Ein Zeuge des Münchner Amoklaufs erzählt, wie ihn der Anschlag verändert hat

“Kommt heute um 16 Uhr Meggi am OEZ ich spendiere euch was wenn ihr wollt aber nicht zu teuer”, schreibt der 18-jährige David S. am 22. Juli 2016 auf Facebook. Knapp zwei Stunden später zieht er in dem McDonald’s bei dem Einkaufszentrum im Münchner Norden eine Waffe und tötet neun Menschen. Die meisten sind zwischen 14 und 20 Jahre alt, haben dunkle Haare, dunkle Augen, ausländische Wurzeln. Es dauert länger als zwei Stunden, bis die Polizei David S. stellt. Er zieht ein letztes Mal seine Pistole und tötet sich selbst.

Die Frage, was David S. zu seiner Tat motivierte, ist bis heute nicht geklärt. Ein mögliches Motiv ist aufgestauter Hass. Seine Mitschüler sollen ihn gemobbt haben. Ein anderes Motiv ist Rassismus. Er kritzelte Hakenkreuze in seinen Block, rief “Sieg Heil”. Die Staatsanwaltschaft glaubt trotzdem nicht, dass es eine politisch motivierte Tat war, und hat die Ermittlungen abgeschlossen. Der Mann, der David S. die Waffe verkaufte, war rechtsextrem. Beide sollen sich in ihren Chats mit “Heil Hitler” begrüßt haben. Wie viel wusste er von David S.’ Plänen? Ende August steht er vor Gericht.

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Aber selbst wenn dieser Prozess vorbei ist, wird der 22. Juli 2016 für viele immer noch nicht abgeschlossen sein. Einer, der fast täglich an diesen Abend denken muss, ist Wahid Hakimi. Er arbeitete als Detektiv in einer Saturn-Filiale in dem Einkaufszentrum und auch auf ihn richtete David S. seine Waffe. Wir haben ihn gefragt, wie ihn der Anschlag verändert hat.

VICE: Wie oft denken Sie noch an den Amoklauf?
Wahid Hakimi: Sehr oft. Das kann man nicht einfach so ausblenden. Wenn ich Jungs mit Rucksack sehe, denke ich: Jetzt holt er gleich die Waffe raus. Manchmal wache ich nachts schweißgebadet auf. Es ist dann wieder so, als wäre ich live dort. Ich höre die Schreie. Und ich heule auch viel. Und dann verstecke ich mich immer, weil ich nicht will, dass mich meine Frau so sieht.

Bekommen Sie Hilfe?
Ich bin in psychologischer Behandlung. Bis zu dem Amoklauf war ich nie krank, ich hatte vielleicht mal ein bisschen Fieber. Und dann hat es mich komplett aus dem Leben geschmissen.

Können Sie trotzdem erzählen, wie Sie diesen Tag erlebt haben?
Ich war gerade in der Tiefgarage des OEZ, da habe ich Schüsse gehört. Ich bin sofort mit dem Aufzug nach oben gefahren. Ich habe zuerst die Polizei gerufen und bin dann zu den Verletzten.

Was haben Sie dann getan?
Ich habe einen Erste-Hilfe-Koffer geholt, eine Tote zugedeckt. Ein Junge lag auf dem Boden, ihm wurde zweimal in den Rücken geschossen. Er hat die ganze Zeit gesagt: “Ich will nicht sterben.” Mit ein paar anderen zusammen haben wir versucht, seine Mutter anzurufen. Aber es gab kein Netz. Am Ende hat er überlebt, glaube ich.

Was ging in dem Moment in Ihnen vor?
Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich glaube an den lieben Gott. Er wird schon auf mich aufpassen, denke ich. In dem Moment wollte ich einfach helfen. Mein Ziel war eigentlich, den Amokläufer zu stoppen. Ich bin halt Detektiv und da will man immer den Täter fangen. Aber es ging nicht.

Wie weit war der Täter von Ihnen entfernt?
10, 15 Meter vielleicht. Er hat mich direkt angeschaut, aber er hat nicht auf mich geschossen. Wenn er gewollt hätte, hätte er mich töten können und noch viele andere mehr.

Warum, glauben Sie, hat er es nicht gemacht?
Man hat gemerkt, dass er sich seine Opfer ganz gezielt ausgesucht hat. Ein älterer Mann fragte ihn: “Warum machst du das?” Aber auch auf ihn hat der Junge nicht geschossen.

Vor seiner Tat hat David S. ein “Manifest” geschrieben. Darin steht, dass Ausländer “Kakerlaken” seien, dass dies Menschen seien, die er “exekutieren” müsse.
Das muss noch alles richtig aufgearbeitet werden. Der Staat muss ermitteln, warum diese Eltern ihre Kinder verloren haben. Die Leute müssen die ganze Wahrheit wissen.

Sie selbst wurden nach der Tat in den Medien “Held von München” genannt. Wie fanden Sie das?
Helden gibt es nur ihm Film. Ist jemand, der weggelaufen ist, weil er Angst hatte, ein Versager? Nein. Aber ich würde mir trotzdem mehr Zivilcourage wünschen. Manche Leute haben mit ihren Handys gefilmt, wie die Verletzte auf dem Boden lagen. Ich habe die nur angeschrien: “Weg mit euren Handys!” Vielleicht dachten manche, sie helfen der Polizei. Aber es gibt doch so viele Kameras in den Straßen.

Wie haben Sie die Tage nach dem Amoklauf erlebt?
Ich bin in dieser Nacht erst um 23 Uhr, 24 Uhr nach Hause gekommen. Ich habe mich dann erst einmal unter die kalte Dusche gestellt, damit ich diese Bilder aus meinem Kopf bekomme. Gleich am nächsten Tag bin ich wieder ins OEZ. Ich habe für die Polizei die Videos der Überwachungskameras gesichert, die ganzen nächsten Tage. Und da musste ich alles noch einmal anschauen.

Wie war das für Sie?
Ich habe so viel geweint. Das Unverschämte ist, dass ich dann am 10. August entlassen wurde. Angeblich habe ich zu viele Stunden abgerechnet. Ein paar Monate später wurde dann auch noch mein Haus durchsucht, weil die dachten, ich hätte sie beschissen. Ich habe zwölf Jahre für Saturn gearbeitet und dann so etwas.

Haben Sie inzwischen einen neuen Job gefunden?
Ich bin zurzeit psychisch nicht in der Lage, als Detektiv zu arbeiten. Ich habe Angst, dass ich total überreagiere. Dass ich, wenn ich einen Jungen mit Rucksack sehe, mich auf ihn stürze, obwohl er gar nichts gemacht hat. Aber demnächst will ich wieder arbeiten. Ich lebe seit 1995 in Deutschland und habe immer gearbeitet. Vielleicht fange ich bei meinem Bruder im Restaurant an. Ich kann spülen, kochen, alles machen. Aber ich muss endlich wieder mein eigenes Geld verdienen.

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