Ein Obdachloser hat uns erzählt, warum er noch nicht erfroren ist

Obdachloser Mann mit Mütze und Schal

Minus 25 Grad in den Alpentälern, minus 31 Grad in Sachsen, in allen deutschen Großstädten fast zweistellige Minusgrade: Wetter zum Zuhausebleiben. Scheiße nur, wenn du kein Zuhause hast. Während du dich unter der heißen Dusche einseifst, bleiben andere auf der Straße vor den Türen. Sie schlafen in Hauseingängen, in U-Bahn-Höfen, vor Bankautomaten. Sie streiten um Schlafplätze in Sammelunterkünften. Oder erfrieren.

Auch in Köln. Minus fünf Grad sagt das Handydisplay, minus dreitausend meinen die schmerzhaft steifen Zehen. Auf Kölns Partymeile am Hohenzollernring—Cocktailbars mit Dauer-Happy-Hour—zieht sich ein großzügig einparfümierter Mann den Reisverschluss seines Fellparkas bis zum Hals hoch, ein Frauentrupp stöckelt schnell zu Burger King ins Warme —ist es arschkalt. Egbert sagt: “Das ist mir scheißegal.” Er sitzt im Schneidersitz auf dem Boden, den Schlafsack bis zum Bauch hochgezogen. Wie jede Nacht schläft er auch heute hier.

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Egbert ist 46 und lebt seit fünfeinhalb Jahren auf der Straße. Warum ist er noch nicht erfroren? Warum geht er nicht in eine Sammelunterkunft? Egbert hat uns erzählt, wie er jetzt überlebt:

“Ich freue mich, wenn ich abends im Schlafsack liege. Das ist wärmer, als tagsüber rumzulaufen. Als Unterlage benutze ich zwei Isomatten, darüber eine Fleecedecke. Zum Schlafen habe ich zwei Schlafsäcke, ziehe sie aber nie bis übers Gesicht, denn dann wird der Kopfbereich durch den Atem feucht. Wenn es kalt ist, muss alles trocken bleiben.”

“Nässe ist tödlich”, erklärt Oliver Opatz, Arzt für Thermophysiologie und Weltraummedizin an der Berliner Charité. “Kälte überträgt sich durch Wasser dreißigmal schneller als durch die Luft. Spätestens wenn die Nullgradgrenze unterschritten wird, ist es gefährlich, draußen zu übernachten.” Wie gefährdet eine Person ist, an Unterkühlung (Medizinsprech: Hypothermie) zu sterben, liege aber nicht nur an der Außentemperatur: “Wie ist der gesundheitliche Zustand der Person? Wie viel Körperfett hat sie? Wie stark sind Wind und Feuchtigkeit? Wie gut ist der Schutz durch Kleidung und Decken?”

Egbert:

“Im Moment trage ich eine lange Unterhose, darüber eine Jeans, dazu dicke Socken, meine Schuhe lasse ich an. Ich habe [er zählt nach] drei Pullover und zwei Jacken an, die äußere ist eine robuste Lederjacke. Dazu Mütze, Schal und Handschuhe. So kühle ich nicht aus. Auch nicht bei minus fünf Grad. Trotz der ganzen Kleidung muss ich aufpassen, dass ich schnell reagieren kann, wenn jemand versucht, meine Sachen zu stehlen. Ich schlafe mit dem Kopf und Armen auf allem drauf, damit ich sofort merke, wenn wer was klaut. Meine Geldsammelbecher kommen mehrfach in der Woche weg.”

Dr. Opatz:

“Unser Körper funktioniert wie eine Thermoskanne: Wenn es kalt ist, wird der Körperkern warmgehalten. Wenn man zum Beispiel in eiskaltes Wasser springt, kribbeln und schmerzen Finger und Zehen. Dann ziehen sich die Gefäße zusammen, Finger, Zehen und Nasenspitze—exponierte Stellen mit dünnem Gewebe, in der Medizin heißen sie Akren—, sie werden weniger durchblutet. Das Herz schlägt sehr schnell, es pumpt gegen die Schließung der Gefäße an. Wenn man Alkohol trinkt, funktioniert dieser Reflex nicht mehr, denn Alkohol weitet die Gefäße. Gleichzeitig fühlt man sich innerlich warm. So unterkühlt und erfriert man sehr schnell. Gefährlich wird es bei einer Körpertemperatur unter 35 Grad, akut lebensgefährlich bei 30 Grad und weniger.”

Egbert:

“Im Winter braucht man einen klaren Kopf, um zu überleben. Vor allem die Schnapstrinker, die richtigen Säufer, sterben. Die trinken sich besinnungslos und liegen dann irgendwo in der Ecke ohne Decke. Dann erfrieren sie. Ich habe selbst schon Erfrorene gesehen. Ich selbst trinke nie Schnaps und auch anderes Zeug trinke ich im Winter weniger. Ich muss in der Lage sein, meinen Schlafplatz herzurichten und mich dick einzupacken. Im Moment bin ich so bei vier, fünf Bier und einer Flasche Wein am Tag. Der Ladeneingang hier ist meine Wohnung, hier ist es windgeschützt und trocken. Schon einen Meter weiter vorne auf ist es viel kälter und windiger. Andere lasse ich hier nicht rein.”

Obdachlosenhelferin Nicole Freyaldenhoven von dem Verein Helping Hands Cologne e.V.:

“Die Schlafplatzsituation in Köln ist eine Katastrophe. Und das, obwohl die Kommunen verpflichtet sind, bei Kälte und drohender Lebensgefahr Schlafplätze zur Verfügung zu stellen. Schätzungsweise leben 6.000 Obdachlose in der Stadt. Die Stadt bietet aber nur einige hundert Schlafplätze. Außerdem zählt die Stadt jeden Schlafplatz, also auch solche, die beispielsweise nur für drogensüchtige, obdachlose Männer sind. Da kann nicht jeder hingehen. Obdachlose Frauen mit Hund zum Beispiel haben nicht die Wahl zwischen mehreren hundert Schlafplätzen. Die können froh sein, wenn sie überhaupt etwas finden. Wenn man bei Eiseskälte jemanden auf dem Boden liegen sieht, sollte man immer hingucken. Atmet die Person noch? Bei dick eingepackten ist es schwer, noch einen Atem zu erkennen. Im Zweifel anstupsen. Das Schlimmste, was passieren kann, ist angeschnauzt zu werden. Leicht bekleidete, offensichtlich besoffene Leute, die irgendwo herumliegen, brauchen fast immer Hilfe. Wenn keine Reaktion kommt, immer die Polizei oder den Rettungswagen rufen.”

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Egbergt und Nicole Freyaldenhoven von der Obdachlosenhilfe

Egbert:

“In Sammelunterkünfte gehe ich nicht. Da wird geklaut, da laufen Leute rum, die wirklich durchgeknallt sind, viele haben monatelang nicht geduscht. Einmal, das ist schon ein paar Jahre her, da war es minus 15 Grad. Da haben die Kirchen ihre Türen aufgemacht. Da habe ich dann dort geschlafen, das finde ich korrekt. Die Kirchen machen das aber nur, wenn es zweistellig unter Null ist, bei allen anderen Temperaturen schlafe ich immer hier.”

In Deutschland leben 335.000 Menschen auf der Straße, 29.000 davon sind Kinder, schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Erst Anfang Dezember konnte die Bundesregierung eine Anfrage der Linksfraktion zu den aktuellen Obdachlosenzahlen nur mit dem Verweis auf diese Schätzungen beantworten. Die Zahl der Obdachlosen wird, so die Prognose der Bundesregierung, bis 2018 auf 536.000 ansteigen. Es würden dann fast so viele Menschen auf der Straße leben, wie Dresden Einwohner hat.

2014 sind 101 Menschen in Deutschland erfroren. Aktuellere Zahlen veröffentlicht das Bundesamt für Statistik erst am 19. Januar. Die Statistik erfasst auch, wo die Menschen gestorben sind: zu Hause, in öffentlichen Bauten, in Wohnanstalten. Auf der Straße sind “nur” zwei Menschen gestorben, dafür aber 69 an nicht näher bezeichneten Orten. Was man nicht erfährt: wer obdachlos erfroren ist und wer nicht. Die Lebenssituation der Menschen wird nicht dokumentiert.

Egbert:

“Seit ich auf der Straße lebe, sind mir noch keine Körperteile erfroren. In meinem alten Leben, bevor mein Kopf kaputt gegangen ist—[er lacht kurz und ergänzt:] Burnout hört sich besser an—, hatte ich noch eine eigene Firma in Holland und bin viel Schlittschuh gefahren. Eine Tour ging über 180 Kilometer, über zugefrorene Kanäle. Hinterher habe ich schwarze Stellen an meinen Ohren bemerkt, später haben sich Blasen gebildet. Ins Krankenhaus bin ich aber nicht gegangen, nach einigen Tagen war alles wieder OK. Jetzt, auf der Straße, merke ich aber, dass meine Ohren ziemlich empfindlich geworden sind, bei Kälte sowieso und im Sommer kriege ich viel schneller einen Sonnenbrand.”

Dr. Oliver Opatz:

“Erfrierungen haben wie Verbrennungen verschiedene Gradstufen. Ab Erfrierungen dritten Grades sind die Schäden irreversibel. Nicht mehr zu retten ist ein Körperteil, wenn es komplett durchgefroren ist. Bei Erfrierungen vierten Grades muss amputiert werden. Im Krieg, bei den Russlandfeldzügen, sind ganze Beine vereist. Die Haut wird bräunlich-schwarz, das Gewebe verfault, alles ist denaturiert. Erfrierungen ersten und zweiten Grades muss man vorsichtig auftauen. Um zu starke Schmerzen zu vermeiden, darf man das Körperteil nicht direkt in heißes Wasser oder ähnliches halten. Besser: Die betroffenen Partien in einen warmen Luftstrom halten, den Körper von innen durch warme Getränke wärmen.

Obdachlose sterben nicht an Erfrierungen, das ist eher ein Problem von Bergsteigern, Reinhold Messner zum Beispiel fehlen ein paar Zehen. Obdachlose sterben an einer zu niedrigen Körpertemperatur. Bei einer starken Unterkühlung des Körperkerns hört das Herz auf zu schlagen. Wenn eine unterkühlte Person behandelt wird, bekommt sie eine 37 Grad warme Kochsalzinfusion, in schlimmeren Fällen kommt sie an ein Kreislaufgerät.”

Egbert:

“Im Winter haben die Leute mehr Mitleid. Das ist wirklich so, meine 15 Euro, die ich am Tag für Tabak, Essen und Alkohol brauche, habe ich dann viel schneller zusammen. Heute habe ich schon zwei Suppen und mehrere Kaffee geschenkt bekommen. Bevor der Dönerladen hier um die Ecke geschlossen wurde, haben mir die Leute ständig Döner gekauft. Das ist toll, aber manchmal hatte ich schon zwei daliegen und bekam noch einen dritten. Ich möchte auch mal einen Salat essen. Ich denke mir dann immer, dass die Leute mir lieber zwei Euro geben sollen, statt mir einen Döner für fünf zu kaufen. Dann kann die Person drei Euro für sich behalten und ich kaufe mir das, was ich gerade brauche.”

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Egbert an seinem Schlafplatz | Foto: Lea Albring

Am Ende unseres Gespräches bitte ich Egbert, eine Einverständniserklärung für die Fotos zu unterschreiben. “Kein Problem”, sagt er. Neben dem Namen fragt das Formular auch nach der Adresse. Egbert lacht und schreibt: Hohenzollernring 62.