Vor mir steht ein Vodka Orange. Ist lange her, dass ich das getrunken habe und vielleicht hab ich den Drink auch deswegen bestellt. Weil mich der Geschmack an früher erinnert, an die Zeit, als wir uns noch ganze Flaschen Fusel gekauft haben am Bahnhof, weil das Konzertticket alleine unser Budget eigentlich schon überstrapazierte. Fippu kommt vom Klo zurück und fragt mich: „Willst du auch ein Schnitzelbrot. Ich hab grad verdammt Hunger.” Ich lache. Genau so hatte ich mir das vorgestellt.
Ich sitze in einer Bar in jenem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, in dem ich mir meine erste Platzwunde an der Stirn holte, in dem ich mich das erste Mal verliebte und bald darauf zum ersten Mal sitzen gelassen wurde, in dem ich das erste Mal um mein Leben rannte, weil mich eine stämmige Mitschülerin verprügeln wollte (ich war eines dieser schmächtigen Kinder, mit denen die meisten Menschen Mitleid haben, aber eben leider nur die meisten).
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Wo ich aufwuchs? Auf dem Land. Beziehungsweise im Lagerhäuser-Land, im Mittelland. In einem Dorf, das zerschnitten ist von einer Hauptstrasse, dessen Bahnhof zwei Gleise hat, eines für die Züge in die eine, eines für die Züge in die andere Richtung. In einem Dorf, das gar nicht so weit weg ist von der nächsten Stadt und noch weniger weit weg von der nächsten Autobahnausfahrt, aber halt eben doch Peripherie, eben doch einfach ein Dorf an der Seitenlinie des Weltgeschehens.
Eigentlich trennt mein heutiger Wohnort und dieses Dorf bloss eine Viertelstunde Anreise. Trotzdem gehe ich selten hin. Weil Leute, die nicht in solchen Dörfern wohnen oder arbeiten wenig Grund dazu haben—ausser um zu Wandern vielleicht und nichts liegt mir ferner. Ich gehe meine Eltern besuchen und meine Grossmutter, im Februar gehen wir zusammen an die Fasnacht und im Spätsommer an die Kilbi, mehr Interaktion findet zwischen dem Dorf und mir nicht mehr statt.
Jetzt sitze ich aber wieder mittendrin im Zentrum dieses Mikrokosmos—also in der Bar, die am längsten geöffnet hat. Und die lange Zeit überhaupt der einzige Ort war, in dem sich sowas wie Nachtleben im Dorf abspielte (von Einzelveranstaltungen wie der Turnerunterhaltung oder dem 1. Mai-Fest, an denen blauweisse Festzelte und klapprige Festbänke aufgestellt werden, mal abgesehen). Kam ich mit dem letzten Zug um 00:45 Uhr aus dem Ausgang in der Stadt, wo ich mit meinen „neuen” Freunden aus der Kanti gefeiert hatte, traf ich am Bahnhof auf „alte” Freunde und wurde regelmässig von ihnen hierhin mitgeschleppt.
Philipp war einer von ihnen, heute hatte ich ihn gefragt, ob wir wieder mal Eins trinken gehen, der alten Zeiten wegen. Tatsächlich klatschten mir diese alten Zeiten mitten ins Gesicht kaum waren wir vor dem Spunten angekommen. Die sandgelbe Fassade nur etwas vergilbter und gleichzeitig als damals, die kleinen, quadratischen Fenster immer noch nach aussen hin abgeschottet—es will ja auch niemand von der Dorf-Tratschtante dabei gesehen werden, wie er sich das Licht ausschiesst und dabei eine Zigarette nach der anderen anzündet.
Denn auch das hat sich nicht geändert: Hier darf drinnen noch geraucht werden. Nicht, weil es das Gesetz erlaubt, sondern vielmehr, weil das Motto „Wo kein Kläger ist, ist auch keine Klage” noch als juristische Grundregel gewertet wird. Oder wie es der Barkeeper formuliert, den ich darauf anspreche, als wir unsere ersten zwei Stangen bestellen: „Muss ja niemand hierher kommen, wenn’s ihm nicht passt.” Ich frage mich ob er dasselbe auch in einer Diskussion über Hochdeutsch sprechende Deutsche oder Burkas tragende Musliminnen sagt.
Wir setzen uns an einen Tisch an der Wand, ich mich auf den grauen, leicht marmorierten Kunstlederüberzug der Bank, um mir die Szenerie anschauen zu können. Es ist 23:30 Uhr und das Dutzend Menschen, das da ist, steht vor allem um die Bar herum, wohl auch, weil es in diesem Bereich dunkler ist, als bei den Tischen.
Ich verkneife mir eine Bemerkung, schlucke mein Nörgeln zuerst mit einem Bier für 4, später mit dem Wodka Orange für 11 Franken herunter. Ich halte mich normalerweise für relativ zufrieden und bescheiden, aber hier fühle ich mich snobby; Weil ich lieber keinen Gordons Gin trinke, weil ich an einem lauen Sommerabend einen Lillet Vive mit Minze, Erdbeere und Gurkenscheibe einem Apérol Spritz vorziehe, weil ich in meinem Leben noch nie ein Eve Litschi, ein Bacardi Breezer Mango oder sonstwas Vorgemischtes getrunken habe.
„Warum gehen Menschen in den Ausgang?”, frage ich mich. In einer Studie hab ich mal gelesen, dass „Freunde treffen” die meistgenannte Antwort darauf ist. Braucht es dafür teure Spirituosen und fancy Drinks? Braucht es dazu den angesagtesten Club, für den man in einer Schlange anstehen muss und eventuell gar nicht reinkommt und wenn doch, 25 Franken Eintritt zahlen muss für zwei DJ’s, die mittlerweile auch nichts anderes mehr machen, als im richtigen Moment auf den Play-Knopf zu drücken?
Diese Nachtleben-Rituale spart man sich hier, aber dafür läuft Schlager —mich überkommt ein leichtes Ekelgefühl. Die Leute aber tanzen dazu und ich werde etwas neidisch. Neidisch darauf, dass sie das einfach können. Entweder weil sie schon genug intus haben oder weil es ihnen einfach egal ist, was andere gerade über sie denken. Neidisch auf die zwei Mädchen und zwei Jungs, die heute Nacht vielleicht nicht alleine ins Bett gehen und die dafür wohl kein Tinder benötigt haben.
Als ich Tim, als Teil einer siebenköpfigen Gruppe hereinkommen sehe, freue ich mich ehrlich. Ich kenne ihn noch länger als Phippu, in einer Kiste in einem Schrank bei meinen Eltern liegt wahrscheinlich noch das Foto von uns am ersten Schultag. Weil er ängstlicher war als ich, schaut er auf diesem Bild etwas gequält—und er tut es jetzt noch irgendwie. Er trägt unförmige Blue Jeans und einen rostroten Pullover. Er sieht aus, wie ich mir den typischen CVP- oder BDP-Wähler vorstelle.
Wir begrüssen uns. Er hat einen überraschend festen Händedruck. „Wie geht’s?”, frage ich. „Gut”, versichert er, sie hätten gerade Generalversammlung vom Turnverein gehabt. Er fragt mich dasselbe, ich sage ebenfalls ja und hänge ein „Immer viel zu tun. Die Bar, das Schreiben, du weisst schon.” Ob es gut laufe, fragt er. „Es reicht”, sage ich. Eine Frau in meinem Alter, die mir von früher auch bekannt vorkommt, bringt ihm ein Bier. Ich frage nicht nach ihrem Namen. Stattdessen stossen wir miteinander an und die beiden gehen zurück zu ihrer Gruppe.
„Die beiden sind verlobt”, erklärt mir Phippu, als wir wieder alleine sind. „Ach schön”, sage ich und mein das auch wirklich. Ich schau den beiden zu, wie sie nebeneinander stehen und mit sich, der Welt und ihren Turnerfreunden zufrieden zu sein scheinen, und stell mir ihre Geschichte vor: Sie ist vielleicht zwei Jahre unter ihm in die Oberstufe gegangen. Vielleicht war der Kumpel von ihm mal mit einer Freundin von ihr zusammen. Auf jeden Fall begegneten sie sich immer wieder mal. An Dorffesten oder Geburtstagspartys. Irgendwann besorgte er sich ihre Nummer, begann ihr zu schreiben, ganz offen und ehrlich, ob sie mal was zusammen trinken gehen wollen. Dafür gingen sie in die Stadt, weil ein bisschen Anonymität dem Näherkommen förderlich ist und dann auf dem Heimweg gab es, etwas aufgeregt, den ersten Kuss.
“Ob das die grosse Liebe ist?”, frag ich mich. Als prätentiöser Teenager, der sein Dorf Richtung Kanti und dann Uni verlassen hatte, hätte ich vehement verneint. “Man nimmt, was man kriegen kann”, hätte ich gesagt, “was seine Lebenswelt einem bietet und das ist hier das Mädchen nebenan.”
Heute glaub ich das zwar immer noch, frage mich aber gleichzeitig: Ist das bei mir anders, nur weil ich in einer Stadt lebe? Weil ich wöchentlich in Zürich bin, in Basel und sonstwo? Nur weil ich glaube, cooler zu sein, mehr Ahnung zu haben, was abgeht, weiss, welche Band gerade gehört wird und warum ich persönlich sie nicht ausstehen kann? Nur, weil ich normalerweise Negronis trinke anstatt Wodka-O? Mir wird bewusst: Das Dorf ist die älteste, die natürlichste Blase der Welt. Ich lebe mittlerweile einfach in einer anderen.
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