen Kollegen jede Menge Quiet Quitter gebe. Zwar fühle er sich selbst noch nicht betroffen, merke aber, wie kurz er immer wieder davor stehe, der Stille nachzugeben. 

"Lehrer werden in jungen Jahren schon verheizt", sagt er. "Anfangs sind sie engagiert, haben dann aber irgendwann einmal zu oft auf die Fresse gekriegt." Und wenn sie dann einmal verbeamtet seien, hätten sie ohnehin nichts mehr zu verlieren – "Die sagen dann: Was wollen die machen?" 

Aber was heißt das, auf die Fresse kriegen? "Die haben einmal zu oft 'Nein' gehört, ihre Ideen nicht umsetzen können, blöde Vorgesetzte gehabt oder zu viel von oben draufgedrückt bekommen." Er selbst habe viele seiner Pläne scheitern sehen und sei einmal kurz davor gewesen, zum Quiet Quitter zu werden.

Er sei Sportlehrer und habe eine Kletterwand der Nachbarschule nutzen wollen, was aber abgeblockt worden sei. "Man wird immer gebremst in seiner Euphorie und seinem Enthusiasmus. Ständig kriegt man Steine in den Weg gelegt", sagt er. Wenn eine Arbeitsumgebung also destruktiv sei, würden Lehrer irgendwann aufgeben. Sein bester Freund etwa mache nichts mehr, was er nicht machen muss. Und trotzdem Karriere. "Das geht auch nur als Lehrer", sagt er.

Die Wirtschaftspsychologin Nicole Clemens coacht selbst Menschen im Beruf und kennt das Phänomen. "Diese Leute fühlen sich nicht genug gesehen", sagt Clemens. "Manche Führung hat ihren Job auf der Beziehungsebene nicht gut gemacht, nicht genug gelobt, Leistung und Entbehrungen zu wenig anerkannt." Die Konsequenz? "Die Leute suchen sich Bestätigung im Privatleben. Sie machen Sport oder Musik oder verfolgen andere Hobbys." Das freiwillige Engagement der Leute wandert also vom Beruf in die Freizeit. Sie werden zu Quiet Quittern. 

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Clemens sagt aber auch, dass Quiet Quitting ein Kampfbegriff sei, der Aufmerksamkeit auf etwas lenken soll, worunter Menschen schon länger leiden. "Und so quiet ist das auch alles gar nicht, wenn man sich den Erfolg der TikTok-Videos zu dem Thema anguckt und die Kommentare darunter." 

Sowieso sei das, was gerade passiert, ein Zwischenschritt. "Wir befinden uns mitten in einem grundlegenden Kulturwandel in der Arbeitswelt", sagt Clemens. Der Fachkräftemangel, Krisen und das Ende einer ungebremsten Wachstumsökonomie fordern eine andere Art der Beziehung. Mittlerweile sei es ohnehin erwiesen, dass man auch bei geringerer Wochenstundenanzahl die gleiche Arbeitsleistung wie bei einer 40-Stunden-Woche verrichten kann. 

Arbeitgeber wollen das nur zum großen Teil nicht glauben. "Wenn es einen Konflikt gibt, muss sich einer bewegen, damit man das Problem lösen kann. Quiet Quitting heißt also auch, dass damit die Arbeitsstrukturen und das Verhältnis zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden jetzt neu verhandelt wird", sagt Clemens. Statt in der Hoffnung auf eine Beförderung immer mehr, mehr, mehr im Job zu geben, besinnt man sich auf die Aufgaben, für die man eingestellt wurde. "Möchte der Arbeitgeber mehr, müssen auch andere Bedingungen neu verhandelt werden", sagt Clemens.

2. Die Sexarbeiterin

Aus dem fernen Griechenland meldet sich Lisa per Instagram-DM bei uns. Sie war Mitarbeiterin im sozialen Bereich im Ruhrpott, bevor sie alles hingeworfen hat und ins Sex-Business eingestiegen ist. Sie kommt gerade aus dem Meer, als wir telefonieren. Der Wind rauscht im Hintergrund – und unser kaltes Büro im grauen Berlin wirkt plötzlich noch trauriger. 

Sie erzählt, dass während Corona viele Leute aus ihrem Betrieb in Kurzarbeit waren oder aus anderen Gründen zu Hause bleiben mussten. Es seien dann Lisa und zwei Kolleginnen gewesen, die als Notbesetzung die Arbeit der anderen etwa 35 Leute machen mussten – auch und vor allem Dinge, von denen Lisa vorher keine Ahnung hatte.

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"Das war weit außerhalb meiner Kompetenz. Ich musste Verträge schreiben, Buchhaltung machen, Personalplanung und die Kommunikation mit unserem Arbeitgeber." Anfangs habe ihr das Spaß gemacht, es gab jede Menge Lob und Anerkennung, und natürlich war Lisa auch stolz auf das, was sie da leistete. Aber das änderte sich nach wenigen Monaten.

Denn neben diesen neuen Aufgaben musste sie weiterhin ihren regulären Job machen, also Langzeitarbeitslosen ins Leben zurück helfen. Mit Leuten, die oft in Zwangsprostitution steckten, drogenabhängig waren oder kleinkriminell. Schnell war ihr das alles zu viel. "Ich hatte keine Zeit mehr für mein Privatleben. Wenn meine Mutter abends anrief, musste ich sie abwimmeln, weil ich keine Kraft mehr hatte, mit Menschen zu sprechen", sagt Lisa. 

Als sie das bei der Führung anmerkte, sei sie vertröstet worden, vor allem aber habe man sie abschätzig behandelt. Man habe nun selbstverständlich erwartet, dass sie neben ihren regulären auch all die neuen Aufgaben erledigte, in denen sie doch so brilliert hatte. Auf eine Gehaltserhöhung habe sie sich noch eingelassen, auch wenn damit eine Vertragsänderung einhergegangen sei, bei der all die neuen Aufgaben in die Jobbeschreibung aufgenommen wurden. "Anfangs verstand ich das als Kompliment, es war ja wirklich super viel Arbeit gewesen, mich da einzulesen. Dann verstand ich aber, was es wirklich war: Eine Falle", sagt Lisa. 

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Bald habe sie also begonnen, doch nur noch das zu tun, was sie als ihre wahre Aufgabe ansah. Die Sozialarbeit. Wenn ihr Telefon fortan nach Dienstschluss klingelte, sei sie nicht mehr rangegangen, selbst wenn sie noch im Büro war. "Plötzlich hatte ich wieder ein Sozialleben. Zuerst habe ich mit meinem besten Freund einen Ausflug in so ein Wellness-Ding gemacht", sagt Lisa.

Schließlich habe sie komplett gekündigt und sei nach Griechenland gezogen.

Vor Kurzem nun habe sie einen neuen Geschäftszweig für sich entdeckt. Sie verkauft Fußbilder auf OnlyFans, nimmt Männer auf dubiosen Dating-Websites mit kostenpflichtigen Chats aus und überlegt, sich beim Sex mit ihrem Mitbewohner zu filmen. "Wir schlafen ja eh schon miteinander". Sie weiß: "Ich werde nicht ewig hier auf Rhodos leben, aber 40 Stunden werde ich auch nie wieder arbeiten". 

Nicole Clemens sagt: "Wir sollten uns die Frage stellen, welchen Wert unsere Arbeit hat. Denn Arbeit ist identitätsstiftend, wir wollen arbeiten und identifizieren uns mit dem, was wir tun", sagt sie. Eine innere Kündigung sei also immer auch Ausdruck eines Fehlers im System, das heißt meistens: bei den Führungskräften. 

Wenn diese Führungskräfte ihren Angestellten große Dinge versprechen, um sie zu motivieren – mehr Geld, Freizeit zum Beispiel – oder versuchen, sie zu manipulieren, haben sie damit meist nur kurzzeitig Erfolg. "Langfristig kann es zur Resignation und Quiet Quitting führen", sagt Clemens.

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Dabei sei es nicht so, als wären Führungskräfte immer die Schuldigen. "In Sandwichpositionen ist der Spielraum oft klein, Weiterbildung oder Bewusstsein in dieser Richtung fehlt, manche geben das Verhalten, mit dem sie selbst behandelt worden sind, nach unten weiter. Zudem gibt es schon viele, die es richtig machen", sagt Clemens.

3. Der Kreative

Peter, der eigentlich anders heißt, arbeitet in einer Kreativagentur und meldet sich ebenfalls über Instagram mit den Worten: "Quiet Quitting. Harte Zeit für alle Väter der Agenturensöhne." Womit er wohl seinen Chef meint. Und natürlich: Dem Klischee nach sind es doch die Agenturen, in denen die Leute so lange Koks ziehen, bis ihnen nicht mehr auffällt, dass sie schon wieder bis mitten in der Nacht an einer seelenlosen Kampagne gearbeitet haben. Das Klischee ist natürlich Quatsch. Zumindest wenn man Peter zuhört.

"Ich war noch nie ein großer Fan davon, mehr zu tun als das, was ich vergütet kriege", sagt er. Der geborene Quiet Quitter sozusagen. Peter erzählt aber auch, dass es seinen Kolleginnen da anders gehe. Die seien früher immer länger geblieben. Doch auch das ändere sich gerade. "Der Chef wundert sich schon, dass alle rechtzeitig nach Hause gehen", sagt Peter. 

In seiner Agentur sei es Corona gewesen, das den Leuten gezeigt habe, was man mit seiner Zeit noch alles anfangen kann außer zu arbeiten. Hinzu komme die Tatsache, dass sich die Strukturen in der Agentur gerade veränderten, weil sie expandieren wolle. So falle mehr Arbeit an, ohne dass mehr Menschen eingestellt würden. "Wir reden intern bereits offen darüber, dass wir überlegen, zu kündigen." 

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Und das trotz eines perfiden Tricks der Führung, den man bei vielen jungen, hippen Betrieben findet. "Bei uns ist schon der Satz gefallen, dass wir alle eine große Familie seien" – tatsächlich sei es natürlich anders. Da könnten die Chefs noch so oft davon reden, dass es um den Spaß an der Arbeit gehe und die Coolness der Projekte betonen. Sein Chef sei der Gründer der Agentur, ein älterer Mann. "Wir sind keine Kumpels", sagt Peter. "Die verdienen Geld mit meiner Arbeit."

Die regulären Arbeitsbedingungen reichen jungen Menschen offenbar nicht mehr. Auch nicht, wenn sie von Leuten verkörpert werden, die coole T-Shirts tragen und geduzt werden dürfen. "Es gibt sogenannte Hygienefaktoren in jedem Job. Die versteht man als Grundvoraussetzungen, die sich mit der Zeit auch ändern. Niemand freut sich heute mehr über einen Bürostuhl, der keine Rückenschmerzen verursacht. Das setzen Arbeitnehmerinnen voraus", sagt Nicole Clemens. 

Werden diese Bedürfnisse nicht erfüllt, werden Arbeitnehmerinnen also unzufrieden. Aber sie werden nicht zufrieden, wenn sie erfüllt werden. Dafür müssen Unternehmen darüber hinaus Angebote schaffen. Clemens sagt auch: "Eine Kaffeemaschine oder Kickertisch allein formt noch keine gute Unternehmenskultur." Viele moderne Unternehmen dürften das nicht gerne hören, basiert ihre Idee einer Unternehmenskultur doch auf derlei Gegenständen.

Womöglich ist es das, was Clemens meint, wenn sie von Kulturwandel spricht. Womöglich befinden wir uns in einer Übergangsphase, in der Unternehmen anerkennen müssen, dass das, was sie bislang als Großzügigkeit verstanden haben, nicht mehr wirkt. Sie müssen den Menschen, die für sie arbeiten, stattdessen weitere Angebote machen, damit die das gern tun – oder überhaupt bleiben. Ideen dafür gibt es einige: Viertagewoche bei vollem Lohnausgleich, die Möglichkeit, remote – also eben auch vom Strand aus – zu arbeiten oder auch einfach: saftige Lohnerhöhungen. Womöglich warten Quiet Quitter eben auf diese neuen Angebote – ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht. 

Sicher ist: Wir leben in einer Zeit, in der genügend Jobs da sind. 1,9 Millionen Stellen sind derzeit offen. Natürlich bezieht sich die Möglichkeit, quiet zu quitten, nur auf Bürojobs. Bauarbeiterinnen können es sich nicht erlauben den Bohrhammer fallen zu lassen, wenn die Uhr fünf schlägt.

Aber für die vielen Menschen in Büros gilt: Damit Menschen sich wieder mit ihren Jobs identifizieren, müssen Arbeitgeberinnen sich etwas einfallen lassen. Oder halt auch nicht – denn die meisten Menschen, die uns geschrieben haben, dass sie Quiet Quitter seien, scheinen sich damit ganz wohl zu fühlen.

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