Aus der Music Issue 2016
Legenden sind auch nur Menschen, selbst wenn wir uns oft schlecht vorstellen können, wie sie mit schlechtem Atem aufwachen, ihre Handys fallen lassen oder beim Einkaufen schusselig sind. Es ist nicht so, dass wir sie nicht als Menschen sehen. Wir stellen uns nur nicht vor, dass auch sie unter den täglichen Problemen des Menschseins leiden. In unserer Vorstellung sind sie so, wie man sich vielleicht früher einmal eine echte Lady vorgestellt hat: Sie flucht nicht und muss auch nie kacken.
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Kim Gordon ist Gitarristin, Sängerin und Mitgründerin von Sonic Youth, einer der ikonischsten und einflussreichsten Noise-Rock-Bands der Musikgeschichte. Und als ich sie anrufe, hat sie ein sehr banales Problem: Ihr Hoteltelefon geht nicht.
Es klingelt, und das Geräusch lenkt mich von den aufgeregten Salti ab, die mein Magen vollführt. Telefoninterviews sind der Beweis dafür, dass Gott Journalisten hasst. Es ist wie ein Blind Date auf Distanz. Ein Klicken. Ich atme ein, lächle und bereite mich auf Small Talk mit einer der coolsten Frauen der Welt vor. Dann ist die Verbindung weg. Die Publizistin ruft zurück. “Ähm, ja. Ihr Telefon ist kaputtgegangen”, sagt sie. “Das Hotel schickt jemanden. Noch 20 Minuten?”
Unser Interview muss telefonisch stattfinden, weil die 63-jährige Künstlerin in Australien ist, für Konzerte und Vorträge zum Thema “Rock, Rebellion und Resilienz”. Der Titel ist eine ganz gute Zusammenfassung ihrer Karriere. Zwei Jahre, nachdem sie 1981 mit Thurston Moore Sonic Youth gründete, brachte die Band ihr erstes Studioalbum, Confusion Is Sex, heraus. Bis zu ihrer Trennung 2011 veröffentlichte die Band 16 Alben. Sie werden oft als Vorreiter des Alt-Rock gesehen (und Gordon als “Godmother of Grunge” bezeichnet), doch die Band experimentierte schon immer lieber mit unkonventionellen Stimmungen und frisierten Instrumenten, statt eine Mainstream-Karriere voranzutreiben.
Parallel dazu bahnte sich Gordon auch in anderen Bereichen ihren Weg. Sie schrieb für Artforum, kuratierte Ausstellungen und stellte ihre eigene Kunst aus. Holes gefeiertes Debütalbum Pretty on the Inside produzierte sie auf Bitte Courtney Loves. Sie arbeitete für ein Modelabel und hatte Gastauftritte in Girls und einem Gus-Van-Sant-Film.
Sie ist eine feministische Ikone und wird für ihren positiven Einfluss gelobt—und das, obwohl sie mir sagt: “Manchmal [glaube ich, Musik] ist einfach nur Unterhaltung, weißt du? Sie hat eigentlich keinen Einfluss auf die Welt.” Die Vorurteile gegen Frauen in Rockbands schmetterte sie zur Seite, und als sie letztes Jahr ihre Memoiren herausbrachte, wählte sie den Titel in Anlehnung an die unsäglichen Fragen, die sie so häufig hören musste: Girl in a Band.
“Ich fühle mich einfach am Selbstbewusstesten, wenn ich arbeite. Oder wenn ich in einer Gruppe auftrete.”
Seit der Auflösung von Sonic Youth und dem Ende ihrer jahrzehntelangen Ehe mit Moore macht Gordon unter dem Namen Body/Head Musik mit Bill Nace. Vor Kurzem gab es noch eine Premiere: Sie veröffentlichte eine Single, “Murdered Out”, schlicht unter dem Namen Kim Gordon.
So einschüchternd ihr Lebenslauf auch ist, Gordon will nicht als übermenschlich gelten. Sie hat Körperfunktionen. Sie mag “Work” von Rihanna. Sie steht nicht gern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und weist die Vorstellung, sie sei eine Legende, von sich.
“Ich will nicht denken, dass ich einflussreich oder eine Ikone bin oder bla, bla, bla”, sagt sie. Die Worte schießen heraus, geraten kurz ins Stocken und strömen dann weiter. “Ich fühle mich einfach am Selbstbewusstesten, wenn ich arbeite. Oder wenn ich in einer Gruppe auftrete.” Sie lacht. “Ich fühle eine Verbindung zu mir selbst, aber was das ist, kann ich dir auch nicht sagen. Ich kann dir höchstens sagen, was meine Astrologin über mich sagt!”
Gordon wurde in Rochester, New York, geboren. Als sie fünf war, nahm ihr Vater eine Stelle an der University of California, Los Angeles, an. Die Akademikerfamilie wohnte in einer normalen Mittelschichtgegend, und Gordon tagträumte von den glamourösen Leben von Musikern wie Buffalo Springfield und Neil Young.
Ihr Vater war Soziologe und glänzte mit geistiger Abwesenheit—einst badete er sie mit Socken—und ihre Mutter, die sowohl ein Nähgeschäft als auch den Haushalt schmiss, war so pragmatisch und unsentimental, wie es Überlebende der Großen Depression oft waren. Ihr Bruder ärgerte sie gnadenlos. Diese Einflüsse brachten Gordon dazu, ihre innere Rebellin zu unterdrücken. Sie hörte als Teenagerin Jazz und Joni Mitchell, kiffte, malte und machte kaum Schwierigkeiten.
“Manchmal denke ich, wir wissen schon irgendwie, wer wir mal sein werden, und können es uns ausmalen, wenn wir gut aufpassen”, schreibt Gordon in ihrem Buch. Für sie war der Prozess einfach. Sie findet das Klischee zwar grauenhaft, doch sie sagt, sie habe schon als Kind gewusst, dass sie einmal Künstlerin werden wollte.
Mit knapp 17 schloss sie die Highschool ab und ging erst aufs Santa Monica College, dann auf die York University in Toronto. Sie startete mit Freunden eine Band und merkte, dass es ihr auf der Bühne gefiel. Zurück in L.A. besuchte sie das Otis Art Institute. Dann zog sie nach New York, lernte Moore kennen, gründete Sonic Youth und wurde zur Legende.
“Irgendwie habe ich das Gefühl, das alles, was ich bisher im Leben getan habe, mich hierhergeführt hat. Es fühlt sich einfach richtig an.”
Doch in letzter Zeit ist Gordon zu ihren Wurzeln zurückgekehrt. “Ich glaube, ich habe schon immer etwas von L.A. und der L.A.-Ästhetik an mir”, sagt sie mir. “Ich liebe es, in Los Angeles herumzufahren und mir die unterschiedlichen Häuser anzusehen—die verschiedensten Stile stehen Seite an Seite. Es ist aber auch erschreckend existenziell, weil man hier nicht den Pulsschlag der Stadt fühlt wie in New York. Selbst wenn du dort gerade nichts tust, hast du das Gefühl, du würdest etwas tun. Weil um dich herum so viel passiert. In L.A. musst du gewissermaßen deine eigene Energie erzeugen.”
Gordon brauchte nie groß Anstöße von außen, um etwas zu erschaffen. Inspiration findet sie anscheinend schon in ihrer Heimatstadt. “Ich fühle mich zwar auch zu einigen konventionellen Sachen hingezogen, aber meist fühle ich mich wohl, wenn das, was ich ausdrücke, nicht die korrekteste Mainstream-Sache ist”, sagt sie, als ob ihre zahllosen Fans das nicht bereits wüssten. “Mir gefallen sehr unkonventionelle Dinge. Das ist einfach das, wozu ich mich hingezogen fühle.”
Ihre neue Single “Murdered Out” kombiniert Gordons bearbeitete Stimme mit einer funky Bassspur und trashigem Beat. Gordon ließ sich dazu von der Lowrider-Szene in L.A. inspirieren—eine Ode an getönte Scheiben und die Mattschwarz-Ästhetik. Schwarz auf Schwarz, das ist laut Gordon “der ultimative Ausdruck der seelischen Säuberung”.
Als ich sie frage, wo sie gelernt habe, auf so ungewöhnliche Art hinzuhören, lacht sie. “Wenn ich auf Tour herumlaufe, bekomme ich sehr viel Musik mit, ob nun im Taxi, im Laden oder im Restaurant—dort gibt es all diese Musik, der eigentlich niemand zuhört. Es ist in gewisser Hinsicht einfach Lärm”, sagt sie. Noise-Musik sei “fast, als würde man am Ground Zero anfangen. Wenn ich sie spiele, hat Elektrizität immer etwas sehr Beruhigendes für mich. Ich bin davon umgeben, und es ist wie ein Bad aus Klängen oder so.”
Gordon würde gern umdisponieren und ebenfalls visuelle Kunst zu ihrem Hauptfokus machen, doch das ist schwierig.
Ich bin gespannt, wie Los Angeles mit seinem weiten blauen Himmel und seiner düsteren Schattenseite Gordons andere Kunst inspirieren und beeinflussen wird. “Murdered Out” zeigt, dass sie noch experimentiert, und anscheinend lässt L.A. ihr den Raum dazu.
“Mir gefällt, dass einem hier nicht dauernd die Ambition im Nacken sitzt. Ich mag, dass man sich hier verlaufen kann. Es ist nicht alles wie ein winziges Aquarium. Vielleicht kann sich alles exzentrischer entwickeln”, überlegt sie. “Ich denke, ein Stück weit habe ich heute einfach das Gefühl, dass ich spielerisch sein kann. Ich mache mir nicht so viele Gedanken. Das ist sehr befreiend. Irgendwie habe ich das Gefühl, das alles, was ich bisher im Leben getan habe, mich hierhergeführt hat. Es fühlt sich einfach richtig an.” Gordons Tochter Coco hat soeben in Chicago ihren Abschluss in Malerei gemacht und ist auch nach L.A. gezogen.
Gordon würde gern umdisponieren und ebenfalls visuelle Kunst zu ihrem Hauptfokus machen, doch das ist schwierig. Zu viele Menschen zerren sie immer wieder auf die Bühne, um Musik zu spielen. Das hat seine Gründe. “Nach 30 Jahren in einer Band klingt es irgendwie blöd zu sagen: ‘Ich bin keine Musikerin.’ Aber für den Großteil meines Lebens habe ich mich nicht als eine gesehen”, schreibt sie in Girl in a Band. Doch vielleicht ist sie genau das: Musikerin. Das Mädchen in der Band.
“Ich habe sehr lange Zeit damit verbracht, Schubladen zu meiden”, sagt sie mir. “Hauptsächlich will ich einfach nicht drüber nachdenken, wer ich bin.”