​A Zoom portrait of Ava Rose projected against a skyline
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Warum diese Teenagerin ihren TikTok-Account mit Millionen Followern aufgab

Ava Rose hatte einen Traum: zwei Millionen Follower. Dann fand einer von ihnen sie.

Warnung: Dieser Artikel enthält drastische Schilderungen von Gewaltandrohungen.

Es war ein ganz normaler Nachmittag im Juli. Ava Rose Beaune hing bei einer Freundin ab, als sie kurzzeitig keinen Handyempfang hatte. Die 16-Jährige versuchte, ihrem Vater zu schreiben, aber die Nachricht ging nicht raus. Das war komisch, fand sie, aber kein Grund, sich Sorgen zu machen.

Dann fingen Leute an, ihr zu schreiben: Hast du gesehen, was auf deinem Twitter steht? Deinem Insta? Was ist los? Sie loggte sich bei ihren Accounts ein und sah ihren aktuellen Facebook-Status: eine Suizidanspielung. Ava hatte das nicht gepostet.

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"Meine ganze Familie dachte, ich würde mich umbringen", sagt Ava.

Dann rief plötzlich ein Fremder bei ihren Eltern an und verlangte, mit ihr zu sprechen. Er hatte die Kontrolle über ihre ganzen Kontakte, Textnachrichten, E-Mails und Social-Media-Accounts. Am nächsten Tag schickte er ihr eine Nachricht: Er wolle nur mit ihr reden, erinnert sich Ava an den Wortlaut. Er rief an, sie nahm ab. Ava sagte ihm, er könne mit ihrem Instagram-Account machen, was er wolle: "Lösch ihn. Lösch ihn und lass mich in Ruhe, wenn es das ist, was du willst." Nein, das würde sie nicht wollen, habe er entgegnet. "Doch", antwortete sie. Daraufhin habe er gesagt, er wolle sie treffen und Sex mit ihr haben. 

"Da habe ich aufgelegt. Das wurde mir alles etwas unheimlich", sagt Ava. Der Fremde hatte sich mithilfe von SIM-Swapping Zugang zu ihren Accounts verschafft. Dazu hatte er ihren Handyanbieter kontaktiert und davon überzeugt, dass er der Inhaber ihres Kontos ist, und eine entsprechende SIM-Karte bekommen. Damit übernahm er die Kontrolle über Avas digitales Leben.


Auch von VICE: Was kostet es, einen Vergewaltiger vor Gericht zu kriegen


Auf Screenshots, die VICE vorliegen, sieht man eine Story, die der Hacker über Avas Instagram-Account gepostet hat, in der er sich als ihr neuer Freund ausgibt, mit Vergewaltigung droht und Sachen schreibt wie: "Ich kann nicht warten, bis ich dich schwängere und heirate. Du lebst nur 5 Minuten von mir entfernt."

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Schließlich bekam Ava ihre Accounts zurück und klärte die Sache mit ihrem Handybetreiber. "OK, das ist damit erledigt", habe sie damals gedacht. 

Mit über zwei Millionen Followern auf TikTok war Ava in ihren Kreisen so etwas wie ein Celebrity. Sie sei es entsprechend gewohnt gewesen, sagt sie, dass Männer creepy oder sogar feindselig zu ihr waren. Sie fand den Fall schon extrem, aber immerhin war es vorbei. Dachte sie.

Aber es war nicht vorbei. Es war erst der Anfang einer Tortur, die sich über mehrere Wochen ziehen sollte. Die täglichen Belästigungen waren so heftig, dass sie ihr Leben komplett aus der Bahn warfen.

Ein Webcam-Porträt einer jungen Frau mit dunklen Haaren vor einer Mauer

Seit diesem Jahr hat TikTok wohl mehr als eine Milliarde aktiver User pro Monat. Laut Statista machen Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 19 Jahren 32,5 Prozent der Nutzenden aus. Die umstrittene chinesische Video-Sharing-App motiviert, selbst kreativ zu werden: Menschen jeden Alters bewegen ihre Lippen zu Filmszenen und Songs, tanzen angesagte Tänze in ihren Wohnzimmern nach und verwandeln mit Filtern 60-Sekunden-Videos in kleine Kunstwerke. Außerdem ist TikTok auch eine Art Fame-Lotterie. Ständig lauert die Chance, viral zu gehen. 

Normale Teenager wie Ava, die im Januar 2020 einen Vertrag bei einer Talentagentur unterschrieben hat, macht die Plattform zu hungrigen Konsumierenden und unaufhaltsamen Schöpferinnen zugleich. Sie hoffen, entdeckt zu werden oder zumindest einmal im "Für dich"-Feed von Millionen Usern zu landen.

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Trotz allem: "Die Art, wie TikTok aufgebaut ist, reduziert im Vergleich zu anderen Apps die Wahrscheinlichkeit von Cyberbullying", sagt Sameer Hinduja, der Co-Direktor des Cyberbullying Research Center. Features wie Direktnachrichten, die nur Nachrichten zwischen Menschen erlauben, die sich gegenseitig folgen, und die Einschränkung, in Kommentaren keine Bilder oder Videos zu posten, unterschieden TikTok von anderen Apps. "Cyberbullying kann sich allerdings in verletzenden TikTok-Videos, die sich an andere richten, manifestieren, sowie in Kommentaren und Livestream-Chats – aber diese Möglichkeiten gibt es auch bei jeder anderen Social-Media-App", sagt Hinduja.

Das verstörte sie, aber sie sah es auch als etwas, das jungen Frauen im Internet eben passiert.

Laut des TikTok-Transparenzberichts 2020 waren Bullying und Belästigung der Grund für 2,5 Prozent aller von der Plattform entfernten Videos. Aber es gibt auch ein Feature, das TikTok anfällig für besonders persönliche Anfeindung macht: Das "Duett" ermöglicht es anderen Usern, dein Video mit einem eigenen Video zu reposten. Meistens wird das Feature harmlos eingesetzt für kleine Sketche oder zum Mitsingen, aber manche Userinnen und User berichten, dass die Funktion auch verstörenden Missbrauch ermöglicht. 2018 berichtete BuzzFeed News, dass Menschen, oftmals Kinder, Duette mit einem Video von sich machen, in dem sie einen Suizid imitieren. Sie ziehen sich Plastiktüten über den Kopf oder legen sich Gürtel um den Hals, um ihre Abscheu für den Original-Post zu zeigen. Wenn ein beliebter Account ein Duett mit deinem Clip macht, kann er seine Follower auf dich aufmerksam machen. Das Resultat ist nicht immer positiv.

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TikTok erlaubt es Usern, sich Duetts zu entziehen. Damit schmälern sie allerdings auch erheblich ihre Chancen, viral zu gehen oder neue Follower zu gewinnen. 

Viele Nutzerinnen und Nutzer, mit denen VICE gesprochen hat, sagen, dass sie sich generell bei TikTok gut aufgehoben und sicher fühlten. Auf Probleme werde schnell reagiert. Aber die Belästigungen beschränken sich nicht nur auf die App. Es gibt Reddit-Communities, in denen jedes Verrutschen von Kleidung bei Mädchen und jungen Frauen in TikTok-Clips dokumentiert wird.

2020 konnte man über einen Discord-Server TikTok-Userinnen in Deepfakes verwandeln lassen – also von einer KI erzeugte Pornos. Eine der meistgefragten Nutzerinnen war erst 17. Es kommt auch immer wieder vor, dass TikTok-Videos auf Pornoseiten landen. Es scheint, als würden Menschen auf diesen Plattformen zusammenarbeiten, um für viele junge Frauen ein Umfeld der virtuellen Belästigung zu erschaffen.

Foto von einer jungen Frau draußen im Schnee vor einem Haus

Vor TikTok habe Ava kein großes Interesse an Social Media gehabt, sagt sie in einem Zoom-Call. Sie lebt bei ihren Eltern. "Ich habe mir immer geschworen, dass ich kein TikTok machen werde, weil meine ganzen Freunde das hatten und ich fand das so peinlich", sagt sie. "Aber sie haben mich überredet, also habe ich es getan." 

Mit 15 machte sie ihren ersten Account und postete das Übliche: Tanz- und Make-up-Videos. Innerhalb weniger Tage wuchs ihr Publikum von den paar Freunden, die sie überredet hatten, auf 150.000 Follower. Die plötzliche Aufmerksamkeit erschreckte sie und sie deaktivierte den Account.

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Später reaktivierte sie das Konto – versehentlich, wie sie sagt. Sie entschied sich, der App noch eine Chance zu geben.

Dann flog ein Stein durch das Autofenster ihrer Mutter. Daran war eine Nachricht: Er werde sie nehmen und schwängern.

Als Ava anfing, neue Videos zu posten, fingen auch die hasserfüllten Kommentare an. "Ich dachte, das wäre das Schlimmste, was mir da passieren kann", sagt sie. "Es waren Sachen wie Bodyshaming und hasserfülltes Zeug. Vor allem das Bodyshaming hat mich nie gestört und die normalen Hasskommentare waren mir recht egal." Einige User machten Accounts, um Vergewaltigungsdrohungen über sie zu posten. Das verstörte sie, aber sie sah es auch als etwas, das jungen Frauen im Internet eben passiert. 

Das war so, bis einer ihrer Follower anfing, sie und ihre beste Freundin, Gabriel, zu stalken. Dieser Follower schrieb Gabriel an. Er kannte ihre Adresse und verlangte von ihr zu erfahren, wen sie datet. "Wir haben beide nur darüber gelacht. Der Typ war offensichtlich nur ein durchgeknallter Fan", erinnert sie Ava.

Er habe etwas für Ava geplant, schrieb er. Sie werde das in den nächsten drei Monaten sehen. Er plane etwas sehr Großes. Das alles schrieb er der Freundin. Drei Monate später, an Gabriels 18. Geburtstag, hackte er ihr Handy. Danach schickte der Mann täglich Nachrichten an Ava.

"Es waren Sachen wie, dass er mich vergewaltigen will, wie er mich erwischen wird und wie ich dem einfach ein Ende bereiten kann. Er schrieb sogar meinem Vater Zeug wie: 'Sie darf nicht mit ihren Freundinnen abhängen, wenn sie ausgeht, werde ich es wissen.' Er würde uns beobachten und so." Jedes Mal, wenn Ava dachte, es könnte nicht schlimmer werden, wurde sie eines Besseren belehrt.

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Dann flog ein Stein durch das Autofenster ihrer Mutter. Daran war eine Nachricht: Er werde sie nehmen und schwängern.

"An dem Punkt dachte ich mir: 'OK, das wird jetzt ernst.'"

 Maxwell Mitcheson ist Avas Agent und Leiter von TalentX Entertainment. Er hat mehrfach mitbekommen, wie sich die Online-Belästigungen auf junge Menschen auswirken. "Eine Menge Creator wachsen vor Millionen Menschen auf – und dazu gehört auch, Fehler zu machen, zu lernen und daran zu wachsen", sagt er. "Die hasserfüllte Rhetorik belastet sie definitiv. Manche schauen gar nicht mehr in ihre Kommentarbereiche, um positiv zu bleiben."

Sie belaste außerdem, "dafür angegriffen zu werden, man selbst zu sein, und die plötzliche Aufhebung der Anonymität", sagt Mitcheson.

Avas Erfahrung sei extrem gewesen, sagt er, aber auch Macherinnen und Macher seiner Agentur hätten Hacking- und Stalking-Vorfälle erlebt. Bei manchen seien Fans plötzlich vor ihren Häusern aufgetaucht. "Wir mussten bereits in der Vergangenheit Sicherheitsexpertinnen und Privatermittler einschalten, aber Avas Situation hätte in einer Tragödie enden können, wenn die Polizei von Toronto sich nicht eingeschaltet hätte."

Nach der eingeworfenen Autoscheibe habe die Polizei ihr gesagt, dass sie nicht mehr zu Hause bleiben kann, sagt Ava. Sie übernachtete bei einer Freundin, aber auch dort erreichte er sie. "Er hat einfach weiter Sachen gesagt wie: 'Sieh, was du getan hast. Das ist alles deine Schuld.'", sagt sie. Er schickte ihr eine Privatnachricht, die sich nach dem Öffnen gelöscht hätte, also nahm sie sie mit dem Handy einer Freundin auf. Ava gibt den Inhalt folgendermaßen wieder:

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"Du musst akzeptieren, dass ich dich gerade erpresse. Du musst akzeptieren, dass das hier nicht enden wird – niemand wird mich erwischen. Die Polizei hat mich noch nie gefasst, wenn ich das hier schon mal gemacht habe. Akzeptiere es, gib mir, was ich will. Ich will dich in dem Parkt direkt hinter deinem Haus treffen: ich will das und das und das und das mit dir machen.

Wenn du das nicht machst, werde ich deine Eltern vor dir in eurem Wohnzimmer töten und dich mitnehmen."

"An dem Punkt dachte ich mir: 'OK, das wird jetzt ernst'", sagt Ava.

Sie ging mit der Nachricht zur Polizei, die daraufhin ihr und ihrer Familie empfahl, vorübergehend woanders zu wohnen, am besten mehrere Stunden entfernt. Das tat sie dann auch für zwei Wochen. Trotzdem schrieb er ihr weiter. "Wirst du am Samstag da sein? Du machst die schlechteste Entscheidung überhaupt. Du antwortest mir besser", erinnert sich Ava.

Schließlich sei er gefasst worden. Die Polizei sagte Ava, dass er den VPN, mit dem er seine Identität verschlüsselte, eine halbe Sekunde lang ausgelassen hatte. Das habe den Ermittlern gereicht, um den Ort festzustellen, von dem er ihr die Nachrichten schickte. 

Ava sagt, dass die Polizei bei der Festnahme sechs verschiedene Handys und einen Haufen SIM-Karten bei ihm fanden – und zahlreiche Bilder und Videos von Ava, die er von ihren Accounts runtergeladen hatte. Laut dem Ermittler, mit dem Ava und ihre Familie zusammengearbeitet haben, wird der Fall aktuell vor Gericht verhandelt.

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Ein Webcam-Screenshot von einer jungen Frau mit dunkelblonden Haaren vor einer Skyline

Heute, im Zoom-Call scheint es Ava OK zu gehen. Sie kann sich an die Geschichte detailliert erinnern, ohne dabei mit der Wimper zu zucken. Dabei ist sie sich der Schwere der ganzen Sachen bewusst – und wie sehr es ihr Leben auf den Kopf gestellt hat. Ihre Familie entschied sich nach der Sache, wegzuziehen. "Quasi Mitten ins Nirgendwo", sagt Ava. 

Aber sie hat sich verändert. Sie hat aufgehört, TikTok zu benutzen. Stattdessen konzentriert sie sich mehr auf ihre Freundschaften und ihre Familie. Hin und wieder postet sie etwas bei Instagram. Sie wäre zwar gerne aktiver auf Social Media, aber sie macht sich da auch keinen Druck. Sie habe eine Angststörung, die sie selbst als "sehr schlimm" beschreibt.

"Es hat mich wirklich beeinflusst. Einfach nicht mehr im eigenen Haus leben zu können und sich dort nicht mehr sicher zu fühlen … Das ist wirklich hart. Ich war erst 16, als das alles passiert ist", sagt Ava. "Es ist hart, zu wissen, dass meine Eltern immer gestresst waren und nicht rausgehen konnten, ohne Angst zu haben." 

Bevor sie komplett mit TikTok aufhörte, versuchte sie, in Videos ihre psychische Gesundheit und ihre Erfahrungen zu thematisieren. Das kam nicht gut an.

"Vor allem solche Kommentare wie 'Oh, ein TikTok-Girl, das alle Simps lieben' oder 'Worüber beschwerst du dich? Alle Jungs lieben dich' fand ich schlimm", sagt Ava. "Ich habe versucht, eine Therapie zu machen und darüber hinwegzukommen, aber wenn dir so etwas passiert, bist du danach nicht mehr der gleiche Mensch. Du hast einen anderen Blick auf Social Media. Du hast Angst davor, dass das wieder passiert. Bis dir so etwas geschieht, glaubst du gar nicht, dass es solche Menschen gibt."

Auf die Frage, was sie sich nach allem wünscht, antwortet Ava: "Ich wünschte mir einfach, dass Menschen verstehen würden, dass du nicht zwangsläufig dieses perfekte Leben führst, nur weil du so viele Follower hast", sagt sie. "Nur weil Jungs in dich verknallt sind, ist dein Leben nicht erfüllt. Und wenn dir so was passiert, solltest du offen darüber reden können."

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