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Eine kleine Kulturgeschichte des Mundschutzes im japanischen Straßenbild

Für uns globale Wessis sind Atemschutzmasken meist mit Unheil konnotiert: Krankenhäuser, Operationen, Feinstaub oder das improvisierte Kostüm von Klopsi aus Wanne-Eickel für die Sauftour beim Kölner Karneval. Außerhalb dieser besonderen Umstände wirken Gazemasken für einen westeuropäischen Normalbürger im Alltag befremdlich und alarmierend.

Völlig anders ist es in Japan, wo die Mundschutzmasken längst nicht mehr aus dem Straßenbild wegzudenken sind. Gerne haben die masuku ( 伊達マスク ) auch Special Features, wie diverse Pollenfilter, Erdbeerduft oder eingebaute Atembefeuchter gegen die trockene Winterluft. Im vergangenen Jahrzehnt ist die Anzahl der Menschen, die sich hinter den ästhetisch fragwürdigen Einmal-Masken durch die Städte bewegen, noch einmal exponentiell angestiegen.

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Höfliche Krankheiten und ansteckende Epidemien

Sind die alle schwerkrank oder paranoid? Wieso ist das eigentlich so?

Die kurze Erklärung für die Allgegenwart der Masken ist ihre Schutzfunktion vor Pollen, Bakterien, Viren und unerwünschten Blicken. Dabei geht es weniger um die Angst vor einer Infektion als um den überaus höflichen Wunsch, andere nicht anstecken zu wollen. Wenn du also ein leichtes Kratzen im Hals spürst—Maske auf! Denn dass man sich einfach mal zwei Tage freinimmt, um seine Krankheit auszukurieren, ist im Workaholic-Land Japan sozial weitaus weniger akzeptiert als in Europa. Eine sehr rücksichtsvolle, respektvolle Maßnahme also, die aber nicht alles erklären kann. Das Phänomen ist nämlich keineswegs neu:

Schon zu Zeiten der großen Grippe-Pandemien 1918 und 1920 kennen die Japaner den Mundschutz von den abschreckenden Postern, die die Regierung aufhängen ließ: „Vorsicht vor Keimen! Sie riskieren Ihr Leben, wenn Sie keine Maske tragen!” Der Atemschutz bestand damals noch aus einem unbequemen Drahtkäfig, der mit Stoff verkleidet war und ursprünglich aus dem Einsatz in der Schwerindustrie stammte.

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Bild: Kitatama Pharmaceutical Association. Mit freundlicher Genehmigung

Nach dieser offiziellen Ansage vermehrten und diversifizierten sich die angebotenen Masken im Handel—insbesondere auch, weil die Grippe-Pandemie zu Beginn des 20. Jahrhunderts 390.000 Todesopfer in Japan forderte. Bei jedem weiteren Ausbruch stieg die Popularität der Atemschutzmasken.

Als die Regierung nach dem 2. Weltkrieg haufenweise Zedern im Land zur Wiederaufforstung pflanzte, löste das wiederum eine epidemische Pollenallergie aus. Seitdem wird der Mundschutz auch gegen Heuschnupfen getragen.

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Bilder: Kitatama Pharmaceutical Association. Mit freundlicher Genehmigung

Spätestens seit dem Auftreten von SARS und ähnlichen Epidemien, während derer in Tokio 2007 die Schulen vorübergehend schlossen, herrscht in Japan eine permanent erhöhte Wachsamkeit vor Tröpcheninfektionen. Die Angst vor der Ansteckung mit H1N1 trug zu großen Teilen zu der Verbreitung der Masken im Straßenbild bei—auch in anderen asiatischen Metropolen wie Bangkok oder Singapur.

Nach dem Vogelgrippe-Ausbruch in Asien 2006 versorgte die Stadtverwaltung in Hongkong 20.000 Haushalte mit einem Mundschtz-Päckchen. Drei Jahre später empfahl die WHO das Tragen von Masken als Prophylaxe gegen eine H1N1-Infektion in belebten öffentlichen Räumen ganz offiziell.

Atemmasken in China gegen den Feinstaub.

Atemmasken in China gegen den Feinstaub. Bild: Wikimedia Commons

Mit Mundschutz gegen Radioaktivität

Aber kann die Maske vielleicht sogar atomare Strahlung abhalten? Noch unter dem Schock der Fukushima-Katastrophe unterzog Professor Shogo Higaki am Isotopen-Zentrum der Universität Tokio die Allzweckwaffe hoffnungsvoll einer selbstlosen Untersuchung. Für 18 Stunden trug er laut Asahi Shimbun am 15. März 2011 eine gewöhnliche Pollen-Maske aus Vliesstoff und verglich den angesammelten Cäsiumgehalt auf der Maske mit dem Cäsiumgehalt auf Pollen, die frei in der Luft herumschwebten. Das Ergebnis: Tatsächlich hatte die Maske einen gewissen Schutz geboten. Das Cäsium wurde von der Maske komplett aufgefangen, das Einatmen von radioaktivem Jod wurde um ein Drittel gesenkt. Wie stark genau sich die Ansteckungsrate bei gewöhnlichen Krankheiten durch den Mundschutz senkt, ist nicht genau geklärt.

Aber wieso tragen so viele Japaner den Mundschutz auch Tag für Tag außerhalb der radioaktiv verseuchten Zone?

Zur kulturellen Erklärung dieses Phänomens kann uns der Kulturwissenschaftler Geert Hofstede weiterhelfen. In seinem 6D-Modell platziert er die meisten Länder der Erde auf einer Skala von 1 bis 100 in sechs verschiedenen Kulturdimensionen. Schauen wir uns hier die Dimension „Vermeidung von Unsicherheit” an. Sie beschreibt, inwiefern eine Kultur versucht, die Zukunft zu beeinflussen oder sie geschehen lässt. Mit einem Wert von 92 Punkten ist Japan das risikoscheuste Land auf dieser Erde. Die Gründe dafür, schreibt Hofstede, liegen zu einem Teil in der geographischen Anfälligkeit für Naturkatastrophen, aber auch in der zum Teil historisch begründeten Ritualisierung des Alltags.

„Die Japaner haben gelernt, sich auf jegliche unvorhergesehene Situation einzustellen. (…) Viele Aspekte an der japanischen Kultur laufen auf maximale Berechenbarkeit hinaus. Wie sich Menschen verhalten sollten, wird in großer Detailtiefe in Ettikette-Büchern beschrieben. Der Wunsch nach Risikominimierung ist einer der Gründe, weshalb Wandel in Japan so schwer zu realisieren ist”, schreibt Hofstede.

Japan ist das risikoscheuste Land der Welt.

Kombiniert mit einem ausgeprägten Kollektivismus, der die Japaner zur gegenseitigen Umsicht in der Öffentlichkeit motiviert, finden wir in öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln in Japan gern Verhaltenshinweise, die mit den Worten „Lasst uns alle…” beginnen. Lasst uns alle unsere Regenschirme vor der Straßenbahn ausschütteln. Lasst uns alle rechts die Treppe hochgehen. Rücksichtnahme auf andere bei infektiösen Erkrankung gehört in den dicht bevölkerten Städten da selbstverständlich dazu.

Mit den Schemata für Risikovermeidung wird auch beispielsweise für Waschmittel geworben: Achtung! Die Decke ihres Kindes ist voller schädlicher Bakterien—waschen sie diese deshalb mit Ariel (beziehungsweise Arieeru). Auch von kräftig gurgelnden Familien, die sich als Vorsichtsmaßnahme nach dem Einkaufen erstmal den Mund mit antibakterieller Mundspülung auswaschen, um auch wirklich jeden möglicherweise durch die Atemluft aufgenommenen Keim zu beseitigen, wird in Online-Expat-Foren in einer Mischung aus Bewunderung und bassem Erstaunen berichtet.

So weit, so rücksichtsvoll. Doch das Phänomen ist noch vielschichtiger, denn nicht jeder, der die Maske trägt, hat auch ein Kratzen im Hals. Im Gegenteil gibt es viele Menschen in Japan, die sich trotz bester Gesundheit hinter eine Maske aus den verschiedensten Gründen wohlerfühlen als ohne. Dafür gibt es auch einen speziellen Ausdruck: masuku date, das übersetzt ungefähr soviel bedeutet wie „Show-Maske”. Da die Maske Teil des Alltagsstraßenbildes ist, fallen die Träger nicht weiter auf.

Vollständige Alltagskontrolle dank Maske

Die japanische Wikipedia listet pragmatisch verschiedene mehr oder minder einleuchtende Vorteile für das Tragen einer masuku date auf, zum Beispiel:

  • Wer Pickel hat, kann sich einfach dahinter verstecken.
  • Wer einen zwiebeligen Braten gegessen hat, muss keine Angst mehr haben, unangenehm aus dem Mund zu riechen.
  • Wer sich nicht rasieren wollte oder konnte, kann die Stoppel unter der Maske verbergen
  • Nachts hilft die Maske, das Gesicht nicht auszutrocknen.
  • Sie hilft dem Träger, sein Gesicht zu bewahren, wenn der Ärger um die Mundwinkel zuckt.
  • Sie gibt dir ein generelles Gefühl der Sicherheit.

Eine kleine Impromptu-Umfrage der Zeitschrift Women Seven in einem belebten Einkaufszentrum im Tokioter Bezirk Shibuya ergab: 30 Prozent der befragten 100 Mundschutzträger trugen ihre Maske ganz ohne das geringste Kratzen im Hals einfach so—„weil ich mich gerade nicht so gerne unterhalten möchte”, war zum Beispiel ein genannter Grund. Oder auch: „Ich fühle mich nicht so dynamisch heute”. Es scheint also leichter, das Gesicht zu wahren, wenn man es nicht komplett zeigen muss.

Ganz besonders junge Japaner ziehen sich gern hinter die schützende Maske zurück, die durch ihre allgemeine Akzeptanz kaum auffällt. „Ich fühle mich damit irgendwie sicher”, erzählt ein 16-jähriger der Tageszeitung Asahi Shimbun.

Für dieses Phänomen gibt es auch Kritiker, wie Professor Hideki Wada von der Tokioter Universität für Gesundheit und Soziales: Echte Kommunikation, so schreibt er, werde durch durch die Verhüllung minimiert, „die Maske in der Öffentlichkeit ist ein Rückzugsort und ein Instrument der Selbstverteidigung.” Das wahre Motiv für das Tragen der Maske seien „Sozialphobie—Symptome, die eng mit der Angst vor dem Scheitern verwandt sind”, urteilt Professor Wada.

„Die hohe Akzeptanz besonders unter jungen Leuten ist auch dem Charakter der mobilen Kommunikation geschuldet. Gesichter und der Transport von Gefühlsausdrücken durch die Mimik sind kaum mehr notwendig in Zeiten von Telefon, SMS oder E-Mails. Unsere wahren Absichten werden in der Öffentlichkeit sowieso nicht gezeigt”, analysiert dagegen der Psychoanalyst Yohei Harada.

Gesichtstransformation und Schüchternheit

Ob nun gegen Pickel, Zwiebelgeruch, Infekte oder Bartstoppeln: Die Masken sind zu Einmal- und Alltagsprodukten geworden und haben sich dementsprechend in Design und Funktion diversifiziert. Es gibt sie in allen Farben des Regenbogens, mit Leopardenmuster, künstlichen Blutflecken und selbstverständlich mit zuckersüßem Hello Kitty-Print, um Abwechslung in die steril wirkende weiße Gaze zu bringen und Kinder für das Tragen zu begeistern. Manche riechen nach Eukalyptus oder Menthol, manche kommen in robusterer Ausführung für einige Krankheiten, wieder andere leuchten im Dunkeln.

Die Künstlerteam um Samira Boom hat aus dem Mundschutz Designmasken gemacht, die sie mit fotorealistischen Tierschnauzen bedruckt hat: „Die sehr steril aussehende weiße Gaze-Maske hat mich dazu inspiriert, etwas Fröhlicheres und Lustigeres zu entwickeln, das immer noch seinen Zweck erfüllt.” Damit verhüllen Masken das Gesicht nicht mehr, sondern transformieren es.

Je nach Anlass der passende Mundschutz.
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Bilder: Samira Boom. Mit freundlicher Genehmigung

Das Phänomen der chronischen Schüchternheit scheint sich sogar noch weit über die Grenzen der Selbstdarstellungssucht auf Youtube zu erstrecken: Eine Menge Mädchen (es scheinen nur Mädchen zu sein) tragen die Masken, während sie beispielsweise im seidenen Kimono auf einer E-Gitarre shredden oder im Babydoll-Kleid hopsend eine Tanzperformance zu fröhlichem J-Pop im Schlafzimmer abliefern. Mysteriös—besonders, da sich ganz offensichtlich niemand anderes im Raum befindet.

Da weder vom Kleiderschrank noch von der elektrischen Gitarre eine akute Infektionsgefahr ausgeht und auch Kameras bei aller Höflichkeit nicht krank werden können, bleibt uns nur, über die Motive zu spekulieren. Möglicherweise sind die Performerinnen einfach zu scheu, dem großen Publikum so „nackt” zu begegnen—es könnte aber auch sein, dass sie ihr Gesicht zum Teil verhüllen wollen, um nicht von ihren Fähigkeiten abzulenken.

Apropos Ablenkung: Muss ich noch erwähnen, dass es selbstverständlich zum Phänomen der Masken auch auch den passenden Fetisch gibt? Auf Youtube gibt es zum Beispiel halbstündige Compilations mit Frauen in allen Lebenslagen, die sich langsam eine OP-Maske auf- oder abziehen. Komplett mit Kommentaren wie „Du machst mich so glücklich!!! Bitte nimm das nächste Mal eine blassgrüne und geh damit auf die Straße!!!!!” Nichts leichter als das: Als Instant-Therapie möchten wir dem sehnsüchtigen Kommentator für den Anfang einen kleinen Urlaub in Tokio empfehlen.