Heute ist Weltfrauentag. Noisey überlässt aus diesem Anlass Frauen aus der Musik- und Nightlife-Szene das Wort. Darja Keller studiert Literatur und schreibt für das ‘Milchbüechli‘.
Liebe Frau Kunz,
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ich weiss noch, als wir mit Ihnen Hair geschaut haben, diesen Musicalfilm aus den 70er Jahren. In einer Szene wird der Protagonist Woof gefragt, ob er schwul sei. Er antwortet nonchalant: “Also, Mick Jagger würd’ ich nicht von der Bettkante stossen.” Dieser Satz gab mir die Freiheit, mir einzugestehen, dass ich Sarina Nowak von Germany’s Next Topmodel auch nicht von der Bettkante stossen würde. Abends, wenn ich auf dem Computer meiner Eltern heimlich Bilder googelte.
Frau Kunz, Sie haben mich in Musik unterrichtet, vier Jahre lang, im ersten war ich 11, im letzten 15 Jahre alt. Auf dem Schulhausplatz riefen die Jungs einander “Schwuchtel” nach und fertigten Listen an, welches Mädchen aus der Klasse sie zuerst von hinten nehmen würden. Wir Mädchen kicherten, lästerten und machten unsere Hausaufgaben.
Und dann waren da Sie: Sie hatten kinnlanges, schwarzes Haar und eine beeindruckende Sammlung dunkler Lippenstifte, die Sie auf Ihre jeweilige Nagellackfarbe abstimmten. Sie trugen Sakkos und Anzughosen, was wir alle ziemlich gewagt fanden. Um nicht zu sagen subversiv – aber dieses Wort kannten wir ja nicht. Sie waren eine Lesbe. Out and proud. Als wir einmal mit der Klasse in die Oper gingen, nahmen Sie Ihre Freundin mit. Alle haben darüber geredet. Ich auch, muss ich Ihnen ehrlich gestehen. Wahrscheinlich mehr als alle anderen.
Auch abgesehen von Hair hatten Sie eine smoothe Art, uns unauffällig Queer Culture einzuflössen: Wir sangen wirklich viel ABBA, unter anderem “Honey Honey”. Sie fragten uns: “Um was geht es in diesem Lied?” In unserer notgeilen Teenagerprüderie drucksten wir rum, ein Junge nuschelte: “Es geht um Liebe”, und kicherte in sein Musikmäppchen. Sie schauten uns an, schüttelten den Kopf und sagten laut: “Um Sex geht es in diesem Lied! Nur um Sex! Das ist doch offensichtlich!”
Beim Singen emotionaler Popsongs baten Sie uns, um Ihren Flügel herumzustehen. In einer Stimmung, die von Machtkämpfen geprägt war, war diese Art des Zusammenstehens ein bedeutsamer Akt: Man kann nicht in Kopfstimme “Keep, keep bleeding love” miteinander quietschen, ohne sich in diesem Moment wenigstens ein bisschen zu mögen. Sie hatten keine Scheu vor Pathos. Die Eindeutigkeit, die Sie an den Tag legten, wenn es um Liebe, Sex und alles ging, was mit 14 Jahren ständig Thema ist, aber nie benannt wird, nahm jedem Kichern, Lästern und Foppen den Wind aus den Segeln.
Wenige Jahre nach dem Ende meiner Schulzeit bei Ihnen war mir klar, dass Sarina Nowak nicht die einzige Frau ist, die ich nicht von der Bettkante stossen würde (und Mick Jagger nicht der einzige Mann). Immer, wenn ich Ihnen, Frau Kunz, in dieser Zeit zufällig begegnete, hatte ich dieses Bedürfnis, das junge Queers haben, wenn sie erkennen, dass es mehr als eine*n von ihnen gibt. Beim Einkaufen, auf den Dorffesten, von denen ich mich noch nicht ganz emanzipiert hatte. Ich wollte rufen: “Ich auch, Frau Kunz! Ich bin auf Ihrer Seite! Sie haben mir geholfen, mich zu akzeptieren!” Regenbogen-High-Five, Sie sind meine Ellen! Ich habe aber immer nur freundlich “Grüezi” gesagt. Zum Glück, denn dafür kann ich jetzt meinen ganzen Lesbenkitsch in diesen Brief packen.
Und wenn wir bei Kitsch sind: Wissen Sie, was ich gehört habe, Frau Kunz? Eine Freundin, die eine Klasse unter mir war, hat es mir erzählt. Als Sie einmal hörten, wie ein paar Schüler*innen einander homophobe Schimpfwörter ins Gesicht schleuderten, baten Sie die Klasse in Ihr Musikzimmer und fragten sie, was denn so schlimm daran sei, schwul zu sein. Und Sie standen da, vermutlich gegen die Klaviatur Ihres Flügels gelehnt, lässig, eine Hand aufgestützt, und beantworteten Fragen. Eine davon, das verriet mir meine Freundin, war sogar der Klassiker: “Aber wie geht denn Sex ohne Penis?” Ich hätte so gern Ihr Gesicht gesehen, als Sie diese Frage beantworteten. Und Gott sei Dank haben Sie es getan! Vielleicht bedeutet das, dass immerhin diese Klasse, der Sie damals eine kleine Lektion in Toleranz erteilt haben, diese Frage heute nicht mehr stellt. Weil sie ihnen schon im zarten Alter von 14 Jahren beantwortet wurde. Liebe Frau Kunz, ich danke Ihnen dafür.
Voller Hochachtung,
Darja Keller