Menschen

Wie die Menschen in Beirut die verheerende Explosion erlebten

Durch die Katastrophe verloren sie Familienangehörige, Freunde, ihr Zuhause, ihre Stadt. Und sie wissen nicht, wie es weitergehen soll.
Ein weißes Auto, bedeckt von Schutt und Staub, das während der massiven Explosion im Hafen von Beirut am 4. August zerstört wurde
Chris' Auto | Foto mit freundlicher Genehmigung des Interviewten

Gestern wachte ich auf und hörte meine Mutter weinen. Eigentlich weint sie schon seit Dienstag, als es in der libanesischen Hauptstadt Beirut zu einer Explosion von apokalyptischem Ausmaß kam, bei der die halbe Stadt zerstört wurde und unzählige Menschen verletzt oder direkt getötet wurden. Meine Mutter weinte um diese Menschen, aber sie weinte auch um die nun kaputten Weizensilos im Hafen Beiruts. Darin war Essen für das gesamte Land gelagert. Jetzt gibt es sie nicht mehr – und das in einer Zeit, in der die Bevölkerung aufgrund des aktuellen wirtschaftlichen Kollapses im Libanon sowieso schon seit Monaten hungert. Am Mittwoch behauptete der libanesische Wirtschaftsminister Raoul Nehme, dass die Weizenvorräte des Landes für nicht mal mehr einen Monat reichten. Aber wir glauben hier niemandem mehr.

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Alles, was es in Beirut jetzt noch gibt, sind Tote, Verletzte, überfüllte Krankenhäuser, zerstörte Häuser und Lebensmittelknappheit. Alles, vor dem wir uns fürchteten, ist innerhalb weniger Sekundenbruchteile passiert. Ich habe den Krieg im Juli 2006 miterlebt, als die Hisbollah israelische Soldaten tötete und Israel den Libanon daraufhin bombardierte und im Süden des Landes einmarschierte. Ich habe die Revolution miterlebt, als Hunderttausende Libanesen und Libanesinnen eine fairere Regierung ohne Korruption forderten – ein Aufstand, auf den man mit Gewalt und Tränengas antwortete. Aber die jetzige Explosion ist mit nichts zu vergleichen. Die Bilder vom Feuer und der Pilzwolke, die ganze Häuserblocks einnimmt, und von blutenden Menschen, die mit Glasscherben übersät sind, all das bricht mir das Herz.


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Nach der Explosion hatte ich starke Kopfschmerzen, zudem tat mein Nacken extrem weh. Wir gingen ins Krankenhaus, wo aber die Hölle los war. Ich wusste, dass andere Menschen dringender behandelt werden mussten, also bin ich zurück nach Hause und versuchte, das Erlebte zu verarbeiten. Schließlich verkündeten die Behörden, dass gefährliche Chemikalien, die ohne ausreichende Sicherheitsmaßnahmen im Hafen gelagert waren, die Explosion verursacht haben sollen. Meine Trauer verwandelte sich in Wut. Warum lagert man so etwas in einem Hafen voller arbeitender Menschen? Warum nicht irgendwo weit außerhalb der Stadt? Und wer ist schuld an dem Ganzen?

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"Wir können es uns ganz einfach nicht leisten, alles zu ersetzen oder zu reparieren." – Juliana

Ich bin nicht die Einzige, die glaubt, dass wir hier im Libanon den absoluten Tiefpunkt erreicht haben. Der Verlust ist zu groß, das kann keine Kompensation dieser Welt wett machen. Viele meiner Freunde und Freundinnen haben ihr Zuhause, ihre Autos und ihre Arbeit verloren. Manche von ihnen wurden schwer verletzt. Meine Freundin Juliana lebt im Stadtteil Achrafieh, der sich in der Nähe des Explosionszentrums befindet. Die Gegend mit ihren verwinkelten Gassen und wunderschönen Häuserfassaden gehört zu den ältesten von Beirut. Dort wird es nie wieder so sein wie vor der Explosion. "Mein Haus kann man komplett vergessen", sagt Juliana. "Die Fenster und Türen sind alle kaputt."

Im Juli 2020 kam es im Libanon offiziell zur Hyperinflation, die monatliche Inflationsrate lag bei 52,6 Prozent. Das bedeutet, dass die Preise von normalen Gütern plötzlich unbezahlbar werden, weil die libanesische Währung gemessen am Dollar unglaublich schnell an Wert verliert. Im Nahen Osten und in Nordafrika ist der Libanon das erste Land, dass diesen traurigen Meilenstein erreicht. "Wir können es uns ganz einfach nicht leisten, alles zu ersetzen oder zu reparieren", sagt Juliana.

"Das war die schrecklichste Erfahrung, die ich je gemacht habe." – Maya

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Die 30-jährige Maya aus dem Viertel Al Hamra im Westen der Stadt war zu Hause mit ihrer Mutter, als sie die Explosion hörte. Die Fenster zersprangen und das umherfliegende Glas verletzten die beiden Frauen. "Wir konnten niemanden finden, der uns hilft", sagt sie. Sie riefen das Rote Kreuz an, aber vergeblich. Ein paar Stunden später versuchte ihr Mann, sie durch die Staus in der Stadt zu drei verschiedenen Krankenhäusern zu fahren. Sie waren alle belegt und nahmen niemanden mehr auf. "Wir sind zurück zu unserem zerstörten Zuhause gefahren", sagt Maya. "Wir bluteten noch immer, unsere Körper waren voll mit Glas." Als sie hörte, dass Krankenhäuser im Umland noch Verletzte aufnehmen, fuhren sie in den Süden nach Sidon, wo sie nach langer Wartezeit behandelt wurden. "Das war die schrecklichste Erfahrung, die ich je gemacht habe – ein Trauma, das ich nie wieder vergessen werde", sagt Maya.

Kevin, 31, lebt im Stadtteil Geitawi, nicht weit entfernt vom Hafen. Er war zu Hause, als die Explosion passierte. Alles um ihn herum wurde zerstört. Zum Glück wurde er nur von etwas Glas an den Beinen verletzt. "Wenn ich an die Verluste denke und das Geld, das ich brauchen werde, um die Reparaturen zu bezahlen, würde ich am liebsten weinen. Aber ich kann es einfach nicht", sagt er.

Chris, 33, stammt aus dem Stadtteil Mar Mikhael. Die Gegend ist berühmt für ihr Nachtleben und befindet sich direkt am Hafen, neben dem Ort der Explosion. Am Dienstag half er seiner Freundin beim Umzug, auch sie lebt in dem Stadtteil. "Wir rauchten auf dem Balkon, als wir aus der Ferne Explosionsgeräusche hörten", sagt er. "Wir sind dann reingegangen, weil wir nicht ganz verstanden, was los war." Zuerst dachten sie, der Krieg mit Israel habe wieder begonnen. Die Spannungen zwischen den beiden Ländern dauern an und immer wieder kommt es zu Vorfällen an der Grenze – der letzte erst am 27. Juli.

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"Es war ein Gefühl unfassbarer Angst. Ich habe so etwas noch nie erlebt." – Chris

"Wir dachten, wir müssen uns vor einem Bombardement in Sicherheit bringen. Der Krach wurde lauter und lauter, bis uns eine riesige Explosion zu Boden riss", sagt Chris. Das Haus wurde komplett zerstört. Wie durch ein Wunder schafften es beide aus den Trümmern zu entkommen, begleitet von den Schreien der Nachbarn. Das Bild draußen war apokalyptisch. "Auf der Straße waren Verwundete, überall Blut, eingestürzte Häuser, zerstörte Autos", sagt er. "Es war ein Gefühl unfassbarer Angst. Ich habe so etwas noch nie erlebt", sagt Chris.

Der 31-jährige Saeb war vor zwei Wochen erst aus Dubai, wo er arbeitet, nach Beirut gekommen. Er wollte das islamische Opferfest mit seiner Familie und seinen Freunden feiern. Als die Explosion passierte, warteten seine Freunde gerade vor dem Ferienhaus, das sie zusammen gemietet hatten, auf ihn, der sich drinnen noch fertig machte. "Plötzlich war alles um mich herum zerstört", sagt Saeb. "Ich weiß nicht, wie ich es da raus geschafft habe. Ich habe mir riesige Sorgen um meine Freunde und Verwandten gemacht. Zum Glück ist ihnen nichts passiert." Nachdem sie den ersten Schock überwunden hatten, begannen sie, den Verwundeten zu helfen.

Die Explosion zerstörte viel mehr als nur die Gebäude der libanesischen Hauptstadt. Sie zerstörte Beiruts Hafen, den Hauptknoten für Im- und Exporte des Landes. Die Explosion wirft die Frage auf, wie Nahrungsmittel, notwendige Güter und Baumaterialien in Zukunft in das Land kommen werden. Bereits jetzt mangelt es an allem. Die Explosion erschütterte den letzten Rest Vertrauen, den wir noch in die Regierung hatten, uns aus dieser Krise zu führen. Beirut musste schon so viel durchmachen – Krieg und Zerstörung, Armut und Revolutionen, Teilungen und Solidarität. Es ist einfach nur hart, die Energie aufzubringen, das alles noch einmal zu tun.

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