Willkommen zu Stranger Than Flicktion, unserer Kolumne kleiner Geschichten inspiriert von Flickr-Fotos. Unsere Autoren erhalten fünf zufällig ausgewählte Bilder rund ums Essen und sollen daraus in weniger als fünf Tagen eine Kurzgeschichte basteln. Unser heutiger Erzähler verrät uns sein unverzeihlichstes Weihnachtsgeheimnis.
Und so war ein weiteres Weihnachtsfest ruiniert. Alles war ruhig im Esszimmer, man hörte nur Herzklopfen. Eine explosive Stimmung, Verrat und ein Hauch von Verschwörung lagen in der Luft. Weihnachten lief nie perfekt ab, aber so schlimm war es auch noch nie.
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Während sich der Rest der Familie langsam vom Tisch schlich, stocherte ich in den Resten des Weihnachtsbratens herum. Ab und zu schauten sie mich mit einem Gesichtsausdruck irgendwo zwischen extremer Wut und eindeutigem Mitleid an. Ich fummelte an meinen Essensreste rum und dachte darüber nach, wie ich mich irgendwie in Luft auflösen könnte. Wäre es möglich, dass ich mich einfach in etwas anderes verwandeln könnte?
Wenn ich meine Augen nur ganz fest und ganz lange schließe, redete ich mir ein, würde ich mich dann in einen Teller, eine Walnuss oder einen seichter Weihnachtsfilm verwandeln. Teller, Walnüsse und Weihnachtsfilme haben ein leichtes Leben, sie können Weihnachten genießen, sie sorgen nicht dafür, dass sich deine Mutter ins Schlafzimmer verdrückt oder deine älteren Brüder in den Garten. Teller, Walnüsse und Weihnachtsfilme kommen einfach mit allem und jedem klar, denn sie wissen genau, wie man das macht.
In den Minuten nach dem Massenexodus hätte ich alles darum gegeben, ein Teller, eine Walnuss oder ein seichter Film zu sein. Doch das war nur eine weitere Sache, die ich nicht kontrollieren konnte—und ein weiterer Punkt auf meiner stetig wachsenden Liste des Scheiterns. Während ich meinen Teller langsam von mir wegschob, schaute ich mir an, was noch übrig war: zwei nackte, weiße Klöße, Bratenreste mit drei Kellen Sauce und zwölf erbärmliche Rosenkohlröschen. Das war kein Essen, das ich wollte. Das war kein Essen,das der Mittelpunkt einer Geschichte wird, die ich später schreiben würde. So hatte ich es zumindest nicht geplant.Da saß ich also, mit rotem Gesicht, glühenden Wangen, voller Scham und Angst und starrte auf Klöße, Bratensauce und Rosenkohl.
Die Worte, die über meine Lippen gekommen sind unddie dazu geführt haben, dass alle anderen mich mit der Schüssel Rotkohl und voller Reue und Gewissensbisse allein zurückgelassen haben, waren Worte, die ich gar nicht verstanden hatte. Worte, die ich gar nicht gesagt haben kann. Worte, die ich überhaupt nicht mit mir selbst—was auch immer das heißt—in Verbindung gebracht hätte. Worte die überhaupt nicht zu mir gehörten—wer auch immer ich wirklich bin.
Diese Worte, die sich zwischen zwei Bissen Rosenkohl durch meine Stimmbänder aus Luft in Klänge verwandelten, an deren Reihenfolge ich mich nicht mehr erinnern kann, die in meinem eigenen Kopfkino immer wieder abliefen, die ich mir vielleicht nur eingebildet habe, die vielleicht gar nicht erst gesagt wurden, waren vollkommen egal.
Sie sind genauso egal, wie ein schlechtes Weihnachtsgeschenk—doch mein Verrat geht weiter als ein paar hässliche Socken oder ein singender Fisch. Wie sagt man so schön: Der Gedanke zählt. Und das stimmt. In diesem Fall nur haben sich meine Gedanken zu Worten geformt—Worte, die man nicht einfach am 2. Januar bei eBay verkaufen kann. Worte, die man nicht gegen einen Gutschein eintauschen kann. Diese Worte hätte ich am liebsten der einzigen Person gesagt, die das Zimmer nicht verlassen hatte: dem Hund.
Der Hund verstand mich. Oder war zumindest so gnädig, seinen Unmut mit mir zu verbergen. Immerhin hatte ich alles zu einem abrupten Ende gebracht, noch bevor er auch nur ein Stückchen von irgendjemandem unter den Tisch geworfen bekam. Der Hund hat mich immer verstanden, hat meine Launen immer ertragen und genauso war es auch an diesem Tag.
Du musst nicht wissen, warum ich am Tisch saß, Rosenkohl für Rosenkohl aß, mir noch mehr auf meinen Teller geschaufelt habe, so viel Rosenkohl wie möglich auf die Gabel gespießt habe und ihn mir in den Mund gestopft habe. Meine Finger waren feucht wie Moos, meine Zunge sah aus wie einDuftbaum, meine Zähne wie festgewordenes Erbspüree. All das ist nicht wichtig, unnützes Vorgeplänkel.Wenn du über dieses Weihnachtsfest überhaupt etwas wissen musst, dann maximal, dass mein Magen langsam rebellierteund ich mit jedem Bissen dem maximalen Auswurf immer näher kam. Ich wollte aufhören, aber ich konnte nicht. Ich würde sie alle essen. Ich wollte etwas beweisen—und zwar richtig.
Langsam wurde meine Familie panisch, sie wussten nicht, wie sie mich davon abhalten könnten, in dem Tempo weiterzuessen. Mein Vater stand auf, ihm stand die Panik ins Gesicht geschrieben und er schlug mit seinen zitternden Händen auf den Tisch und haute dabei, unkoordiniert wie immer, die Sauciere um. Sämige braune Flüssigkeit ergoss sich über den Tisch. Das hat meine Schwester panisch gemacht. Ihre Panik manifestierte sich in einem weiteren Körperklaus-Moment, dieses Mal stürzte der Teller mit den Würstchen um: Als eines der prallen Dinger zu Boden fiel, hat der Hund es unglaublicherweise wie in einem Comic mitten im Flug gefangen und mit einem Happs verschlungen. Der Anblick dieses clownesken Aktes hündischer Völlerei kombiniert mit dem ziemlich menschlichen—abartig, ja verstörend menschlichen—Akt der Völlerei, den ich am anderen Ende des Tisches beging, war zu viel für meinen Bruder. Er stand auf, sehr ruhig und sehr gelassen, und schlug gegen die Küchentür. Seine Wutausbruch wäre absolut passend gewesen und, unter Anbetracht dessen, was passiert ist, auch relativ gemäßigt, hätte er nicht ein Problem mit der Hand-Augen-Koordination und hätte er nicht aus Versehen die Verglasung der Tür eingeschlagen. Er zog Glassplitter aus seinen blutigen, aber nicht allzu verletzten Händen heraus und drehte sich zu mir. Fetzen von Küchenpapier lagen auf seiner offenen Wunde, sein Mund war weit geöffnet und er versuchte etwas zu sagen. Doch er konnte nicht. Niemand fand die Worte, um mich aufzuhalten.
Ich aß und aß und aß und aß und dann saß ich da mit geschlossenen Augen, ohne zu essen. Mein Mund war leer, meine Augen geschlossen und ich hatte eine komische Vision. Doch Worte werden dem nicht gerecht.
Und weil du so geduldig warst, verrate ich dir ein Geheimnis. Hör gut zu und sei nicht voreingenommen. Die Worte, von denen ich die ganze Zeit erzählt habe; die Worte, die Weihnachten ruiniert haben; die Worte, die ich nie zurücknehmen und austauschen kann; die Worte, die mich zu einem Geächteten gemacht haben; die Worte, die zu Chaos und Verwüstung geführt haben; die Worte, bei denen ich so getan habe, dass sie nach dem Essen einfach aufgelöst hätten, sind Worte, die ich niemals vergessen werde. Diese Worte, jetzt Schwarz auf Weiß, erscheinen Jahre später so harmlos, so langweilig, so unerträglich bedeutungslos. Aber so sind Worte und Sprache nun mal. Sie zerstören entweder alles oder machen alles schöner. Und weil du so geduldig warst, sage ich dir die Worte:
„Ich möchte nie wieder verdammten Rosenkohl essen. Nie wieder.”
Ende.