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Ein Unterkiefer und ein Zahn könnten die Menschheitsgeschichte auf den Kopf stellen

Wo kommen wir her? Bislang lautete die wissenschaftlich fundierte Antwort auf diese Grundfrage des Menschseins: wahrscheinlich aus Afrika. Dort soll sich der Vormensch vor fünf bis sieben Millionen Jahren vom Menschenaffen abgespalten haben. Wenn es nach dem Forscherteam von Prof. Dr. Madelaine Böhme geht, müssten die Geschichtsbücher aber womöglich umgeschrieben werden: Wie die Wissenschaftler der Universität Tübingen herausfanden, könnten sich die ersten Menschen bereits vor 7,2 Millionen Jahren von ihren tierischen Verwandten losgesagt haben – und zwar mitten in Europa.

Für ihre aufsehenerregende Arbeit, an der insgesamt 15 internationale Wissenschaftler beteiligt waren, untersuchte das Forscherteam zwei wertvolle Fossilienfunde mit modernster Technik: einen bereits 1944 beim Bau eines deutschen Kriegsbunkers in Athen entdeckten Unterkiefer sowie einen Backenzahn, der erst 2009 in Bulgarien gefunden wurde. Beide Funde sind die einzigen Überbleibsel des Hominiden “Graecopithecus freybergi”, Spitzname: El Graeco. Zwar stehen die Funde nicht unmittelbar miteinander in Verbindung, trotzdem gehen die Wissenschaftler von einem ähnlichen Alter der Stücke aus.

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Die Idee, der Vormensch hätte sich nicht in Afrika sondern auf dem Balkan vom Menschenaffen verabschiedet, ist umstritten. Daher rechnet das Team mit starkem Gegenwind: “Wir widersprechen mit unseren Ergebnissen den Ansichten einiger Kollegen, die bereits lange auf diesem Feld forschen”, erklärt Forscher Jochen Fuß in einem Telefonat gegenüber Motherboard.

Warum wurde der Unterkiefer ausgerechnet jetzt nochmal untersucht?

Obwohl der Fund des Unterkiefers bereits über ein halbes Jahrhundert zurückliegt, wurde er erst jetzt neu untersucht. Der Grund dafür ist einfach: “Unsere Zusammenarbeit mit der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung sowie die Entdeckung des Backenzahns waren entscheidende Anlässe, die Stücke noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen”, erklärt Fuß. Erst durch die Kooperation erhielt das Team die für die Vermessung nötigen technischen Voraussetzungen.

Die Zusammenarbeit bestätigte schließlich die Theorie des Teams, dass es sich um überdurchschnittlich alte Fundstücke handele: Eine Analyse der Sedimente, in denen die Fossilien gefunden wurden, datierte den Unterkiefer auf ein Alter von 7,17 Millionen Jahre, den Zahn sogar auf 7,24 Millionen Jahre. Beide Fundstücke sind damit älter als der bislang älteste aus Afrika stammende Vormensch Sahelanthropus, der sechs bis sieben Millionen Jahre alt ist.

Umso größer war die Überraschung, als der Ursprung der Stücke geklärt werden konnte: Anders als bisher angenommen gehen diese nicht auf Menschenaffen, sondern auf einen Vormenschen zurück. Zu diesem Schluss gelangten die Forscher aufgrund des Backenzahns, der mit der Zahnwurzel verschmolzen war – ein typisch menschliches Merkmal. Im Gegensatz dazu sind Zahn und Wurzel beim Menschenaffen voneinander getrennt.

“Out of Africa” gilt weiterhin – doch die “East Side Story” gerät ins Wackeln

Die Implikationen dieser Entdeckung sind immens: Sollten die Forscher mit ihren Ergebnissen richtig liegen, läge die Wiege der Menschheit auf dem Balkan. Für solche Schlüsse sei es jedoch zu früh, warnt Fuß: “Noch stehen wir ganz am Anfang”, so der wissenschaftliche Mitarbeiter der Universität Tübingen. “Wir haben lediglich einige neue Fragestellungen aufgebracht. Diese werden in der Öffentlichkeit bereits als gesicherte Tatsachen verkauft. Das sind sie aber keinesfalls.” Klar ist jedoch: Die “East Side Story” – also die Annahme, dass die menschliche Abstammungslinie vom Vormenschen ebenfalls über Afrika lief – bekommt Konkurrenz.

Ohnehin würde eine Bestätigung dieser These nichts am Ursprung der ersten Menschen ändern. Zwischen der ursprünglichen Abspaltung vom Menschenaffen und der Entwicklung des Homo Sapiens, dem ersten direkten Vorfahr der Menschen, liegen auch weiterhin Millionen Jahre. Klar ist nach wie vor: Der Homo Sapiens hat sich vor 200.000 Jahren in Afrika herausgebildet.

“Diese allgemein anerkannte Meinung bestreiten wir nicht”, bestätigt auch Fuß. “Doch die Evolution der menschlichen Linie ist breiter gefächert als viele annehmen – und wir haben womöglich einen weiteren Aspekt hinzugebracht.”