Wie man ein untergehendes Land regiert


Illustrationen von Kevin Vq Dam

Aus der Up in Flames Issue

Der Staat Kiribati (sprich: Kiribas) umfasst 33 Atolle mitten im Pazifischen Ozean. Die Inseln sind winzig und liegen weit voneinander entfernt, aber das Gesamtterritorium des Landes, inklusive der Küstengewässer, hat die Größe Indiens. Nun ist der wenige feste Boden des Inselstaats allerdings dabei zu verschwinden: Kiribati hat die zweifelhafte Ehre, eines der ersten Länder zu sein, das vom ansteigenden Meeresspiegel verschluckt werden wird.

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So etwas ist in Kiribati bereits einmal geschehen, doch in viel kleinerem Maßstab. Vor mehr als 50 Jahren, als das Land noch unter britischer Herrschaft stand und der Großteil davon den Namen Gilbertinseln trug, veranlassten Dürre und Umweltkatastrophen die Kolonialisten dazu, Hunderte von Einwohnern nach Gizo umzusiedeln, eine Insel der benachbarten Salomonen. Dort integrierten sie sich nach und nach in die einheimische Bevölkerung.

Das war 1954. Im Oktober 2015 reiste der Präsident von Kiribati, Anote Tong, nach Gizo. Sein Büro sagte, es sei der erste Besuch eines kiribatischen Präsidenten bei der vergessenen Flüchtlingsgemeinde. Oberflächlich gesehen war es ein fröhlicher Besuch: Tong spazierte durch den Hauptmarkt von Gizo und schüttelte Hände. Manche kannten ihn aus dem Fernsehen, andere wussten nicht, wer er war, und wieder andere sprachen kaum dieselbe Sprache. Doch die Reise hatte in Wirklichkeit einen sehr düsteren Hintergrund.

Bei anhaltendem Klimawandel könnten manche der kiribatischen Inseln bereits zum Ende des Jahrhunderts verschwunden sein. Szenen wie bei Tongs Gizo-Reise kann man sich leicht für die Zukunft vorstellen: Ein Präsident besucht seine weit verstreuten Landsleute, die gezwungen waren, aus ihrer Heimat zu flüchten.

Tong wurde 2003 zum Präsidenten gewählt und wird seine Amtszeit nächstes Jahr beenden. Er ist braun gebrannt mit weiß meliertem Haar und einem passenden Schnauzer. Für einen Mann an der vordersten Front der Umweltapokalypse ist er entspannt und gut aufgelegt. Zwar vertritt er eine der kleinsten und ärmsten Nationen der Erde (es hat knapp über 100.000 Einwohner und das Bruttosozialprodukt belegt weltweit den 193. Platz), doch Tong ist zu einem der leidenschaftlichsten Kämpfer für eine starke Klimapolitik geworden. Aus gutem Grund: Das Land, das er zwölf Jahre lang regiert hat, droht zu verschwinden.

„Die Daten lassen kaum Zweifel zu”, sagte mir Tong. Er sagte, bereits seit die Vereinten Nationen ihren vierten großen Klimabericht veröffentlicht hätten, versuche er Aufmerksamkeit auf das Problem zu lenken. „Dieser Bericht erschien 2007 und zeigte deutlich die Dringlichkeit des Problems”, sagte er. „Vor allem für uns in den tiefliegenden Inselnationen. Laut den Szenarien des Berichts gehen wir noch dieses Jahrhundert unter.”

Die Dringlichkeit und Eloquenz seiner Appelle und die grausame Realität, die sie beschreiben, haben ihm international viel Gehör verschafft. Tong ist in der UN so etwas wie das Aushängeschild der Meeresschützer und eine mächtige Stimme in der Klimadiskussion. Als er letztes Jahr bei einem CNN-Auftritt nach der Zukunft seines Volks gefragt wurde, antwortete er unverblümt: „Für uns ist es zu spät.”

Kiribatis Schicksal kann man als einen seltenen Blick in die Zukunft einer Welt im Klimawandel betrachten. Die winzige Inselnation ist eine Art globaler Hochwasseranzeiger und wird die Folgen der Erderwärmung intensiver und früher als alle anderen zu spüren bekommen.

„Wir können so nicht weitermachen”, sagte Tong. „Heute sind wir vielleicht an vorderster Front, aber es wird als Nächstes andere Länder treffen.”

Im Oktober lud die Innovations-Organisation TED Tong als Ehrengast zu einer Expeditionskonferenz an Bord der National Geographic Orion ein. Bei seinem Vortrag über die Krise seines Landes waren ein paar Dutzend Meeresforscher, millionenschwere Investoren und Prominente zugegen. Er sprach unter anderem über die Prognosen für den Anstieg der Meere.

„Natürlich wurden die Prognosen inzwischen angepasst”, sagte er mir. „Nicht zu unseren Gunsten, sondern nun heißt es, es wird alles noch schneller gehen.” Es gehe nicht mehr um Jahrhunderte, sagte er. „Es sind Jahrzehnte.”

Er hat wahrscheinlich recht.


KIRIBATIS RETTUNG
Um über dem Meeresspiegel zu bleiben, hat die kiribatische Regierung ein schwimmendes Ökosystem im Wert von 2 Milliarden Dollar vorgeschlagen.

Es ist schwer, genau vorherzusagen, wie weit der Meeresspiegel in den nächsten Jahren ansteigen wird, doch weltweit sind sich die Forscher einig, dass es passieren wird. Es gibt zwei Hauptgründe: Die Ozeane nehmen die überschüssige Wärme des Klimawandels auf, vielleicht bis zu 90 Prozent. Bei der Erwärmung kommt es zu einer Ausdehnung der Meere, also steigen sie an. Außerdem läuft schmelzendes Landeis, vor allem in der Arktis, wo Grönland erschreckend schnell auftaut, in die Meere. Gletscherschmelzen und Schwankungen des Grundwasserpegels sind ebenfalls Faktoren, doch die Ausdehnung der Meere und die Polarschmelze sind die wichtigsten.

Aufgrund dieser beiden Phänomene werden die Meeresspiegel dieses Jahrhundert deutlich ansteigen. Vorsichtige Schätzungen liegen bei nur etwa 30 Zentimetern, doch das Worst-Case-Szenario sind 1,80 Meter und mehr. (New York bereitet sich aktuell auf einen Anstieg dieser Höhe innerhalb der nächsten 75 Jahre vor.) Der Pegel könnte mehr oder weniger ansteigen, je nachdem wie viel Kohlenstoff die Menschheit in die Atmosphäre pumpt und wie weit sich folglich die Ozeane erwärmen und die Pole schmelzen.

Doch selbst die optimistischsten Schätzungen bedeuten große Probleme für Tongs Heimatland. Kiribati liegt durchschnittlich nur zwei Meter über Normalnull, und viele bewohnte Teile der Inseln liegen deutlich tiefer.

Für die große Mehrheit der Kiribaten wird es bei einer Flut keinen Zufluchtsort geben. Zu sagen, der Klimawandel klopfe in Kiribati an die Tür, wäre eine Untertreibung: Er ruiniert bei vielen Insulanern bereits den Wohnzimmerteppich. Heftige Stürme und langsam steigende Wasserpegel verursachen in dem Land große Schäden. Es ist natürlich unmöglich zu sagen, ob ein bestimmter Sturm vom Klimawandel verursacht wurde, doch Kiribati wurde dieses Jahr zum ersten Mal von einem Taifun heimgesucht und Forscher sagen, dies sei bei weiter steigenden Temperaturen häufiger zu erwarten.

Tong zählte die extremen Wetterphänomene auf, die sein Land verwüsten: „Küstenerosion”, sagte er. „Wir haben Überschwemmungen wie nie zuvor. Dieses Jahr hatten wir einen Zyklon oder den Randbereich eines Zyklons—etwas, womit wir es vorher nie zu tun hatten. Häuser werden einfach davongespült.”

Die Krise hat Kiribati diese Art von unglückseligen Meilensteinen in Serie beschert. Es ist das erste Land, das im Ausland Grundbesitz kauft, um ein Zuhause für zukünftige Flüchtlinge zu sichern—Tongs Regierung hat 24 Quadratkilometer in Fidschi gekauft und laut dem dortigen Präsidenten werden die Flüchtlinge dort willkommen sein. Ein Bürger Kiribatis war auch der erste Mensch, der jemals aufgrund des Klimawandels Asyl beantragt hat—doch er wurde von Neuseeland abgelehnt.

Tong muss tun, was viele Staatschefs nicht tun: die mutigsten, gewagtesten Pläne in Erwägung ziehen, um den Kopf über Wasser zu halten.

„Unsere Regierung hat eine Strategie entwickelt, an die wir uns halten”, sagte Tong. Sie besteht im Grunde darin, zu tun, was auch immer nötig ist, um Kiribati vor dem Untergang zu bewahren.

„Im Moment ziehen wir dafür verschiedene Optionen in Betracht, darunter sogar künstliche Inseln—warum nicht?”

Diese Idee verfolgt er tatsächlich bereits seit Jahren, doch bisher mit wenig Erfolg. 2011 gab Tong einen 2-Milliarden-Dollar-Plan bekannt, den das Land mit dem großen japanischen Bauunternehmen Shimizu entwickelt hatte. Shimizus Blaupausen enthielten riesige, schwimmende Hightech-Ökosysteme. „Als ich die fertigen Modelle sah, dachte ich: ‚Wow, das ist ja Science-Fiction.’ Es könnte genauso gut auch im Weltall sein”, sagte Tong in jenem Jahr in einem Vortrag beim Pacific Islands Forum. „So modern, dass ich nicht weiß, ob unsere Leute dort leben könnten. Doch würden Sie es für Ihre Enkel tun? Wenn Sie kurz davor stünden, im Meer zu versinken, würden Sie dann auf eine solche Bohrinsel ziehen? Ich denke, die Antwort lautet ja. Uns gehen die Optionen aus, also ziehen wir alle in Betracht.”

Tong hat Ingenieure des US-Militärs, der Vereinigten Arabischen Emirate und der Niederlande darum gebeten, technische Lösungen beizusteuern. Doch das Hauptproblem sind fehlende Mittel, sagt er.

Kiribati ist arm. Es versucht verzweifelt, mit den Problemen zurechtzukommen, die reiche Nationen verursacht haben, denn diese sind für den Löwenanteil der Treibhausgas­emissionen verantwortlich. Philanthropen und wohlmeinende Funktionäre haben zwar große Rettungspläne vorgestellt, doch es wurden bisher kaum Mittel zur Verfügung gestellt, um solche Pläne umzusetzen.

„Haben wir überhaupt Rechte? Ohne rechtlich bindende Vereinbarung geschehen diese Dinge einfach ohne Diskussion, ohne Hilfe für die Leidtragenden, ohne Strafmaßnahmen oder Regeln für die Verantwortlichen”, klagte Tong.

Er bedauert, dass es keine umfassende, bindende internationale Vereinbarung gibt, die Länder oder Firmen in ihrem massiven Kohlenstoffausstoß einschränken. Länder wie die USA, China und Australien haben sich zu langsam oder gar nicht an der Diskussion beteiligt, weil sie befürchten, Einschränkungen der Verschmutzung durch Kohle, Öl und Gas könnten ihrer Wirtschaft schaden.

Letztes Jahr gab Tong bekannt, ein Meeresschutzgebiet von der Größe Kaliforniens in den Gewässern des Landes einzurichten und die Fischerei dort zu verbieten. Ein verzweifelter Versuch, mit gutem Beispiel voranzugehen: Die Entscheidung würde Kiribati Umsätze in Millionenhöhe kosten, doch es sollte zeigen, dass ein Land seine kurzfristigen Interessen dem Gemeinwohl unterordnen kann.

Das einzige Mal, dass ich Tong, einen Mann, der es gewöhnt ist, vom „Ende” zu sprechen, aufgebracht sah, war, als ich den US-Kongress erwähnte. Die einzige große Partei auf der Welt, die den Klimawandel schlichtweg leugnet, ist die Republikanische Partei in den USA. Ihre Obstruktionspolitik ist größtenteils dafür verantwortlich, dass keine nennenswerten CO2-Grenzwerte im Kongress festgelegt worden sind, obwohl das Problem seit den 1990ern bekannt ist. „Es macht mich extrem traurig, dass es so gekommen ist. Wir sprechen über Zivilisation und Menschenrechte … aber wir praktizieren diese Dinge nicht”, sagte er. „Die USA sind ein Land, das Menschenrechte predigt. Uns fragt man immer nach unserer Menschenrechtslage.” (Kiribati ist von internationalen Hilfsorganisationen und der US-Regierung kritisiert worden, hauptsächlich für das Versäumnis, die Menschenrechte von Frauen und Kindern hinreichend zu schützen.) „Hier sind wir: Dies ist die größte Menschenrechtsverletzung der Geschichte. Man nimmt uns die Zukunft. Unsere Existenz.”

Tong und Kiribati sind machtlos angesichts einer fast sicheren Katastrophe und eines ebenso unausweichlich scheinenden kulturellen Genozids.

Tong fürchtet um seine und andere Familien. Er selbst hat acht Kinder.

„Es ist schon losgegangen. Ich habe verschiedene Inseln besucht und es zeichnet sich ab, dass viele dort schon bald wegziehen müssen. Innerhalb von fünf Jahren schon, und es geht immer schneller.”

Auf einer versinkenden Insel gibt es nur begrenzt Platz. Irgendwann werden die Kiribaten emigrieren müssen. Auch in dieser Hinsicht steht Kiribati stellvertretend für alle Leidtragenden des Klimawandels. „Wenn wir die Emissionen nicht einschränken”, sagte er, „wird es Massenmigrationen geben, wie die Welt sie noch nie gesehen hat. Wir werden nicht die Einzigen sein.”

Auch damit hat er wahrscheinlich recht. Die aktuelle Forschung zeigt, dass es in weiten Teile von Nahost bis zum Ende des Jahrhunderts so heiß werden wird, dass der Aufenthalt im Freien über große Teile des Jahres unerträglich wird. Dürren plagen Regionen wie den Jemen, Brasilien und den Südwesten der USA. Der steigende Meeresspiegel setzt bevölkerungsreiche Länder wie Bangladesch unter Wasser. Viele dieser Umstände werden ein so extremes Ausmaß annehmen, dass Massenmigrationen so gut wie sicher sind—dabei fragt sich nur noch, wo und wann und wie viele Menschen betroffen sein werden. (Mehr) Leid und Konflikte werden zweifellos die Folge sein. (Gizo, wo die Nachfahren der kiribatischen Flüchtlinge zwar friedlich leben, nicht jedoch dieselben Eigentumsrechte haben wie die angestammten Einwohner, bietet auch in dieser Hinsicht eine Vorrausschau.)

Wie wir mit Kiribati umgehen, wird vielleicht als Wegweiser dafür dienen, wie wir künftig mit anderen gefährdeten Nationen und Kulturen verfahren.

„Ich habe den Klimawandel schon immer als die größte moralische Herausforderung der Menschheit bezeichnet”, sagte mir Tong. „Werden wir zum Kollateralschaden, bevor es eine effektive Reaktion gibt? Wir sehen uns als zivilisierte Menschen. Es wird sich zeigen, ob wir das wirklich sind.”