Dieser Artikel ist zuerst bei THUMP US erschienen
“Natürlich sind wir Feministinnen. Wir sind Mädchen und wir wollen respektiert werden. Aber wir wollen nicht, dass andere das in diese Richtung drehen: ‘Oh, das sind alles Mädels. Das ist gerade total trendy!’”, sagt Pauline Ferrandiz und schaut von ihrer Portion gebratenem Schweinefleisch mit Klebreiskuchen auf. Es ist ein Nachmittag Ende März und ich sitze mit dem DJ-Kollektiv These Girls Are on Fiyah (TGAF) zum Mittagessen im chinesischen Restaurant Mian Guan im Pariser Bezirk Belleville. Neben Ferrandiz, besser bekannt unter ihrem Bühnenahmen DJ Ouai, gehören Aurore Dexmier (AKA Miley Serious), Nina Orliange (AKA Carin Kelly) und Marylou Mayniel (AKA Oklou) mit zu der Gruppe. Das chinesische Restaurant ist eins von TGAFs Stammlokalen. Sie sind hier so oft, dass sie es nur noch liebevoll “#46” nennen – nach ihrem Lieblingsgericht, das sie bevorzugt zwischen ihren Sessions im Studio essen, das nur ein paar Blöcke von hier entfernt ist.
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Heute sind TGAF ein Motor der neuen Pariser Clubszene – sie spielen Shows in der ganzen Stadt, haben eine Sendung im Lokalradio und machen Mixe für BBC One. Entstanden ist das Kollektiv aber fast durch einen Zufall. 2015 war Mayniel vom französischen Internetradio PIIAF für einen Gastmix eingeladen worden. Sie durfte dafür ein paar Freunde mitbringen, also nahm sie Dexmier, Orliange und Ferrandiz mit, die sich damals nur oberflächlich kannten. Auch wenn die Freundinnen ursprünglich nur für die moralische Unterstützung dabei waren, sprangen die anderen Mädchen schließlich auch hinter die Mixer. Die Chemie der Gruppe und ihr breitgefächerter Musikgeschmack war dermaßen elektrisierend, dass der Gruppe schon bald ihre eigene Sendung angeboten wurde. Heute senden TGAF jeden Sonntag eine Stunde Pop, experimentelle Musik und House auf PIIAF.
TGAFs Aufstieg über die letzten Jahre geschah parallel zu der neusten Evolution der Pariser Underground-Partyszene, die den inkludierenden DIY-Geist der 90er nach Jahren der restriktiven und versteiften Clubkultur wieder aufleben ließ. “Die Partys, die diesen Geist [der Inklusion] als Bestes repräsentieren, werden größtenteils von LGBTQ-Gruppen veranstaltet. Das ist eine Tatsache”, sagt Mayniel. TGAF erwähnen Partys wie ParkingStone und I’ve Seen the Future als vorbildliche Beispiele für Veranstaltungen, die verschiedenste Menschen willkommen heißen und musikalisch abwechslungsreich sind.
Im Laufe der Zeit hat das Pariser Nachtleben bereits die verschiedensten Formen angenommen. Während der Belle Époque machte sich die Stadt einen Namen als Zentrum des freien Ausdrucks. In den 90ern brachte sie den French-House-Sound mit Acts wie Daft Punk und eine lebendige Szene mit Underground-Raves und Clubs wie Le Palace und Rex hervor. In den frühen 2000ern kam die Szene aufgrund von strengen Lärmschutzbeschränkungen, begrenzten Öffnungszeiten und der grassierenden Gentrifizierung allerdings fast komplett zum Erliegen und verdiente sich bei der frustrierten Clubgemeinschaft den zweifelhaften Ruhm als “Europäische Hauptstadt des Schlafs”. Das alles gipfelte Ende der 2000er darin, dass eine Gruppe Veranstalter, DJs und Clubbesitzer begann, sich für eine Überarbeitung der restriktiven Auflagen einzusetzen, die die Clubkultur der französischen Hauptstadt zu ersticken drohte. Gemeinsam mit der Lokalregierung etablierte man das Amt des Nacht-Bürgermeisters, das sicherstellen soll, dass das Pariser Nachtleben für alle Beteiligten sicher und unterhaltsam gestaltet wird. Im März diesen Jahres wurden diese Bemühungen belohnt, das Concrete erhielt als erster Club wieder eine 24-Stunden-Lizenz.
Heute bewegt sich die dortige Partyszene zunehmend von Clubs mit strenger Kleiderordnung weg. Stattdessen gewinnt in der ganzen Stadt eine musikalisch und kulturell abwechslungsreichere Szene die Überhand, in der Menschen in Sneakern zu experimentellen Tracks aus aller Welt tanzen. “Wir mögen Clubs, in denen unterschiedliche Musik miteinander gemischt wird. Das können Dancehall, R’n’B, House, Techno und verschiedenste afrikanische Rhythmen sein. Was Besseres können wir uns nicht vorstellen”, beschreibt Mayniel TGAFs Vorstellung von einer guten Party. Auch wenn keine Szene perfekt ist, werden die Clubs allmählich sicherere Orte für People Of Colour, Frauen und die LGBTQ-Gemeinschaft. Diese Entwicklung führt die TGAF-Crew auf Internet-Communities zurück, die es Menschen erlauben Belästigungen und Diskriminierungen zu besprechen, ohne sich auf die oftmals unzuverlässigen Möglichkeiten verlassen zu müssen, die Veranstalter und Clubs für solche Probleme bereitstellen.
Die neuentdeckte Diversität des Pariser Nachtlebens erlaubt auch TGAF gewisse Freiheiten – fast per Zufall ein DJ Kollektiv zu gründen, gleichermaßen Chartsmusik und obskure Produzenten gut zu finden und sich auf Musik anstatt Pronomen zu konzentrieren.
Als wir unser Mittagessen beendet haben, macht die TGAF-Crew mit mir eine Tour durch die geschäftigen Straßen des sonntäglichen Paris zu allen Eckpfeilern der neuen Partyszene.
1. La Java
Aurore Dexmier: Es ist cool, weil es ein altes Pariser Gebäude mit moderner Kunst ist. Es gibt zwei Treppenhäuser und diese großen Fenster. Es ist ein großer Raum und es kann sehr voll darin werden. Bevor der Clubbetrieb dort losgeht, veranstalten sie dort Konzerte. Und wenn du dort spielst, ist der Bass richtig schön, weil es ziemlich spacig ist. Musikalisch sind die sehr offen. Du bekommst dort Techno, House und …
Nina Orliange: Aber du kannst dort auch zu Latino Partys gehen und zu Flamenco tanzen. Es ist wirklich etwas komisch, weil der Club in Reiseführern steht und dadurch ein Haufen unterschiedlicher Leute dort hingeht. Ich verstehe das Publikum hier nie wirklich.
Pauline Ferrandiz: Manchmal kommen die Leute, weil sie einfach nur feiern wollen. Manchmal sind sie in der Gegend und haben den Club gesehen. Es ist billig und die Stimmung ist gut. Du kannst auf der Couch abhängen oder tanzen – und du kommst mit Sneakern rein oder betrunken.
Marlyou Mayniel: Wir interessieren uns für DJs und Partys, nicht für Clubs. Wir haben den Club entdeckt, weil Bye Bye Ocean hier veranstaltet wird. Aber es ist anders als andere Clubs, weil La Java bereits eine etablierte Reputation hat und ein altgedienter Club im Stadtzentrum ist. Es ist also etwas schwieriger das Vertrauen des Besitzers zu gewinnen.
2. PIIAF Radio
Dexmier: PIIAF ist ein Internetradio wie Rinse oder so. Es ist ein privates Radio, also arbeiten sie hart daran, ihre Slots gut auszunutzen – und sie haben verdammt gute Intentionen. Sie sind Teil einer ganz anderen Szene als wir und hören andere Musik. Deswegen sind sie auch so interessiert an unserer Show.
Ferrandiz: Es ist sehr eklektisch und es gibt einen Haufen Talk-Shows, wodurch es sich von vielen anderen Onlineradios unterscheidet, die ich höre, wie NTS, Rinse und Radar. Es gibt auch Autoren und Journalisten, die dort Sendungen machen. Es ist mehr als ein reines Musikradio, sie bieten den Hörern viele verschiedene Themen.
Dexmer: PIIAF mögen uns, weil wir so entspannt sind. Es ist, als würdest du deinen Freundinnen im Radio zuhören. Manchmal reden wir nur darüber, was die Nacht davor auf der Party passiert ist. Das grenzt manchmal schon an Gossip. Es ist wie eine Pyjamaparty, nur im Radio. Wir verstecken nicht, dass wir früher vor allem Pop gehört haben. Alle reden über die Sendung, die wir über Justin Bieber gemacht haben. Nur weil wir vier Mädels in dieser Art von Underground-Szene sind, heißt das nicht, dass wir nicht über seine Genialität sprechen können.
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Orliange: Wir wollen Dinge für andere entdecken. Es geht darum, alles zu teilen.
Ferrandiz: Wir wollen nicht unnahbar sein. Ja, wir kennen Sachen, aber wir kennen nicht alles und wir wollen auch nicht, dass die Leute denken, dass wir alles kennen würden. Wir sind keine Musikhistorikerinnen oder so.
Orliange: Aber wir geben uns schon Mühe. Wir hängen nicht einfach ab und sagen “Oh, das hier mag ich” und am Ende ergibt nichts Sinn. Wir tun unser Bestes, über die Musik zu reflektieren und über das, was sie repräsentiert.
3. Le DOC
Marylou Mayniel: Das Gebäude ist eine alte Schule. Es ist also riesig und hat viele Räume. Es wurde vor zwei Jahren von ein paar Typen entdeckt, die so eine Art Besetzungsexperten sind [lacht]. Die haben einen Verein namens DOC gegründet und nach Künstlern und Crews gesucht, die den Laden in Beschlag nehmen. Ich habe mich mit zwei Freundinnen dafür beworben, einen Musikraum zu machen. Wir haben den Keller bekommen, da kann man wunderbar Krach machen. Für TGAF ist es ein sicherer Ort, an dem wir Auflegen üben können, wann immer wir wollen. Oder wir treffen uns einfach und machen Musik.
4. Le Chinois
Mayniel: Der Laden lässt sich billig mieten und passt perfekt für Menschen, die mit kleinem Budget Partys organisieren wollen. Der Besitzer ist anscheinend ziemlich offen und das ist extrem cool. An einem Abend hast du hier Salsa, am nächsten düstere Experimentalmusik und am Abend danach eine Schwulenparty, bei der alle verkleidet rumlaufen. Montreuil ist eine billige Gegend. Es ist sehr beliebt, sehr simpel und ziemlich dreckig. Die Besitzer versuchen den Laden nicht aufzumotzen oder so, aber innen drin ist er riesig.
Ferrandiz: [La Chinois] ist wichtig für die Pariser Szene, weil es nicht wie ein typischer Club funktioniert und eine bestimmte Offenheit benötigt. Dort kannst du lernen, dass es nicht unbedingt durchgehend 135 BPM Tracks braucht, um an einem Samstag Spaß zu haben. Du kannst dich auch von der Atmosphäre und den Emotionen führen lassen. Die Musik hier wird immer von anderen künstlerischen Elementen wie Performance, Projektionen und Szenografie ergänzt.
5. Rinse Radio France
Dexmier: Im Gegensatz zu allen anderen Orten, über die wir gesprochen haben, ist Rinse nicht einfach etwas, wo du hingehen und spielen kannst, was du willst. Zu Rinse wirst du eingeladen. Es ist eins der größten Elektro-Radios in Frankreich. Hier sind sich wahrscheinlich alle einig, dass sie die ersten sind, die eine neue Seite der Pariser Clubszene groß machen.
Ferrandiz: Es ist die Referenz für Clubmusik in Paris. Ich denke, die Betreiber von Rinse France stehen mehr auf House und Techno, also stehen die Rinse France-Hörer auch mehr auf House und Techno. Ich mag Bettys Sendung, weil sie sich für unsere Szene interessiert und coole Leute wie DJ Deeon einlädt. Sie war früher bei Girls Girls Girls. Aurore hat jetzt eine Residency bei Rinse und war vor Kurzem Teil dieser Woman’s Day Geschichte, bei der sie ein paar Lesungen und Livesets gemacht haben.
Dexmier: Rinse hat die Leute auf kleine Akteure in Paris aufmerksam gemacht, die ihr Ding machen. Für meine Sendung kann ich einladen, wen ich will. Beim Woman’s Day Programm habe ich TGAF repräsentiert. Es war wichtig, die ganzen Musikerinnen in Paris zu verbinden.