“Jede Frau, die die Wahrheit über ihr Leben ausspricht, ist eine Feministin.” Glaubt man dem Internet, soll dieses Zitat angeblich von Virginia Woolf stammen. Wenn man aber herauszufinden versucht, woher genau, muss man sich durch ein nicht enden wollendes Dickicht aus Retweets, Tumblr-Reblogs und Pinterest-Pins mit kursiven Schriftarten und Pastelltönen kämpfen. Ich selbst habe das Zitat zum ersten Mal in Form einer pinken Grafik gesehen, die von Sophia Amorusos Girlboss Foundation über Twitter geteilt wurde. Allerdings habe ich auch genug Sachtexte von Woolf gelesen, um der Zuordnung des Zitats widersprechen zu können. Zu dem Wort “Feministin” hat sie in Drei Guineen nämlich bekanntermaßen geschrieben:
Das Wort hat laut Wörterbuch folgende Bedeutung: “Eine Person, die für die Recht der Frauen eintritt”. Da das einzige Recht – das Recht, seinen Lebensunterhalt zu verdienen – gewonnen wurde, hat das Wort keine Bedeutung mehr. Und ein Wort ohne Bedeutung ist ein totes Wort, ein korruptes Wort.
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Im gleichen Essay empfiehlt sie übrigens auch, “Feminist” auf ein Blatt Papier zu schreiben, um es anschließend anzuzünden und “die Asche mit einer Schreibfeder in einem Mörser zu zerreiben”. Umso seltsamer also, dass ihr eine derart ungenaue Interpretation zugeschrieben wird, die im direkten Widerspruch zu den oben genannten Aussagen steht.
Gleichzeitig scheint nachvollziehbar, warum das Zitat 2017 so ansprechend wirkt. Immerhin stellt jedes Produkt und jede Lifestyle-Entscheidung eine Gelegenheit zum Personal Branding dar und die modernste Marke heißt momentan Feminismus. Vermutlich hat sich die Binsenweisheit nur irgendjemand ausgedacht und anschließend “Virginia Woolf” zugeschrieben, um dem Ganzen das Label eines “authentischen feministischen Zitats” zu verleihen.
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Die Vorstellung, dass “jede Frau, die die Wahrheit über ihr Leben ausspricht”, eine Feministin ist, ist eine verschwindend geringe Voraussetzung, um sich einer gesellschaftlichen Bewegung anzuschließen. Allerdings passt das Motto auch sehr gut zu der übertriebenen Selbstdarstellung unserer modernen Zeit, weil es nur voraussetzt, dass eine Feministin für sich selbst sprechen muss, um ihren Mitgliedsausweis zu bekommen. Neben Unternehmen wie Girlboss oder Konzernen wie Ellevest, die vor allem in Frauen investieren, haben auch viele Prominente inzwischen verstanden, wie leicht es ist, sich einen feministischen Anstrich zu verpassen und in den Bereich der sozialen Gerechtigkeit zu schlüpfen. Alles, was sie dafür tun müssen, ist schließlich nur über sich selbst zu sprechen.
Diese großzügige Betrachtungsweise von politischer Radikalität wird auch von Anne Helen Petersen in Too Fat, Too Slutty, Too Loud: The Rise and Reign of the Unruly Woman vertreten. Das Buch besteht aus zehn Essays über “unbequeme” Frauen in Film, Fernsehen, Musik, Sport und Politik und konzentriert sich dabei vor allem auf Frauenfiguren “die die Grenzen akzeptierter Weiblichkeit übertreten und letztendlich […] immer damit charakterisiert werden, dass sie zu viel von einem Merkmal haben, mit dem Frauen eigentlich unter Kontrolle gehalten werden sollten.”
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Was sie alle gemeinsam haben, ist, dass sie dennoch sehr erfolgreich sind. Serena Williams beispielsweise sei zu schwarz und zu stark, Melissa McCarthy zu dick, Lena Dunham zu nackt und Nicky Minaj zu nuttig. Obwohl also jede der Frauen in ihrem Bereich unbestreitbar große Erfolge zu verzeichnen hat, wirkt Petersens Versuch, das grenzüberschreitende Verhalten prominenter Frauen im Dienste der Subjektivität als Empowerment darzustellen, unglaubwürdig. Ihre Nachforschungen zeigen vielmehr, dass der kollektive Fortschritt durch den allgemeinen Geltungsanspruch an die feministische Bewegung, verloren oder zumindest verzögert und durch die rhetorisch ungenaue Umschreibung “unbequem” in Worte gefasst wurde.
Die Essays in Too Fat schließen auch die ausführliche und sorgfältig recherchierte Geschichte der Karrieren der Frauen und eine längere Beschreibungen der sozialen Normen mit ein, die die Frauen beugen, aber nicht brechen. Obwohl ihre Fallstudien grenzwertig eintönig sind – mit etymologischen Pannen wie “das Wort ‘Charisma’ kommt von” oder “das Wort ‘nackt’ kommt von” – , wird auch der medienwissenschaftliche Hintergrund der Autorin deutlich. Theoretische Konzepte wie Erniedrigung, Intersektionalität und Transnormativität versucht sie mit popkulturellen Beispielen möglichst einfach verständlich machen. Das gelingt nicht immer.
Dabei hebt sie bewusst hervor, dass die Frauen auf ganz unterschiedliche Art und Weise “unbequem” oder auch laut, unwirsch, sexuell, chaotisch oder “nasty” sein können. Sie argumentiert aber auch, dass dieselben Verhaltensweisen oder Eigenschaften “in einem Körper, der nicht weiß, heterosexuell, schlank, jung oder amerikanisch ist, riskanter sind”. Dieses Privileg, das Personen wie Caitlyn Jenner und Melissa McCarthy genießen, die zwar unbequem sein mögen, aber eben auch weiß, wird durch die beiden schwarzen Frauen in dem Buch unterstrichen: Serena Williams und Nicki Minaj. Petersen zitiert hierzu unter anderem eine von mehreren prägnanten Zeilen aus Claudia Rankines Porträt über Williams im New York Times Magazine, das 2015 erschienen ist: “Der entscheidende Unterschied zwischen dem Erfolg schwarzer Menschen und dem Erfolg weißer Menschen ist, dass weiße Menschen ihren Erfolg erreichen können, ohne gegen Rassismus kämpfen zu müssen.”
Ich kann mir niemanden vorstellen, der nicht davon profitiert, einen solchen Satz zweimal zu lesen.
Es sind Petersens Versuche, diese Geschichten mit den anderen Geschichten zu einer Vision von kollektiver Selbstbestimmung – hin zu etwas “Befriedigendem, Bereicherndem, Dehnbaren und radikal Inklusivem” – zu verbinden, die letztendlich nur verdeutlichen, dass sich das Paradigma “unbequem” nicht eignet, um eine gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen. Das liegt unter anderem auch daran, dass es alle Frauen miteinschließt, die sich an oberflächlichen Verhaltensweisen beteiligen oder stark und unvereinbar von ihnen profitieren.
Es ist beliebter denn je, “unbequem” zu sein.
Petersen sieht einen Anstieg von unbequemen feministischen Bewegungen in der Wahlniederlage von Hillary Clinton – ihr zentrales Beispiel für eine unbequeme Frau. Dass die Wahlergebnisse am 9. November nicht, wie eigentlich erwartet, “einen Sieg der unbequemen Frauen in der ganzen Welt” dargestellt haben, war “der Beginn einer Gegenbewegung, die sich über Jahre zusammengebraut hat, weil unbequeme Frauen in ganz unterschiedlicher Manier die kulturelle Landschaft übernommen haben.”
Dass die politischen Situation in den USA als “Gegenbewegung” und nicht als “Versagen” bezeichnet wird, impliziert auch, dass die Dachmarke “unbequem” funktioniert und die Frauen befreit hat, bevor sie es nicht getan hat. Zu dieser Schlussfolgerung kommt allerdings nicht nur Petersen: Eine ganze Reihe von Vergleichsstudien von feministischen Journalistinnen, die sich in den vergangenen Jahren mit der Rubrik “unbequem” beschäftigt haben, stützen diese Behauptung. Darunter auch Sady Doyle mit ihrem Buch Trainwreck: The Women We Love to Hate, Mock, and Fear…and Why und Rebecca Traister mit All the Single Ladies: Unmarried Women and the Rise of an Independent Nation. Wie Petersen selbst zugeben muss, “gibt es unbequeme Frauen schon genauso lange wie die Grenzen, die ihnen vorschreiben sollten, wie sie sich zu verhalten haben”. Also seit mindestens zwei Jahrtausenden.
Dennoch ist es beliebter denn je, “unbequem” zu sein, womit zugleich die politischen Errungenschaften der radikalsten Zeiten der Geschichte zurückgedreht werden: der Kampf um das Wahlrecht, die reproduktiven Rechte und die Gesundheitsfürsorge von Frauen. Die Welt von Petersens prominenten Sujets, in der Frauen “Königinnen” sind und über ihren Körper, ihre Sicherheit und ihre Zukunft herrschen, erinnert uns “immer wieder an die Kluft zwischen dem, was wir denken zu glauben und wie wir uns verhalten”, um es in den Worten der Autorin zu sagen.
Ihre übereifrige Analyse, mit der sie das Verhalten der prominenten Frauen auseinander nimmt, dehnt die Verwendung von Begriffen wie radikal, subversiv und aktivistisch allerdings so weit aus, dass sie alles und nichts mehr bedeuten. Beispielsweise hat Kim Kardashian mehrmals erklärt, dass sie keine Feministin ist. (Also sollte wir vermutlich besser auf sie hören – oder macht sie ihre Ehrlichkeit schon wieder zu einer Feministin?) Dennoch bezeichnet die Autorin Kardashians Entscheidung, ihre schwierige Schwangerschaft – so wie jeden anderen Aspekt ihres Lebens – im Fernsehen zu zeigen und damit zu Geld zu verdienen, als “einen Akt, die Bürden, die mit Weiblichkeit einhergehen, sichtbar zu machten.”
Für Petersen bleibt “eine Frau, die zufällig zur Aktivistin wird” eine Aktivistin. Aber ist sie das wirklich? Hat sich Kim Kardashian öffentlich für den bezahlten Mutterschutz oder eine bessere pränatale Gesundheitsversorgung eingesetzt? Werden ihre Zuschauer durch die Darstellung ihrer Schwangerschaft im Fernsehen zufällig aufgerüttelt? Wie lassen sich diese Zeichen von Unbequemlichkeit in den Medien auf eine bessere Lebensqualität übertragen, von der auch die “unbequemen Frauen [profitieren], die uns in unserem täglichen Leben begegnen”? Und wer genau sind diese Frauen überhaupt?
Das ist vermutlich die entscheidendste Frage, die das Buch stellt: “Die prominenten Frauen mögen zwar berühmt sein, aber trägt ihre Berühmtheit auch zu einer grundlegenden Veränderung in den ‘akzeptablen’ Verhaltensweisen und im Hinblick auf den Körper und das Wesen von Frauen bei?” Die Autorin sagt, dass die Antwort unklar ist. Mein Schluss wäre hingegen ein schallendes und lautes Nein.
Das wird ganz besonders deutlich, wenn man das Label “unbequem” auf Hillary Clinton anwendet. Wenn überhaupt, dann verdeutlicht Petersens Darstellung von Clintons Karriere, dass sie ein Leben voller taktischer Kompromisse geführt hat: dass sie ihren Mädchennamen aufgegeben hat, nachdem Umfragen gezeigt haben, dass sie damit Bill Clintons Erfolgschancen schmälert, dass sie durch die glanzvollen Darstellungen als First Lady glatt gebügelt wurde und dass sich ihre Politik verhärtet hat, als sie sich selbst zur Wahl aufstellen ließ. Petersen bezeichnet diese Tragödie als “Lernen zu regieren – ein Prozess, der Clinton langsam zu einer gemäßigteren Politik gebracht hat.” Dennoch bleibt Clinton ihrer Ansicht nach unbequem, was ganz einfach daran liegt, dass sie “dasselbe Format, dieselbe Macht und dieselbe Aufmerksamkeit fordert wie ein Mann”. Und mit einem Mal ist klar, was die bezeichnende Eigenschaft einer “unbequemen” Frau ist.
Wir haben aus den Augen verloren, wie verwundbar viele Frauen sind und was es wirklich heißt, “unbequem” zu sein.
Wenn der Höhepunkt der Unbequemlichkeit schlussendlich nur bedeutet, dass “Macht, Status und Aufmerksamkeit” gestärkt werden, kann das Ganze – aus logischer, philosophischer und syntaktischer Sicht – keine Weltanschauung sein, durch die wir wahre Gleichberechtigung erreichen. Die Frauen in Too Fat, Too Slutty, Too Loud sind zu viel von etwas, ja, aber es mangelt ihnen auch an etwas, was sie vielleicht mal hatten. Allerdings gibt es eine unbestreitbare Tatsache, die von Petersens Buch, wie von vielen Büchern desselben Genres, ignoriert wird: dass die ethnische, geschlechtliche und sexuelle Identität sowie unser Alter und unsere Kleidergröße eng mit dem Kapitalismus verstrickt sind, den wir mit unserer Zukunft Amok laufen lassen. Obwohl auch Petersen darauf hinweist, rechnet ihr Buch nicht damit ab, dass vor allem weiße Frauen in diesen Prozess verstrickt sind und den Feminismus dominieren, je weiter die Bewegung im Mainstream ankommt. Wie sonst könnte die Umschreibung “unbequem” ihrer Meinung nach auch Personen wie US-Journalistin Megan Kelly und Marie Antoinette mit einschließen?
Wenn Aktivismus auch nebenbei stattfinden kann und Unbequemlichkeit das gesamte Spektrum umfasst – von der Ablehnung rassistischer Kommentare bei einem Tennis-Match bis hin zum Beitritt einer privaten Facebook-Gruppe –, dann haben wir aus den Augen verloren, wie verwundbar viele Frauen sind und was es wirklich heißt, “unbequem” zu sein.
Ich kenne den Reiz, Politik und Konsum miteinander zu verbinden, weil ich mich als Konsument selbst daran beteilige. Schwieriger ist es, sich zu überlegen, was wir vielleicht aufgeben oder zumindest weniger lieben sollten, um die Situation für alle Frauen zu verbessern. “Amerika fühlt sich nicht sicher für uns an”, schreibt Petersen. “Unbequem zu sein – in verschiedenen Erscheinungsformen, klein und groß, im Aktivismus, in der Repräsentation, in der Sprache – scheint wichtiger denn je.” Dieser Gedanke sowie die vielen Diskussionen unter Mainstream-Feministen, die dasselbe Gefühl teilen, wirkt wie der plumpe Versuch, sich an eine beschränkte Denkweise über Frauen und Fortschritt zu klammern. Wahrscheinlicher scheint hingegen, dass die Veränderung daher kommen wird, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf verschiedene Bereiche lenken und nicht nur die immergleichen Felder beackern.
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Virginia Woolf hat den Begriff “Feminist” aus mehreren Gründen abgelehnt, von denen einige sicherlich auch eigennützig waren. Doch in Drei Guineen weist auch sie auf eine Form der Gleichberechtigung hin, die nach traditionell maskulinen Maßstäben definiert wird: “das Recht, seinen Lebensunterhalt zu verdienen”. Sie argumentiert damit auch, dass wir diesen Begriff hinter uns lassen müssten. Zu den Männern in England sagt sie: “Es scheint sowohl rational falsch als auch emotional unmöglich für uns zu sein, euer Formblatt auszufüllen und uns eurer Gesellschaft anzuschließen. Und wenn, dann verschmilzt unsere Identität mit eurer. Wir folgen und wiederholen und bewegen uns in denselben alten, abgenutzten Furchen, in denen unsere Gesellschaft mit nicht tolerierbarer Einigkeit immer weiter schürft, wie die Nadel eines alten Grammofons.”
Würde man diesen letzten Satz auf die heutige Zeit übertragen, müsste es vermutlich heißen: “… wie ein Iphone, dessen Home-Taste stecken geblieben ist und sich ewig gleichförmig durch den Feed scrollt.”