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Schule

Ein 20-Jähriger landete auf einer Schule für geistig Behinderte – und kam dort nicht wieder weg

Jetzt verklagt er das Land NRW auf 38.000 Euro Schmerzensgeld und Schadensersatz.

Foto: FlickrLaura Lewis | CC BY 2.0

Die Schulzeit ist eh schlimm genug: Angstträume vor der Mathestunde, Mobbing durch Mitschüler, Sitzenbleiben und ein Alltag zwischen Physikklausur und Demütigung bei Bundesjugendspielen. Doch die Zeit endet spätestens mit dem Abi, mit Zeugnis in der Hand und ohne einen Blick zurück. Nenad Mihailovic kann seine Schulzeit noch lange nicht hinter sich lassen. Der 20-Jährige klagt gegen das Land Nordrhein-Westfalen, weil Sonderpädagogen ihn fälschlicherweise als geistig behindert eingestuft hatten und er darum elf Jahre lang eine Sonderschule besuchen musste.

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Nenad Mihailovic war sieben Jahre alt, als er in Bayern zur Schuluntersuchung gehen musste. Er hatte noch nie eine Schule besucht und sprach wie seine Eltern nur Romanes, die Sprache der Roma. Die Familie war aus Serbien nach Deutschland geflohen, nun lebte sie in Coburg. Eigentlich ist es nicht verwunderlich, dass der Einschulungstest nicht gut verlief, denn Nenad verstand nicht, was man von ihm wollte. Im Ergebnis wurde ihm ein IQ von 59 attestiert – alles unter 70 gilt nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) als geistig behindert.

Nach einem Test, der in der Regel vom Gesundheitsamt ausgeführt wird, schickten die Gutachter Nenad auf eine Sonderschule, abgestempelt als minder intelligent. Das blieb auch so, als die Familie ein paar Jahre später nach Köln zog. Nenad kam auch in NRW auf eine Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung. "Da die ja schwarz auf weiß etwas haben, was besagt, ich sei geistig behindert, dachten die, ich wäre ernsthaft geistig behindert", so Nenad in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Er sagt, er sei bald so unglücklich und frustriert gewesen, dass er regelmäßig den Unterricht schwänzte – das sei ihm jedoch als Desinteresse ausgelegt worden. Dabei hatte er selbst bereits als 13-Jähriger um eine Versetzung auf eine Regelschule gebeten, er hatte sogar mit einem Amoklauf gedroht, wie aus einem Protokoll eines "Erziehungsgesprächs" hervorgeht, das der Verein "mittendrin" zitiert, ein ehrenamtlicher Elternverein, der sich für eine inklusive Gesellschaft einsetzt, in der Menschen mit oder ohne Behinderung im Alltag zusammenleben. Und in den Schulakten steht, dass Nenad in den Überprüfungen immer positiv auffiel. Er lernte schnell und redete flüssig, aber die zuständigen Sonderpädagogen sprachen sich weiterhin für die Sonderschule aus.

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Mit Hilfe des Vereins konnte Nenad die Schule wechseln und seinen Hauptschulabschluss machen. "Nur weil er nicht regelmäßig zur Schule kam, heißt das nicht, dass er auf einer normalen Schule nicht klarkommen würde", so Eva Thoms von "mittendrin" zu VICE.  Die Lehrer aber meinten, er solle erst mal regelmäßig zur Schule kommen, bevor man über einen Wechsel nachdenken könne. Die sind aber überhaupt nicht in der Lage, das zu entscheiden."

Seit der WDR einen Bericht über Nenad sendete, wenden sich regelmäßig Eltern an "mittendrin" und bitten um Hilfe. Laut Duarte handele es sich dabei fast immer um unterforderte Schüler, die verhaltensauffällig werden, indem sie schwänzen oder aggressiv werden. "Die Gesellschaft drückt ihnen dann einen zweiten Stempel auf die Stirn", so Duarte. Nenad blieb hängen im System und klebte bis zu seinem 18. Lebensjahr in der Förderschule fest. Dort hatte er nicht einmal die Möglichkeit, einen Abschluss zu machen. Auf seiner GE-Schule (GE = Geistige Entwicklung) können Schüler anders als auf Schulen für Lernbehinderte keinen ordentlichen Abschluss erwerben. "Der Wechsel zu einer Regelschule ist so schwer, weil die Sonderschulen die Kinder nicht gehen lassen", sagt Duarte. "Die Schulen müssen den Wechselantrag stellen. Wenn sie sich aber weigern, dann besteht für die Kinder keine Möglichkeit, von der Sonderschule wegzukommen. Und diese halten die Kinder fest, denn jede Schule braucht eine Mindestanzahl Schüler, um bestehen zu dürfen." Es stimmt, dass jede Schule eine Anzahl an Schülern aufweisen muss. Im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung sind das 50 Schüler, so die Verordnung der Landesregierung NRW. Dennoch gibt es seit dem Schuljahr 2014/15 einen Rechtsanspruch auf einen Platz an einer allgemeinen Schule. "Zum Schuljahr 2016/17 wechselten insgesamt 2.326 Schüler von einer Förderschule auf eine Regelschule", so ein Sprecher des Schulministeriums NRW zu VICE. "Die Zahlen belegen also, dass es möglich ist."

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Mittlerweile stand Nenad kurz vor seinem 18. Geburtstag. Für einen Abschluss auf dem ersten Bildungsweg wurde es knapp, da die Schulpflicht mit 18 Jahren endet. Er musste also dringend die Schule wechseln. Sein Leben änderte sich, als der Kölner Menschenrechtsaktivist Kurt Holl die Sonderschule besuchte. Holl setzt sich seit Jahrzehnten für ein Bleiberecht und Lebensperspektiven zugewanderter Roma eins. Als er auf dem Schulhof den 17-jährigen Nenad traf, sei ihm sofort klar gewesen, dass der Junge völlig normal begabt war. Doch immer noch stellte sich die Schulleitung einer Versetzung in den Weg, so ein Blogeintrag über Nenads Geschichte. Holl überzeugte die Mutter des Jugendlichen, ihn ohne weitere Verhandlungen an einem Berufskolleg anzumelden. Dort schaffte er den Hauptschulabschluss als Jahrgangsbester, obwohl er in das laufende Schuljahr eingestiegen war.

Die Anzahl von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf steigt stetig, so die Statistik der Kultusministerkonferenz. Rolf Werning vom Institut für Sonderpädagogik an der Universität Hannover glaubt, Grund sei ein "Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma". Das bedeutet, Kindern, die sowieso schon auf eine Regelschule gehen, wird aufgrund fehlender Leistungen nachträglich ein Förderstatus zugewiesen. Für die Schulen ist das gut, denn sie bekommen für jedes Inklusionskind extra Unterstützung, finanziell und pädagogisch. Ein Kind mit Förderbedarf wird im Unterricht doppelt gezählt und die Schule bekommt zusätzliche Stunden zugewiesen, die ein Sonderpädagoge übernimmt.

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Mittlerweile werden lernbehinderte Kinder eher an normalen Grundschulen eingegliedert und jedes dritte Kind mit Förderbedarf geht inzwischen auf eine Regelschule. Selbst Kinder mit Downsyndrom können es aufs Gymnasium schaffen, wie der Fall von Larissa Krol aus Hannover zeigt. Kinder mit Behinderung, die eine normale Schule besuchen, schneiden im Lesen, Zuhören und Rechnen besser ab als vergleichbare Schüler auf Sonderschulen, so eine Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). "Sonderschulen grenzen die Kinder aus", sagt auch Duarte vom Verein "mittendrin". "Sie müssen oft extra eine Stunde dorthin fahren. Sie haben keinen Kontakt zu Nachbarskindern …" Sie hat selbst einen Sohn mit Downsyndrom, der eine normale Schule besucht.

Nenad bereitet sich mittlerweile auf seinen Realabschluss vor und "mittendrin" unterstützt ihn auch bei seiner Klage. Laut Landgericht Köln fordert der 20-Jährige 20.000 Euro Schmerzensgeld, weil er eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten habe, zusätzlich klagt er auf 18.000 Euro Schadensersatz aufgrund entgangener Bildungschancen. "Wer will mir denn einen Ausbildungsplatz geben, wenn in meinem Lebenslauf steht, dass ich elf Jahre lang auf eine Förderschule gegangen bin", sagte er vor Prozessbeginn. Ohne sein Stigma als geistig Behinderter hätte er bereits mit 16 Jahren eine Ausbildung beginnen und Geld verdienen können, so die Argumentation.

Vor dem Gerichtsprozess machte er einen neuen Intelligenztest. Das Ergebnis: 94 Punkte und damit nur knapp unter dem Durchschnitt. 68 Prozent der Bevölkerung liegen mit ihrem IQ zwischen 85 und 115. Es kommt übrigens auch vor, dass sich der Intelligenzquotient im Laufe der Pubertät stark ändert und bis zu 20 Punkte nach oben oder unten variiert, fand die britische Neurowissenschaftlerin Cathy Price in einer Studie heraus.

Ob Nenad Recht bekommt, ist unsicher. Am vergangenen Dienstag, dem ersten Verhandlungstag, räumte der vorsitzende Richter zwar ein, es sei "höchstwahrscheinlich ein Fehler gewesen, den Kläger auf eine Schule für geistige Behinderung zu schicken". Gleichzeitig sei es jedoch schwierig nachzuweisen, ob der weitere Lebensweg des Schülers tatsächlich anders ausgesehen hätte, wenn er eine andere Schule besucht hätte. Jetzt hat Nenad noch einmal drei Wochen Zeit, weiter Dokumente einzureichen, die seine Klage unterstützen.

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