Im vergangenen Sommer stach ein Unbekannter am Neuköllner Hermannplatz einen 20-Jährigen nieder. Im Herbst versuchten Polizisten, eine Massenschlägerei mit 25 Personen aufzulösen – und wurden selbst angegriffen. Im U-Bahnhof unter dem Platz verprügelten vor einigen Wochen drei Unbekannte einen 16-Jährigen und rammten ihm ein Messer in den Rücken. 200 Meter weiter steht Pavel Sverdlov zwischen Schreckschusswaffen, Airsoftgewehren und Messern, die sich in verglasten Regalen und freistehenden Vitrinen stapeln. Seinen Waffenladen “Soldier of Fortune” hat er erst im Oktober eröffnet, mitten auf der Sonnenallee. Macht er mit seinem Geschäft die Gegend sicherer oder verkauft er die Tatwerkzeuge von morgen?
Pfefferspray: Der Lippenstift, der gegen “aggressive Tiere” hilft
Pavel Sverdlov kam 1993 aus Sankt Petersburg nach Deutschland. Als er sich in Russland zum Schiffsbauingenieur ausbilden ließ, gehörte zu seiner Ausbildung, dass er den militärischen Beruf des U-Boot-Offiziers lernte. Lernen “musste”, sagt Sverdlov. Wie ein Waffennarr wirkt er nicht.
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Zwar kennt er sich seitdem mit Schusswaffen aus, in sein jetziges Feld sei er allerdings nur durch Zufall geraten: Ein anderer Händler habe vor zehn Jahren einen Vermittler für ein deutsch-russisches Waffengeschäft gesucht. Kurze Zeit später eröffnete Sverdlov seinen ersten Laden an der Frankfurter Allee in Berlin-Friedrichshain. Er handelt mit Sport- und Freizeitwaffen, sagt er, “keine Kriegs- oder Behördenwaffen”.
Im Norden Neuköllns machte vor zwei Jahren ein Waffenladen dicht, Sverdlovs wollte der Erste sein, der die Lücke füllt. Wenn Kunden heute aus seinem Laden treten, stehen vorm Grillhähnchen-Imbiss gegenüber Großfamilien und Hipster bis auf die Straße an, in den Seitenstraßen wechseln sich Eckkneipen, Tapas-Bars und Vintage-Cafés miteinander ab. An die Tür hat Sverdlov zwei Schilder gehängt: “Ab 18 Jahren” und “OPEN Açık افتح” – “geöffnet” auf Englisch, Türkisch und Arabisch.
“Ihr seid schon 18, oder?”, ruft Thomas. Sverdlovs Mitarbeiter mit Maschinenschnitt, kleiner Brille und grauem Kapuzenpulli spreizt seine langen Armen auf der Theke. Der Junge und das Mädchen in der Tür nicken stumm. Schüchtern schleicht das Paar um die Vitrinen herum, dann bleiben die beiden vor der Glastheke stehen. Das Mädchen fragt nach Teleskopstöcken: “Gibt’s die auch mit Strom?” Nein, in Deutschland verboten. Die beiden beraten sich leise auf Arabisch. Sie kaufen Pfefferspray. 5,50 Euro, 16 Milliliter. “Bestes Preis-Leistungs-Verhältnis”, sagt Thomas, helfe gegen “aggressive Hunde”.
“Aggressive Hunde” ist Waffenhändler-Deutsch, genauso wie “MES” (Munitionserwerbsschein), “WBK” (Waffenbesitzkarte) und “neun Millimeter” (ein Kaliber). Tatsächlich meint Thomas “aggressive Menschen”. Nach deutschem Gesetz dürfen Privatpersonen Pfefferspray zwar nur gegen Tiere einsetzen, wegen denen kauft aber so gut wie niemand so ein Mittel. Sogar die Drogeriekette dm bietet seit gut eineinhalb Jahren ein “Tierabwehrspray” an. Eine Altersbeschränkung gibt es nicht.
Im Neuköllner Laden liegen die Pfeffersprays, -schäume und -gele im obersten Fach der Glastheke. 16 Preisschilder, aber nur 12 Flaschen stehen da – der Rest ist gerade vergriffen. Ganz links: ein Spray, das als Lippenstift-Attrappe verpackt ist. Damit käme man auch am Türsteher vorbei, sagt Sverdlov. Anders als mit dem “Bear Defender”.
Die 225-Milliliter-Dose liegt in der hinteren Vitrinenreihe. Mit ihr kann jeder per Knopfdruck Pfefferspray in einem Umkreis von zehn Metern versprühen. Durch Deutschlands Wälder wandert kein einziger Braunbär. Die Bären der Berliner Nagelstudiobetreiber, Bäckerei- und Spätibesitzer tragen Masken, Messer und Pistolen und wollen an die Tageseinnahmen.
An dem Wochenende, an dem wir uns im Laden treffen, passieren mindestens fünfzehn Zwischenfälle mit Pfefferspray und Reizgas in Deutschland. Es ist Karneval, in mehreren Orten eskalieren alkoholgetränkte Feiern, Betrunkene und zur Hilfe gerufene Polizisten sprühen sich gegenseitig ein. Im baden-württembergischen Waldshut gelingt es allerdings einer Frau, sich mit Pfefferspray gegen drei Männer zu wehren, die sie mutmaßlich vergewaltigen wollten.
Nach Silvester in Köln 2015/2016 stiegen die Verkäufe von Pfefferspray in Deutschland schlagartig an. Bei Sverdlov war Pfefferspray anschließend ausverkauft. Auch seine Vertriebspartner kamen nicht mehr hinterher. Wenn heute Straftaten durch die bundesweite Presse gehen, sagt Sverdlov, merke er davon nichts im Geschäft. Die Nachfrage hat sich mittlerweile stabilisiert – auf relativ hohem Niveau.
Pistolen: “Wahre Kriminelle kommen nicht in meine Läden”
Auch die Zahl der Besitzer eines kleines Waffenscheins hat zugenommen: von 275.000 im November 2015 auf über 460.000 Ende 2016. Mit einer solchen Erlaubnis, die in Berlin für 50 Euro von der Polizei ausgestellt wird, darf jeder Erwachsene eine Schreckschuss-, Gas- oder Signalwaffe mit sich führen. Auch jene, die Sverdlov verkauft.
Er steht zwischen den braunen Kartons im Hinterraum des Ladens. In der Hand hält er eine Walther P99. Deutsche Produkte seien sehr gefragt, sagt er. Die Schreckschussvariante lässt sich nur mit geübtem Auge von den Modellen unterscheiden, die Polizisten in Nordrhein-Westfalen oder Schleswig-Holstein einsetzen.
Wie leicht wäre es, so ein Modell zu einem für scharfe Munition umzubauen? Der Waffenhändler dreht die Pistole herum. Sein Zeigefinger umkreist die Mündung. “Hier ist ein Sicherungsmechanismus drin. Wenn du die Mündung anbohrst, löst du ihn aus und er zerstört den Lauf.” Mit der Waffe könnte dann kein einziger Schuss mehr abgefeuert werden.
Das deutsche Waffengesetz? “Sehr gut, sehr streng”, sagt Sverdlov. Stress mit den Behörden habe er keinen, im Gegenteil: Der Polizei und der Luftfahrtbehörde leiht er Trainingswaffen für Schulungszwecke aus.
Fragt man ihn nach der Gefahr, die von seinen Schreckschusswaffen ausgeht, erzählt er von Tausenden nach dem Ende des Warschauer Pakts verschwundenen Kalaschnikows, vom Jugoslawienkrieg, von Hinterlassenschaften der Wehrmacht auf der griechischen Insel Kreta und von illegalen Waffentransporten zwischen Polen und der Ukraine. Die wirkliche Gefahr, sagt Sverdlov, liege in offenen Grenzen, im Internet und Darknet, wo niemand nach Personalausweis und Waffenscheinen fragt. Die FAZ schrieb 2016, dass dadurch bis zu zwanzig Millionen illegale Schusswaffen in Deutschlands Kellern und Schränken herumstehen könnten. Sverdlov sagt: “Wahre Kriminelle kommen nicht in meine Läden.”
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Warum Leute eine Waffe oder auch nur ein Spray bei ihm kaufen, fragt Sverdlov seine Kunden nicht. “Wir sind keine Priester, die Leute kommen nicht zum Beichten zu uns.” Sein Laden erinnere ihn eher an eine Arztpraxis, sagt er. “Wenn viele Leute nach Selbstverteidigungsartikeln fragen, geht es der Gesellschaft schlecht.”
Messer: Wenn ein Waffenladen sicherer als IKEA ist
Ein Typ im offenen Parka tritt in den Laden, die Stimme heiser, Haare nach hinten gegelt, Augen weit aufgerissen: “Mit welchem Messer macht mich die Polizei nicht an?”, fragt er.
Verkäufer Thomas eilt um die Theke und erklärt die Vitrinensäule mit den Messern von oben nach unten.
“Was ist mit dem Messer?”, fragt der Mann und deutet auf eins mit schwarzem Griff.
“Darfst du nicht führen”, antwortet Thomas, “zu lang. Wenn du damit erwischt wirst, kostet das bis zu 2.000 Euro.”
“Ich will mich verteidigen, man.”
“Dann das hier. Die Klinge hat 12 Zentimeter.”
“Nehm ich.”
Thomas holt ein Messer aus dem Lager, zieht es aus der Kunststoff-Scheide und legt es auf die Theke. 59,90 Euro. Sein Gegenüber greift es sich, die Augen weiten sich ein kleines Stück mehr. Keine Armlänge Abstand vor Thomas führt er ein paar Stich- und Hiebbewegungen aus.
“Und wie kann ich das einklappen?”
“Das geht nicht. Du musst es in der Tasche hier tragen.”
“Ich will aber ein Klappmesser.”
“Die sind in Deutschland verboten.”
“OK, tschüss!”
War der Typ nicht zu aufgebracht, um ihm überhaupt irgendwas hier zu verkaufen? Nein, findet Thomas, und er hätte ihn ja sofort aufgeklärt: “Wir haben unseren Teil gemacht.”
Was Thomas dem Kunden nicht gesagt hat, sagt sein Chef, als der Biergeruch sich verzogen hat: Wenn man sich selbst verteidigen muss, sei ein Messer “überhaupt keine Lösung”. Die Situation könne nur gefährlich eskalieren. Besser sei Pfefferspray. “Wichtig ist: Du darfst nicht zögern.” Und dann? “Besser schnell wegrennen”, sagt Sverdlov.
Allein in Berlin gibt es jedes Jahr Tausende Zwischenfälle mit Messern, dabei fallen auch die unter das Waffengesetz. Die Klingen von feststehenden Messern dürfen nicht länger als 12 Zentimeter sein, damit man sie in Deutschland ohne Genehmigung außerhalb der eigenen Wohnung, des Grundstücks oder der Geschäftsräume mit sich herumtragen darf. Vor allen anderen Messern steht bei Soldier of Fortune ein Preisschild mit roter Schrift als Warnung: “FÜHRVERBOT? JA”. Die Koch- und Allzweckmesser, die IKEA verkauft, haben zwischen 14 und 20 Zentimeter lange feststehende Klingen. “Und da warnt dich niemand, dass du die gar nicht führen darfst”, sagt Sverdlov.
Schräg gegenüber, auf der anderen Seite der Sonnenallee, hat vor zehn Tagen ein Mann mehrfach auf seine Ex-Freundin eingestochen. Die Frau überlebte schwerverletzt. Die Tatwaffe: ein Küchenmesser.
AK-47: “In manchen Ländern hat jede Familie eine Kalaschnikow daheim”
Auf dem Bürgersteig, auf dem das Verbrechen stattfand, laufen an diesem Samstag Menschen mit ihrem Wochenendeinkauf. Ein Mann mit umgedrehtem grünen Cap auf dem Kopf und Teebecher in der Hand tritt ein. Er wolle “nur mal gucken” und bleibt vor einem Regal stehen: “Ist die echt?” Vor ihm hängt eine Kalashnikov.
Die AK-47 ist nur eine Attrappe, verschießt nicht mal Plastikkugeln. Sverdlov sagt, sie sei der Star im Laden. Immer wieder bäten ihn Kunden darum, dass er sie damit fotografiert. In Neukölln hat fast jeder Zweite einen sogenannten Migrationshintergrund. “Diese Menschen haben eine andere Mentalität”, sagt Sverdlov. “In manchen Ländern hat jede Familie eine Kalaschnikow daheim”, das sei ganz normal. Er habe schon erlebt, wie Syrer in seinen Laden getreten seien und meinten, sie fühlen sich hier zu Hause. Deutsche hingegen würden sich für Waffen schämen.
Als Sverdlov und Thomas um 18 Uhr das Gitter-Rollo herunterfahren, haben sie einige Packungen Platzpatronen, Feuerwerksmunition, Patronen für eine Gaswaffe sowie zwei Pfeffersprays und ein -gel verkauft. Auch der Cap-Träger ging am Ende ohne Deko-Kalaschnikow. “Ausgesprochen schlechter Tag”, sagt Sverdlov.
Um seine Existenz zu fürchten, braucht er nicht. Ob Männer auf der Suche nach Selbstbestätigung, Waffensammler, Verunsicherte, Überfallopfer, Fotografen (die Attrappen oder Rauchbomben kaufen), Sportschützen, Kleinkriminelle oder die Polizei: Sie alle werden ihm auch dieses Jahr einen guten Umsatz bescheren. Manche werden das Gekaufte wohl nie einsetzen, andere sich damit auf der Straße oder im U-Bahnhof selbst verteidigen, vielleicht sogar gegen Menschen, die ebenfalls bei Sverdlov eingekauft haben.
Aber, sagt Sverdlov, die könnten einen auch mit einer zerbrochenen Glasflasche oder einer Eisenstange aus dem Baumarkt attackieren. Oder eben mit einem Küchenmesser.
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