Tech

Eine geführte Tour hinter den Kulissen der Sex-Industrie von Second Life

Gigantische Brüste, so groß wie Häuser, füllen den gesamten Bildschirm aus: “ONLINE – touch for info”, blinkt darunter in greller Neonschrift. Neben der Riesenfrau erstreckt sich eine schier endlose Kachelwand, auf der unzählige Fotos von weiblichen Hintern und tiefen Ausschnitten um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Billige Technobeats dröhnen aus den Boxen, und ein Laden bietet Sexspielzeug an.

Der Innenhof eines erotischen Nachtclubs wird von den Anzeigeboards der vielen Webcam-Girls und Escort-Damen beherrscht. Bild: Screenshot, Linden Lab


Völlig reizüberflutet stolpern wir auf einem marmorierten Bürgersteig an der übergroßen Porno-Wand entlang. “Das sind Anzeigenboards, die Camgirls gehören”, sagt unsere Begleiterin Klara*. “Es lohnt sich für die Mädels aber erst, wenn sie gleich mehrere dieser Werbefelder mieten.” Mit diesen Worten folgen wir der jungen Frau weiter in das Herz der Escort-Community von Second Life.

Videos by VICE

Geheimadressen und virtuelle Nachtclubs: Wo die Cybersex-Community zu Hause ist

Klara ist ein virtuelles Escort-Girl. Seit über zehn Jahren verdient sie Geld damit, in Second Life mit Männern und Frauen zu chatten, sie in der Spielwelt zu begleiten und für sie ihre Webcam anzuwerfen. Sie ist also eine Art Cam-Girl, aber eins, das ihre Kunden vor allem in einem Spiel kennenlernt. Klara selbst haben wir bei einer Recherche über die kaum moderierte “Rape”-Community in World of Warcraft getroffen. Die Studentin hat sich danach bereit erklärt, uns von ihrem ihren Job in Second Life zu erzählen.

Second Life ist kein neues Spiel. Es erschien 2003 und versprach damals nichts weniger als “unser virtuelles Leben zu revolutionieren.” Second Life wollte Menschen zusammenbringen und sie gemeinsam virtuelle Welten bauen lassen. Für kurze Zeit schien dieses Vorhaben aufzugehen, etwa als die Schweden darüber sinnierten, eine eigene Botschaft im Spiel aufzumachen. Die Revolution blieb dann aber aus.

Die Macher arbeiten inzwischen an einem Nachfolger, aber noch immer sind etwa 800.000 Spieler regelmäßig in der Online-Welt unterwegs. Sie bauten sich eine Vielzahl fantasievoller Orte auf, die von Star Trek-Museen über Nachbauten antiker Städte bis hin zu modernen Metropolen scheinbar jegliche Art von virtuellem Vergnügungs- und Urlaubsziel zu bieten haben. Darunter befindet sich auch Klaras Heimat, die Cybersex-Community.

Nicht selten sind die männlichen Kunden schon “fertig”, bevor das gekaufte Zeitlimit erreicht wird

Die Cybersex-Community ist an vielen Orten der Spielwelt gleichzeitig zu finden – sie ist eine der ältesten Communities der Online-Spielwelt. Möchte man sie besuchen, lassen sich die meisten dieser Gemeinschaften mit einer Art Ingame-Suchmaschine ganz einfach über Keywords erreichen: Wer “escort” eintippt, findet schnell eine Auswahl an frei zugänglichen Nachtclubs, zu denen wir uns per Mausklick teleportieren können. Hier können die Freier – laut Klara überwiegend Männer – vorbeikommen und sich die blinkenden, flimmernden Anzeigenboards voller Körperteile ansehen oder direkt mit anwesenden Escorts ins Gespräch kommen. Daneben gibt es noch einige Geheimadressen: besonders prestigeträchtige und qualitative Escort-Oasen, deren Adressen nur ausgewählten Kreisen bekannt ist.

Im Herzen der Nachtclubs gibt es nicht selten die Möglichkeit, abseits der erotischen Gespräche kurzweilige Minispiele zu spielen. Oder in der Orgy Pit zu entspannen | Bild: Screenshot, Linden Lab

Der größte Unterschied zu Cybersex-Szenen, die wie in der übergriffigen “Rape Taverne” von World of Warcraft von Trollen geplagt werden: Persönliche Grenzen und Wünsche würden in Second Life ausnahmslos respektiert, Verstöße hingegen konsequent bestraft, erzählt uns Klara: “Jede Escort-Dame muss eine Escort-Karte besitzen, die sie potentiellen Kunden überreichen kann”, erklärt sie. Sie zeigt uns ihre Karte, eine simple Text-Datei, die wir direkt im Spiel aufrufen können: Dort sehen wir nicht nur Angebote und Preise, sondern auch Regeln, Safewords und erlaubte Aktionen des Freiers. Jedes Escort-Girl legt diese Details selbst fest. Und die Kunden respektierten diese Vorgaben fast ausnahmslos: “Sie wissen, dass ich ansonsten den Service einfach beende und sie stummschalte”, so Klara.

In ihrer Preisliste sind die Leistungen, die Klara anbietet, in fünf verschiedene Kategorien sortiert: Lap Dances ihres virtuellen Avatars, erotische Text-Chats, Gespräche mit eingeschaltetem Mikrofon, Webcam-Chats und eine Dienstleistung namens “Voyeurism”. Hierbei zahlen die Kunden dafür, dass Klara sie beobachtet, während sie am Rechner sitzen. Die Preise variieren dabei stark je nach Service: Eine Tanzeinlage ihres nackten virtuellen Avatars kostet den Freier zum Beispiel 800 Linden Dollars, die Ingame-Währung von Second Life. Umgerechnet sind das etwa drei Euro.

Wer dagegen einen intimen Chat mit Klara führen möchte, muss deutlich tiefer in den Geldbeutel greifen: Ein viertelstündiges Gespräch – wohlgemerkt nur schriftlich – kostet 7,50 Euro, eine ganze Stunde hingegen knapp 35 Euro. Wer Klara sechzig Minuten lang über ihre Webcam dabei zusehen darf, wie sie sich intim berührt, muss umgerechnet 60 Euro auf den Tisch legen. Das Geschäft lohnt sich: Nicht selten seien die männlichen Kunden schon “fertig”, bevor das gekaufte Zeitlimit erreicht wird, verrät uns Klara. Manchmal geht es aber auch gar nicht um Sex, einige Kunden suchen einfach nur das Gespräch mit ihr und erzählen von ihrem Leben. “Manche Männer sind einsam im Alltag und haben niemanden zum Reden, dann kommen sie zu mir”, erklärt Klara.

“Die Nachtclubs passen auf uns auf.” – Als Angestellte in Second Life

Besonders erstaunt hat uns während unserer Recherchen im erotischen Milieu von Second Life, wie gut organisiert und professionalisiert die Escort-Szene ist. Neben einigen Escorts, die selbstständig und als ihr eigener Chef arbeiten, sind die meisten von ihnen “Angestellte” eines “Clubs”. Die Clubs lassen sich am ehesten mit Nachtclubs vergleichen: Verwaltet von Chefs und Assistenten lässt ein solcher Laden Escort-Damen für sich arbeiten. Von diesem Verhältnis profitieren beide Parteien: Während der Club einen Prozentteil der Einnahmen ihrer Angestellten einstreicht und mit diesem Geld unter anderem die Mietkosten des Servers, “Landkosten”, bezahlt, stehen die Escort-Damen unter dem besonderen Schutz ihres Clubs. Die Angestellten bekommen Einsicht in eine Art “schwarze Liste”, auf denen alle Kunden stehen, die sich in der Vergangenheit schlecht verhalten haben und nun nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr bedient werden.

Tänzerinnen warten auf interessierte Kunden | Bild: Screenshot Second Life

Auch Klara arbeitet als Angestellte in einem dieser Clubs und hat darüber nur Gutes darüber zu berichten: “Rund um die Uhr ist eine Managerin online. Wenn irgendetwas passiert, können wir in Sekunden jemanden in den Chat oder die Show dazuholen. Ganz egal, was ist, ob der Kunde zu betrunken ist, uns über Mikrofon anschreit oder einfach nur ‘Gratis-Sex’ will.” Die Managerin verbannt dann den Kunden aus dem Club, der den Server anschließend nicht mehr betreten kann.

Auch die Privatsphäre der Escort-Damen versuchen die Manager so gut sie können zu schützen. So durften wir während unserer Besuche in den meisten Clubs keine Screenshots anfertigen, die die Angestellten oder ihre Anzeigenboards abbilden. Auch unsere Bitte um ein Interview mit den Club-Besitzern wurde verneint. Jedes Mitglied dieser Rollenspiel-Community entscheidet zu jedem Zeitpunkt selbst, wie viele Informationen sie über sich selbst preisgeben will – und diese Regel kennt keine Ausnahme.

Faire Bezahlung, Schutz der Privatsphäre und flache Hierarchien: Klara fühlt sich wohl im Club

Neben dem Schutz durch die Clubs gibt es aber noch weitere Vorsichtsmaßnahmen, die den Escorts möglichst sichere und angenehme Arbeitsbedingungen garantieren sollen. So können einige Server nicht von Spielern betreten werden, die erst seit kurzer Zeit in Second Life angemeldet sind. Während unseres Rundgangs wurde unser frisch erstellter Avatar immer wieder ausgesperrt, wenn er einige der bekanntesten Clubs des Spiels besuchen wollte. Mit dieser Regelung soll verhindert werden, dass Spieler, die auf einer “schwarzen Liste” stehen, sich einfach neu anmelden und direkt wieder in einem Club auftauchen.

Wer hinter diesen virtuellen Nachtclubs schmierige Bordell-Strukturen vermutet hat, der könnte sich nicht mehr irren: Zwischen Chefs und Angestellten wird ein freundlicher, respektvoller Ton gepflegt, es gibt flexible Arbeitszeiten, faire Bezahlungen und flache Hierarchien, so Klara. Für unseren Tour-Guide funktioniert dieses Arrangement sehr gut. Sie tritt derzeit etwas kürzer und arbeitet etwa drei bis vier Stunden die Woche. Damit kann sie sich neben dem Studium ein kleines Taschengeld im zweistelligen Bereich verdienen. Am liebsten ist sie dabei um die Mittagszeit herum aktiv: “Zwischen 12 und 14 Uhr sind die meisten Männer in den Clubs und suchen nach Frauen, die gut in ihre Mittagspause passen”, erklärt Klara.

Schließlich besuchen wir noch die Community von Hogwarts, die ihr virtuelles Rollenspiel nicht minder ernst nimmt. Jeder Spieler muss Stundenpläne anfertigen, den Unterricht besuchen und Hausaufgaben machen | Bild: Screenshot, Linden Lab

Zu den Hausaufgaben zurück nach Hogwarts: kein Widerspruch in Second Life

Ist Second Life inzwischen also nur noch eine Kontaktbörse für Cam-Girls? Nicht ganz. Nach unserer Tour durch die Nachtclubs will uns Klara ihren anderen liebsten Ort im Spiel zeigen: Hogwarts. Hier verstehen wir das ganze Potential, das die Entwickler Linden in ihrem Projekt gesehen haben müssen. Eine Reihe von Spielern hat vor Jahren das berühmte Zaubererschloss aus Harry Potter samt angrenzendem Dorf Hogsmeade nachgebaut und sogar Läden eingerichtet, in denen Getränke und Snacks verkauft werden.

Klara hat inzwischen ihren Avatar gewechselt und führt uns als junge Hufflepuff-Schülerin durch die Gänge des virtuellen Dorfes: “Am Wochenende erlauben uns die Lehrer, hierher zu kommen und im Honigtopf Butterbier zu trinken!”, ruft sie mir begeistert entgegen, bevor sie in einem der Läden verschwindet und herzlich von den übrigen Rollenspielern begrüßt wird. Als wir einige Tage später ohne Klara noch einmal nach Hogwarts zurückkehren wollen, um den Unterricht im Schloss einmal persönlich anzusehen, werden wir allerdings an der Tür von einem Ravenclaw-Schüler abgewiesen: “Kein Schülerausweis, kein Eintritt.”

Auch das ist Second Life: Das Wechseln zwischen vermeintlich völlig gegensätzlichen Charakteren und Welten passiert hier so mühelos wie ein Zaubertrick. Und die exklusivsten Clubs sind bei weitem nicht immer die verruchtesten.

*Name von der Redaktion geändert