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Dr. Christian Lippmann: Aktuell arbeite ich als Organisationsentwickler, mache Führungskräftetraining oder Konfliktmanagement. Der Verein ist also nicht meine Hauptaufgabe. Ich bin durch Zufall zu dem Verein gekommen: Mein Sohn wollte gerne Debattieren lernen und fand im Internet die wöchentlichen Treffen des Vereins. Dann bin ich damals mitgegangen und es hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich dabei geblieben bin.Streiten Sie denn so gerne?
Nein. Aber mir ist es einfach sehr wichtig, den Mund aufzumachen, wenn etwas nicht geht. Ich habe ein starkes Gerechtigkeitsempfinden. Ich habe früher mal auf dem Bau gearbeitet und hatte da einen cholerischen Chef, vor dem alle gekuscht haben, obwohl der streckenweise total unsinnige Anweisungen gegeben hat. Irgendwann habe ich meine Schaufel vor ihm in die Erde gerammt und gemeint: "Ich glaube, wir beenden das jetzt hier mal", und habe gekündigt. Mir ist es immer wichtig gewesen, unabhängig zu sein—und das geht nicht ohne ab und zu zu streiten.
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Ja, ich habe dort viel gelernt.Zum Beispiel?
Auf dem Bau geht es einerseits oft grob zu, dafür aber auch klar und fair. Bei Sacharbeitern zum Beispiel, mit denen ich jetzt oft zu tun habe, ist alles vordergründig ganz harmonisch, dafür werden die Konflikte so unter der Gürtellinie ausgetragen, dass ich mir oft einfach nur denke: Boah! Das finde ich viel brutaler. Generell denke ich, dass die Streitkultur verloren geht, vor allem in der linken Szene—ich wohne in Kreuzberg und bewege mich deshalb viel in diesem Umfeld. Manchmal nehme ich absichtlich aus Spaß bei den Debatten eine konservative, rechte Position ein, nur um zu schauen, wohin das führt. Aber meistens verstummt die Diskussion dann ganz schnell.Warum haben wir das Streiten verlernt?
Man kann nur etwas verlernen, was man schon einmal gelernt hat. Und ich glaube, den Menschen wird heute das Streiten erst gar nicht beigebracht. Streit gilt als schlecht, schon als Kind lernen wir Sprüche wie "der Klügere gibt nach". Dabei zählt Streiten zu den Grundfesten der Demokratie! Man sollte vielmehr beigebracht bekommen: Es ist in Ordnung zu streiten, aber es gibt Regeln. Dazu kommt noch, dass die Menschen von der Menge der Information überfordert sind. Sich einen festen Standpunkt zu erarbeiten ist eine Menge Arbeit und viele sind nicht gewillt, sie zu leisten. Die Auseinandersetzung wird dann schnell zu einer persönlichen Diskussion, wo es gar nicht mehr um die Sache geht, sondern wer moralisch überlegen ist.
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An erster Stelle sollte man sich fragen: Warum streite ich? Was will ich damit erreichen? Es ist wichtig, sein Ziel zu kennen und abzuwägen, ob es mit einer Diskussion erreicht werden kann. Außerdem ist es wichtig, schnell auf den Punkt zu kommen und sich nicht gegenseitig tot zu reden. Nach einem Argument macht man eine Pause und lässt den anderen zu Wort kommen. Das ist die höchste Kunst beim Streiten: lernen zu ertragen, dass man auch zuhören muss.Kann man Schlagfertigkeit in Streit lernen?
Ich werde das häufig gefragt und auch auf YouTube gibt es viele Videos und Tutorials. Aber ich glaube, niemand kann einem Schlagfertigkeit beibringen. Das hat man oder nicht. Schlagfertigkeit ist aber auch nicht das, was man im Streiten anstreben sollte. Ich weiß, es ist ein gutes Gefühl, dem anderen eins reinzuwürgen. Aber es ist viel wichtiger, in solchen Situationen ruhig zu bleiben. Das kann man im Gegensatz zur Schlagfertigkeit sehr wohl lernen. Genauso wie selbstsicheres Auftreten, Körpersprache, Mimik. Sehr oft gewinnt man genau damit einen Streit. Oft erzählen Leute den größten Stuss mit einer solchen Überzeugung und Selbstsicherheit, dass man ihnen glaubt.Das Donald-Trump-Prinzip. Gaslighting nennt man das auch.
Ja, Trump oder die kleineren Gaslichter in Dresden sind, was das angeht, faszinierend. Die post-faktische Gesellschaft. Alle wissen ja, dass Trump lügt und dennoch fängt er die Leute mit dem Unsinn. Aber was diese Leute machen, ist kein Streiten, sondern Demagogie oder Manipulation. Sie wollen gar keine Diskussion, obwohl sie es immer vorgeben. Sie wollen einfache Botschaften.
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Für mich persönlich gibt es Situationen, wenn man mit Rhetorik nicht mehr weiter kommt. Respekt ist ein Schutzraum. Wenn der verletzt wird, hilft kein Reden. Zum Beispiel wenn es darum geht, seine Würde zu verteidigen, halte ich Gewalt manchmal für unvermeidlich oder sogar für notwendig. Wenn eine Frau übergriffig behandelt wird, hat sie jedes Recht, sich mit einer Ohrfeige zu wehren und nicht weiter zu diskutieren. Ich möchte jedoch keinesfalls das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellen.Ich habe das Gefühl, nirgends wird mit härteren Bandagen gekämpft, als auf Twitter oder Facebook. Fast scheint es, als würden dort andere Streitregeln gelten—beziehungsweise gar keine.
Online werden die Regeln des Streitens noch häufiger außer Kraft gesetzt. Wenn ich alleine in meinem Keller sitze und nicht meinen Klarnamen oder mein Gesicht zeigen muss, dann ist es natürlich einfach, seine Meinung zu sagen. Für mich ist das aber kein Streiten, eher so etwas wie Lästern. Außerdem: In den sozialen Medien wird ganz oft öffentlich so gestritten, als würde man sich im privaten Raum aufhalten. Offline hat ein Konflikt irgendwann ein Ende. Online ist das nicht der Fall. Ein Shitstorm ist ein unglaubliches Wirrwarr und er findet keinen Abschluss. Ganz oft sind Streitereien im Internet auch einfach Selbstdarstellung. Den Beteiligten geht es nur darum, die meisten Likes zu bekommen. Aber das ist kein Streiten, sondern Narzissmus.Gibt es denn Dinge, über die man Ihrer Meinung nach nicht streiten kann?
[Lange Pause] Ja, aber die muss jeder für sich wissen. Für mich ist es die Menschenwürde. Über die Menschenwürde und die Menschenrechte streite ich nicht, weil die unanfechtbar sind, Punkt. Mit jemanden, der diese Werte in Frage stellt, brauche ich keinen Streit anfangen. Ich musste vor Kurzem eine Diskussion mit einem Reichsbürger abbrechen. Wenn jemand behauptet, die BRD würde nicht existieren und die Reichsgesetze von 1937 gelten noch—da ist kein Gespräch zielführend.Aber haben die dann nicht gewonnen? Wenn man sprachlos ist und das Gespräch abbricht?
Nein. Das Gespräch führt ja nirgendwohin. Wenn derjenige dann sagt "Na, jetzt fällt dir wohl nichts mehr ein", dann kann man durchaus selbstbewusst sagen: Nein, dazu fällt mir wirklich nichts mehr ein.Macht es sie glücklich, einen Streit zu gewinnen?
Natürlich fühlt es sich toll an. Aber das beste Gefühl ist nicht, das letzte Wort zu haben. Sondern aus einer Diskussion verändert rauszugehen und etwas gelernt zu haben.Wer in Berlin Bock auf Streit hat, kann das offiziell jeden Mittwoch um 19:30 Uhr im Café Enpassant mit dem Streitkultur e.V. ausleben.